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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]
Fle

Der Fleiß, den man in solchen Fällen auf Re-
bensachen wenden wollte, wäre auch sehr schädlich.
Er würde unsre Aufmerksamkeit dem Ganzen ent-
ziehen. Wer einen Helden vorstellen wollte, dessen
Größe in den Gesichtszügen und der Stellung müßte
bemerkt werden, würde seinem Werk schaden, wenn
er das Gewand, oder die Waffen, so fleißig bear-
beiten wollte, daß sie das Auge nothwendig auf
sich zögen. Es ist demnach eine große Klugheit,
den Nebensachen den Fleiß zu entziehen. Dies ist die
(*) Quae-
dam etiam
negligen-
tia est di-
ligens. Cic.
in Orat.
docta negligentia vieler Alten. (*) Wer in einer
Rede, darin von einer sehr wichtigen Angelegen-
heit gehandelt wird, eine solche Zierlichkeit, einen
solchen Klang und solche Feinigkeit der Ausdrüke
brauchen wollte, daß die Aufmerksamkeit des Zu-
hörers auf diese Sache gelenkt würde, der müßte
seinen Zwek nothwendig verfehlen.

Wir können also überhaupt diese Regel festsetzen,
daß der Fleiß überall schädlich sey, wo er die Auf-
merksamkeit von der Hauptsache abzieht, es sey,
daß sie auf Nebensachen, oder gar von dem Werke
auf den Künstler und dessen Bearbeitung, gegen
die Absicht gelenket werden.

Wenn ein Redner sich über eine Anklage recht-
fertigen und beweisen wollte, daß er ein redlicher
Mann sey, so würde er seines Zweks verfehlen,
wenn seine ganze Rede so künstlich und so fleis-
sig wäre, daß der Zuhörer nur darauf Achtung gäbe.
Auch da ist der Fleiß schädlich, wenn er in Troken-
heit
und Mühesamkeit ausartet; denn beyde sind der
Leichtigkeit und Freyheit entgegen. Jn allen klei-
nen, artigen, und in blos ergötzenden Gegenständen
ist der Fleiß gut, wenn er nur mit hinlänglicher
Freyheit und Würkung des Ganzen verbunden wird,
wie in den Werken eines G. Dow. und Fr. Mieris.

Fleischfarb.
(Mahlerey.)

Die Farbe des Nakenden am menschlichen Körper.
Die natürliche Nachahmung dieser Farb in den Ge-
mählden ist einer der wichtigsten Theile der Farben-
gebung, nicht nur, weil der Mensch der vornehm-
ste und schönste Gegenstand der Mahlerey ist, son-
dern auch wegen der großen Schwierigkeit, die man
dabey antrift. Die Farben aller andern Körper ge-
hören ganz zu ihrem äussern und zufälligen; es
[Spaltenumbruch]

Fle
scheinet aber, daß die Natur, wie die Form des Kör-
pers, also auch seine Farbe mit dem Geist gleich-
sam verwebt habe. Schon die Farb allein drükt
das Leben aus; folglich auch die verschiedenen Stu-
fen und Kräfte des Lebens, mithin auch einen Theil
des Charakters der Menschen. Der Bildhauer kann
nie die ganze Seele sichtbar machen. Dieses be-
weißt die höchste Wichtigkeit dieses Theils der Kunst;
die ungemeine Schwierigkeit aber lernt man begrei-
fen, wenn man versucht, so wol die Hauptfarben,
als die unnennbaren Mittelfarben, mit welchen
die Natur den menschlichen Körper bemahlt, an-
zugeben und zu nennen. Was für ein feines Ge-
sicht muß der Mensch haben, der nur etwas da-
von erkennen will. Was für scharfsinnige Beob-
achtungen mußte nicht Titian gemacht haben, ehe
er auf die Grundsätze gekommen, die Mengs in
seinen Fleischfarben entdekt hat. "Ein Fleisch, das
viel Mittelteints hatte, machte er überhaupt im
Mittelteint, dasjenige, so deren wenig hatte, machte
er fast ohne Mittelteinten. So das Röthliche fast
ohne andre Teints (dieses versteht sich allezeit nebst
der Nachahmung der Wahrheit) und gleicher Weise
in jeder übrigen Farbe." [Spaltenumbruch] (+)

Es ist also kein Theil der Farbengebung wichtiger
und keiner schweerer, als dieser; denn wenn man
alle andern vollkommen besäße, so müßte man die-
sen noch ganz besonders studiren, und zu dem End
ein unabläßiges und scharfes Studium der Natur,
mit tausend nachahmenden Versuchen verbinden.
Man hat in jedem andern Theil der Kunst eine grös-
sere Anzahl vollkommener Meister gehabt, als in
dieser, wo man ausser Titian und van Dyk wenige
zu nennen hätte.

