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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Fig
dieses Gefäß ist von einer schönen Form, als von
einer schönen Figur. Wenigstens versteht man in
den zeichnenden Künsten durch Figur insgemein die
Vorstellung der menschlichen Gestalt. Von einer
Landschaft sagt man, die Figuren derselben seyen
schön, die Landschaft sey mit oder ohne Figuren,
und versteht dieses von den Zeichnungen menschlicher
Gestalten.

Dadurch zeiget man an, daß die menschliche Bil-
dung die schönste Form ist, der die Benennung der
Figur vorzüglich zukömmt. Jn der That ist sie
unter allen Formen, die wir kennen, das Schönste;
ihr Reitz kann uns bis zum Entzüken rühren. Sie
ist also das Höchste, was die bildenden Künste uns
darstellen können; daher muß ein Künstler sich vor-
züglich in Zeichnung und Bildung der Figuren üben,
weil er ohne dieses seinem Werke den höchsten Reitz
niemals geben kann. Selbst den Werken, darin
die Figuren nicht schlechterdings nothwendig sind,
als den Landschaften und perspektivischen Vorstel-
lungen schöner Gebäude, geben erst die Figuren das
rechte Leben.

Das Schöne der menschlichen Bildung wird aber
vornehmlich im Nakenden erkennt. Daher müssen
die Figuren, so weit es die Schiklichkeit, Anstän-
digkeit, oder der Wolstand erlauben, ganz oder
zum Theil nakend, oder doch so bekleidet seyn, daß
der größte Theil des Reitzes noch übrig bleibe, und
durch das Gewand entdekt werden könne. Was ein
Künstler zu Erlangung einer Geschiklichkeit in Zeich-
nung der Figuren zu beobachten habe, haben wir
im Art. Zeichnen angeführt. Von der Schönheit
der menschlichen Gestalt aber ist im Art. Schönheit
gesprochen worden.

Bey Beurtheilung einer Figur muß man sich
selbst folgende Fragen machen. Hat die ganze Ge-
stalt dieser Figur das Ansehen einer vollkommen
schönen Person, nach Beschaffenheit ihres Alters
und Geschlechts? Zeiget sie in dem Gesicht einen
Geist mit Nachdenken, oder eine Seele mit Empfin-
dungen? Sieht man in ihrer Stellung eine beson-
dere Bestimmung zu einer gewissen Verrichtung?
Sind die Bewegungen und Gebährden natürlich,
und zu einem gewissen Zwek einstimmend? Wenn
[Spaltenumbruch]

Fig
diese Sachen sich in der Figur nicht deutlich zeigen,
so ist sie nicht schön gezeichnet. Das Urtheil aber
über alle diese Theile, die zur Schönheit einer Figur
gehören, hängt von einer genauen Kenntnis der
Schönheit der natürlichen und sittlichen Bewegungen
des Menschen ab. Man muß nicht nur die Phi-
sionomien, die Gebehrden, Bewegungen, Stel-
lungen und alle natürlichen Formen der Men-
schen genau beobachtet, sondern auch viel schöne
Personen, von allerley Stand, Alter und Cha-
rakter oft betrachtet haben, um ein solches Urtheil
fällen zu können. Eine fleißige Betrachtung des
Antiken, der besten griechischen Bilder, schärft das
Auge zur Beurtheilung der Figuren.

Figur.
(Redende Künste.)
[Spaltenumbruch]

Eine sich besonders auszeichnende, eine eigene Form
annehmende, Art sich auszudrüken, der Ausdruk be-
stehe in einem einzigen Wort, oder einer ganzen
Redensart. Jeder Ausdruk, der wegen seiner gu-
ten Art verdient, mit einem besondern Namen ge-
nennt zu werden, ist eine Figur, das ist, eine
eigene Gestalt der Rede. Nachdem man einmal
angefangen hatte, über die Sprache der Redner
und Dichter nachzudenken, um den Ursprung der
verschiedenen Annehmlichkeiten des Nachdruks und
der Hoheit derselben zu entdeken, hat man bald an-
gemerkt, daß gewisse Formen oder besondere Be-
schaffenheiten des Ausdruks, eine besondere Wür-
kung haben. Damit man nun die verschiedenen
Arten der Formen von einander unterscheidete, so
mußte man die vornehmsten mit besondern Namen
bezeichnen, die eine eine Ausrufung, die andre eine
Wiederholung, die dritte anders nennen. Dies
ist der Ursprung der Lehre von den Figuren, wor-
über die Lehrer der Sprache und der Beredsamkeit
so viel geschrieben haben [Spaltenumbruch] (+).