Die Farben des Fleisches sind nicht nur von allen
Farben die, die man am wenigsten bestimmen kann,
sondern auch die, deren frisches und liebliches Wesen
am zartesten ist. Folglich muß ihre Behandlung
höchst leicht und frey seyn. Wer durch vieles Mi-
schen, durch viel Verreiben, durch mancherley Wen-
dung des Pinsels, sie zu erhalten sucht, findet sie
gewiß nicht. Wer am Nakenden mahlt, und noch
ungewiß ist, wie er es erreichen soll, wird es nicht
erreichen. Durch eine genaue Beobachtung der
Natur und ein scharfes Nachdenken, muß man sich
Regeln machen, ihnen mit Sicherheit folgen, und

so
(+) Mengs Gedanken über die Schönheit und den Ge-
[Spaltenumbruch] schmak in der Mahlerey, S. 59.
[Spaltenumbruch]
Fle

Der Fleiß, den man in ſolchen Faͤllen auf Re-
benſachen wenden wollte, waͤre auch ſehr ſchaͤdlich.
Er wuͤrde unſre Aufmerkſamkeit dem Ganzen ent-
ziehen. Wer einen Helden vorſtellen wollte, deſſen
Groͤße in den Geſichtszuͤgen und der Stellung muͤßte
bemerkt werden, wuͤrde ſeinem Werk ſchaden, wenn
er das Gewand, oder die Waffen, ſo fleißig bear-
beiten wollte, daß ſie das Auge nothwendig auf
ſich zoͤgen. Es iſt demnach eine große Klugheit,
den Nebenſachen den Fleiß zu entziehen. Dies iſt die
(*) Quæ-
dam etiam
negligen-
tia eſt di-
ligens. Cic.
in Orat.
docta negligentia vieler Alten. (*) Wer in einer
Rede, darin von einer ſehr wichtigen Angelegen-
heit gehandelt wird, eine ſolche Zierlichkeit, einen
ſolchen Klang und ſolche Feinigkeit der Ausdruͤke
brauchen wollte, daß die Aufmerkſamkeit des Zu-
hoͤrers auf dieſe Sache gelenkt wuͤrde, der muͤßte
ſeinen Zwek nothwendig verfehlen.

Wir koͤnnen alſo uͤberhaupt dieſe Regel feſtſetzen,
daß der Fleiß uͤberall ſchaͤdlich ſey, wo er die Auf-
merkſamkeit von der Hauptſache abzieht, es ſey,
daß ſie auf Nebenſachen, oder gar von dem Werke
auf den Kuͤnſtler und deſſen Bearbeitung, gegen
die Abſicht gelenket werden.

Wenn ein Redner ſich uͤber eine Anklage recht-
fertigen und beweiſen wollte, daß er ein redlicher
Mann ſey, ſo wuͤrde er ſeines Zweks verfehlen,
wenn ſeine ganze Rede ſo kuͤnſtlich und ſo fleiſ-
ſig waͤre, daß der Zuhoͤrer nur darauf Achtung gaͤbe.
Auch da iſt der Fleiß ſchaͤdlich, wenn er in Troken-
heit
und Muͤheſamkeit ausartet; denn beyde ſind der
Leichtigkeit und Freyheit entgegen. Jn allen klei-
nen, artigen, und in blos ergoͤtzenden Gegenſtaͤnden
iſt der Fleiß gut, wenn er nur mit hinlaͤnglicher
Freyheit und Wuͤrkung des Ganzen verbunden wird,
wie in den Werken eines G. Dow. und Fr. Mieris.

Fleiſchfarb.
(Mahlerey.)

Die Farbe des Nakenden am menſchlichen Koͤrper.
Die natuͤrliche Nachahmung dieſer Farb in den Ge-
maͤhlden iſt einer der wichtigſten Theile der Farben-
gebung, nicht nur, weil der Menſch der vornehm-
ſte und ſchoͤnſte Gegenſtand der Mahlerey iſt, ſon-
dern auch wegen der großen Schwierigkeit, die man
dabey antrift. Die Farben aller andern Koͤrper ge-
hoͤren ganz zu ihrem aͤuſſern und zufaͤlligen; es
[Spaltenumbruch]

Fle
ſcheinet aber, daß die Natur, wie die Form des Koͤr-
pers, alſo auch ſeine Farbe mit dem Geiſt gleich-
ſam verwebt habe. Schon die Farb allein druͤkt
das Leben aus; folglich auch die verſchiedenen Stu-
fen und Kraͤfte des Lebens, mithin auch einen Theil
des Charakters der Menſchen. Der Bildhauer kann
nie die ganze Seele ſichtbar machen. Dieſes be-
weißt die hoͤchſte Wichtigkeit dieſes Theils der Kunſt;
die ungemeine Schwierigkeit aber lernt man begrei-
fen, wenn man verſucht, ſo wol die Hauptfarben,
als die unnennbaren Mittelfarben, mit welchen
die Natur den menſchlichen Koͤrper bemahlt, an-
zugeben und zu nennen. Was fuͤr ein feines Ge-
ſicht muß der Menſch haben, der nur etwas da-
von erkennen will. Was fuͤr ſcharfſinnige Beob-
achtungen mußte nicht Titian gemacht haben, ehe
er auf die Grundſaͤtze gekommen, die Mengs in
ſeinen Fleiſchfarben entdekt hat. „Ein Fleiſch, das
viel Mittelteints hatte, machte er uͤberhaupt im
Mittelteint, dasjenige, ſo deren wenig hatte, machte
er faſt ohne Mittelteinten. So das Roͤthliche faſt
ohne andre Teints (dieſes verſteht ſich allezeit nebſt
der Nachahmung der Wahrheit) und gleicher Weiſe
in jeder uͤbrigen Farbe.‟ [Spaltenumbruch] (†)

Es iſt alſo kein Theil der Farbengebung wichtiger
und keiner ſchweerer, als dieſer; denn wenn man
alle andern vollkommen beſaͤße, ſo muͤßte man die-
ſen noch ganz beſonders ſtudiren, und zu dem End
ein unablaͤßiges und ſcharfes Studium der Natur,
mit tauſend nachahmenden Verſuchen verbinden.
Man hat in jedem andern Theil der Kunſt eine groͤſ-
ſere Anzahl vollkommener Meiſter gehabt, als in
dieſer, wo man auſſer Titian und van Dyk wenige
zu nennen haͤtte.

Die Farben des Fleiſches ſind nicht nur von allen
Farben die, die man am wenigſten beſtimmen kann,
ſondern auch die, deren friſches und liebliches Weſen
am zarteſten iſt. Folglich muß ihre Behandlung
hoͤchſt leicht und frey ſeyn. Wer durch vieles Mi-
ſchen, durch viel Verreiben, durch mancherley Wen-
dung des Pinſels, ſie zu erhalten ſucht, findet ſie
gewiß nicht. Wer am Nakenden mahlt, und noch
ungewiß iſt, wie er es erreichen ſoll, wird es nicht
erreichen. Durch eine genaue Beobachtung der
Natur und ein ſcharfes Nachdenken, muß man ſich
Regeln machen, ihnen mit Sicherheit folgen, und