Wenn wir das Wort Figur in seiner allgemeine-
sten Bedeutung für die besondere Form einer Sache
nehmen, so giebt es überhaupt drey Gattungen von
Figuren; nämlich Figuren der Sachen, die wir
uns vorstellen, Figuren der Ordnung, Figuren
des Ausdruks.
Ziehen wir aber blos die Vorstel-

lungen
(+) Illud genus orationis, in quo per quamdam suspicio-
nem, quod non dicimus, accipi volumus; non utique contra-
rium, ut in Ironia, sed aliud latens, et auditori quasi in-
[Spaltenumbruch] veniendum. Quint. IX.
2. 65. Diese Erklärung geht mehr
auf die Tropen insbesondre, als auf die Figuren über-
haupt.

[Spaltenumbruch]

Fig
dieſes Gefaͤß iſt von einer ſchoͤnen Form, als von
einer ſchoͤnen Figur. Wenigſtens verſteht man in
den zeichnenden Kuͤnſten durch Figur insgemein die
Vorſtellung der menſchlichen Geſtalt. Von einer
Landſchaft ſagt man, die Figuren derſelben ſeyen
ſchoͤn, die Landſchaft ſey mit oder ohne Figuren,
und verſteht dieſes von den Zeichnungen menſchlicher
Geſtalten.

Dadurch zeiget man an, daß die menſchliche Bil-
dung die ſchoͤnſte Form iſt, der die Benennung der
Figur vorzuͤglich zukoͤmmt. Jn der That iſt ſie
unter allen Formen, die wir kennen, das Schoͤnſte;
ihr Reitz kann uns bis zum Entzuͤken ruͤhren. Sie
iſt alſo das Hoͤchſte, was die bildenden Kuͤnſte uns
darſtellen koͤnnen; daher muß ein Kuͤnſtler ſich vor-
zuͤglich in Zeichnung und Bildung der Figuren uͤben,
weil er ohne dieſes ſeinem Werke den hoͤchſten Reitz
niemals geben kann. Selbſt den Werken, darin
die Figuren nicht ſchlechterdings nothwendig ſind,
als den Landſchaften und perſpektiviſchen Vorſtel-
lungen ſchoͤner Gebaͤude, geben erſt die Figuren das
rechte Leben.

Das Schoͤne der menſchlichen Bildung wird aber
vornehmlich im Nakenden erkennt. Daher muͤſſen
die Figuren, ſo weit es die Schiklichkeit, Anſtaͤn-
digkeit, oder der Wolſtand erlauben, ganz oder
zum Theil nakend, oder doch ſo bekleidet ſeyn, daß
der groͤßte Theil des Reitzes noch uͤbrig bleibe, und
durch das Gewand entdekt werden koͤnne. Was ein
Kuͤnſtler zu Erlangung einer Geſchiklichkeit in Zeich-
nung der Figuren zu beobachten habe, haben wir
im Art. Zeichnen angefuͤhrt. Von der Schoͤnheit
der menſchlichen Geſtalt aber iſt im Art. Schoͤnheit
geſprochen worden.

Bey Beurtheilung einer Figur muß man ſich
ſelbſt folgende Fragen machen. Hat die ganze Ge-
ſtalt dieſer Figur das Anſehen einer vollkommen
ſchoͤnen Perſon, nach Beſchaffenheit ihres Alters
und Geſchlechts? Zeiget ſie in dem Geſicht einen
Geiſt mit Nachdenken, oder eine Seele mit Empfin-
dungen? Sieht man in ihrer Stellung eine beſon-
dere Beſtimmung zu einer gewiſſen Verrichtung?
Sind die Bewegungen und Gebaͤhrden natuͤrlich,
und zu einem gewiſſen Zwek einſtimmend? Wenn
[Spaltenumbruch]

Fig
dieſe Sachen ſich in der Figur nicht deutlich zeigen,
ſo iſt ſie nicht ſchoͤn gezeichnet. Das Urtheil aber
uͤber alle dieſe Theile, die zur Schoͤnheit einer Figur
gehoͤren, haͤngt von einer genauen Kenntnis der
Schoͤnheit der natuͤrlichen und ſittlichen Bewegungen
des Menſchen ab. Man muß nicht nur die Phi-
ſionomien, die Gebehrden, Bewegungen, Stel-
lungen und alle natuͤrlichen Formen der Men-
ſchen genau beobachtet, ſondern auch viel ſchoͤne
Perſonen, von allerley Stand, Alter und Cha-
rakter oft betrachtet haben, um ein ſolches Urtheil
faͤllen zu koͤnnen. Eine fleißige Betrachtung des
Antiken, der beſten griechiſchen Bilder, ſchaͤrft das
Auge zur Beurtheilung der Figuren.