ſo
(†) Mengs Gedanken uͤber die Schoͤnheit und den Ge-
[Spaltenumbruch] ſchmak in der Mahlerey, S. 59.
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[391/0403] Fle Fle Der Fleiß, den man in ſolchen Faͤllen auf Re- benſachen wenden wollte, waͤre auch ſehr ſchaͤdlich. Er wuͤrde unſre Aufmerkſamkeit dem Ganzen ent- ziehen. Wer einen Helden vorſtellen wollte, deſſen Groͤße in den Geſichtszuͤgen und der Stellung muͤßte bemerkt werden, wuͤrde ſeinem Werk ſchaden, wenn er das Gewand, oder die Waffen, ſo fleißig bear- beiten wollte, daß ſie das Auge nothwendig auf ſich zoͤgen. Es iſt demnach eine große Klugheit, den Nebenſachen den Fleiß zu entziehen. Dies iſt die docta negligentia vieler Alten. (*) Wer in einer Rede, darin von einer ſehr wichtigen Angelegen- heit gehandelt wird, eine ſolche Zierlichkeit, einen ſolchen Klang und ſolche Feinigkeit der Ausdruͤke brauchen wollte, daß die Aufmerkſamkeit des Zu- hoͤrers auf dieſe Sache gelenkt wuͤrde, der muͤßte ſeinen Zwek nothwendig verfehlen. (*) Quæ- dam etiam negligen- tia eſt di- ligens. Cic. in Orat. Wir koͤnnen alſo uͤberhaupt dieſe Regel feſtſetzen, daß der Fleiß uͤberall ſchaͤdlich ſey, wo er die Auf- merkſamkeit von der Hauptſache abzieht, es ſey, daß ſie auf Nebenſachen, oder gar von dem Werke auf den Kuͤnſtler und deſſen Bearbeitung, gegen die Abſicht gelenket werden. Wenn ein Redner ſich uͤber eine Anklage recht- fertigen und beweiſen wollte, daß er ein redlicher Mann ſey, ſo wuͤrde er ſeines Zweks verfehlen, wenn ſeine ganze Rede ſo kuͤnſtlich und ſo fleiſ- ſig waͤre, daß der Zuhoͤrer nur darauf Achtung gaͤbe. Auch da iſt der Fleiß ſchaͤdlich, wenn er in Troken- heit und Muͤheſamkeit ausartet; denn beyde ſind der Leichtigkeit und Freyheit entgegen. Jn allen klei- nen, artigen, und in blos ergoͤtzenden Gegenſtaͤnden iſt der Fleiß gut, wenn er nur mit hinlaͤnglicher Freyheit und Wuͤrkung des Ganzen verbunden wird, wie in den Werken eines G. Dow. und Fr. Mieris. Fleiſchfarb. (Mahlerey.) Die Farbe des Nakenden am menſchlichen Koͤrper. Die natuͤrliche Nachahmung dieſer Farb in den Ge- maͤhlden iſt einer der wichtigſten Theile der Farben- gebung, nicht nur, weil der Menſch der vornehm- ſte und ſchoͤnſte Gegenſtand der Mahlerey iſt, ſon- dern auch wegen der großen Schwierigkeit, die man dabey antrift. Die Farben aller andern Koͤrper ge- hoͤren ganz zu ihrem aͤuſſern und zufaͤlligen; es ſcheinet aber, daß die Natur, wie die Form des Koͤr- pers, alſo auch ſeine Farbe mit dem Geiſt gleich- ſam verwebt habe. Schon die Farb allein druͤkt das Leben aus; folglich auch die verſchiedenen Stu- fen und Kraͤfte des Lebens, mithin auch einen Theil des Charakters der Menſchen. Der Bildhauer kann nie die ganze Seele ſichtbar machen. Dieſes be- weißt die hoͤchſte Wichtigkeit dieſes Theils der Kunſt; die ungemeine Schwierigkeit aber lernt man begrei- fen, wenn man verſucht, ſo wol die Hauptfarben, als die unnennbaren Mittelfarben, mit welchen die Natur den menſchlichen Koͤrper bemahlt, an- zugeben und zu nennen. Was fuͤr ein feines Ge- ſicht muß der Menſch haben, der nur etwas da- von erkennen will. Was fuͤr ſcharfſinnige Beob- achtungen mußte nicht Titian gemacht haben, ehe er auf die Grundſaͤtze gekommen, die Mengs in ſeinen Fleiſchfarben entdekt hat. „Ein Fleiſch, das viel Mittelteints hatte, machte er uͤberhaupt im Mittelteint, dasjenige, ſo deren wenig hatte, machte er faſt ohne Mittelteinten. So das Roͤthliche faſt ohne andre Teints (dieſes verſteht ſich allezeit nebſt der Nachahmung der Wahrheit) und gleicher Weiſe in jeder uͤbrigen Farbe.‟ (†) Es iſt alſo kein Theil der Farbengebung wichtiger und keiner ſchweerer, als dieſer; denn wenn man alle andern vollkommen beſaͤße, ſo muͤßte man die- ſen noch ganz beſonders ſtudiren, und zu dem End ein unablaͤßiges und ſcharfes Studium der Natur, mit tauſend nachahmenden Verſuchen verbinden. Man hat in jedem andern Theil der Kunſt eine groͤſ- ſere Anzahl vollkommener Meiſter gehabt, als in dieſer, wo man auſſer Titian und van Dyk wenige zu nennen haͤtte. Die Farben des Fleiſches ſind nicht nur von allen Farben die, die man am wenigſten beſtimmen kann, ſondern auch die, deren friſches und liebliches Weſen am zarteſten iſt. Folglich muß ihre Behandlung hoͤchſt leicht und frey ſeyn. Wer durch vieles Mi- ſchen, durch viel Verreiben, durch mancherley Wen- dung des Pinſels, ſie zu erhalten ſucht, findet ſie gewiß nicht. Wer am Nakenden mahlt, und noch ungewiß iſt, wie er es erreichen ſoll, wird es nicht erreichen. Durch eine genaue Beobachtung der Natur und ein ſcharfes Nachdenken, muß man ſich Regeln machen, ihnen mit Sicherheit folgen, und ſo (†) Mengs Gedanken uͤber die Schoͤnheit und den Ge- ſchmak in der Mahlerey, S. 59.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/403>, abgerufen am 22.11.2024.