Figur.
(Redende Kuͤnſte.)
[Spaltenumbruch]

Eine ſich beſonders auszeichnende, eine eigene Form
annehmende, Art ſich auszudruͤken, der Ausdruk be-
ſtehe in einem einzigen Wort, oder einer ganzen
Redensart. Jeder Ausdruk, der wegen ſeiner gu-
ten Art verdient, mit einem beſondern Namen ge-
nennt zu werden, iſt eine Figur, das iſt, eine
eigene Geſtalt der Rede. Nachdem man einmal
angefangen hatte, uͤber die Sprache der Redner
und Dichter nachzudenken, um den Urſprung der
verſchiedenen Annehmlichkeiten des Nachdruks und
der Hoheit derſelben zu entdeken, hat man bald an-
gemerkt, daß gewiſſe Formen oder beſondere Be-
ſchaffenheiten des Ausdruks, eine beſondere Wuͤr-
kung haben. Damit man nun die verſchiedenen
Arten der Formen von einander unterſcheidete, ſo
mußte man die vornehmſten mit beſondern Namen
bezeichnen, die eine eine Ausrufung, die andre eine
Wiederholung, die dritte anders nennen. Dies
iſt der Urſprung der Lehre von den Figuren, wor-
uͤber die Lehrer der Sprache und der Beredſamkeit
ſo viel geſchrieben haben [Spaltenumbruch] (†).

Wenn wir das Wort Figur in ſeiner allgemeine-
ſten Bedeutung fuͤr die beſondere Form einer Sache
nehmen, ſo giebt es uͤberhaupt drey Gattungen von
Figuren; naͤmlich Figuren der Sachen, die wir
uns vorſtellen, Figuren der Ordnung, Figuren
des Ausdruks.
Ziehen wir aber blos die Vorſtel-

lungen
(†) Illud genus orationis, in quo per quamdam ſuſpicio-
nem, quod non dicimus, accipi volumus; non utique contra-
rium, ut in Ironia, ſed aliud latens, et auditori quaſi in-
[Spaltenumbruch] veniendum. Quint. IX.
2. 65. Dieſe Erklaͤrung geht mehr
auf die Tropen insbeſondre, als auf die Figuren uͤber-
haupt.
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[384/0396] Fig Fig dieſes Gefaͤß iſt von einer ſchoͤnen Form, als von einer ſchoͤnen Figur. Wenigſtens verſteht man in den zeichnenden Kuͤnſten durch Figur insgemein die Vorſtellung der menſchlichen Geſtalt. Von einer Landſchaft ſagt man, die Figuren derſelben ſeyen ſchoͤn, die Landſchaft ſey mit oder ohne Figuren, und verſteht dieſes von den Zeichnungen menſchlicher Geſtalten. Dadurch zeiget man an, daß die menſchliche Bil- dung die ſchoͤnſte Form iſt, der die Benennung der Figur vorzuͤglich zukoͤmmt. Jn der That iſt ſie unter allen Formen, die wir kennen, das Schoͤnſte; ihr Reitz kann uns bis zum Entzuͤken ruͤhren. Sie iſt alſo das Hoͤchſte, was die bildenden Kuͤnſte uns darſtellen koͤnnen; daher muß ein Kuͤnſtler ſich vor- zuͤglich in Zeichnung und Bildung der Figuren uͤben, weil er ohne dieſes ſeinem Werke den hoͤchſten Reitz niemals geben kann. Selbſt den Werken, darin die Figuren nicht ſchlechterdings nothwendig ſind, als den Landſchaften und perſpektiviſchen Vorſtel- lungen ſchoͤner Gebaͤude, geben erſt die Figuren das rechte Leben. Das Schoͤne der menſchlichen Bildung wird aber vornehmlich im Nakenden erkennt. Daher muͤſſen die Figuren, ſo weit es die Schiklichkeit, Anſtaͤn- digkeit, oder der Wolſtand erlauben, ganz oder zum Theil nakend, oder doch ſo bekleidet ſeyn, daß der groͤßte Theil des Reitzes noch uͤbrig bleibe, und durch das Gewand entdekt werden koͤnne. Was ein Kuͤnſtler zu Erlangung einer Geſchiklichkeit in Zeich- nung der Figuren zu beobachten habe, haben wir im Art. Zeichnen angefuͤhrt. Von der Schoͤnheit der menſchlichen Geſtalt aber iſt im Art. Schoͤnheit geſprochen worden. Bey Beurtheilung einer Figur muß man ſich ſelbſt folgende Fragen machen. Hat die ganze Ge- ſtalt dieſer Figur das Anſehen einer vollkommen ſchoͤnen Perſon, nach Beſchaffenheit ihres Alters und Geſchlechts? Zeiget ſie in dem Geſicht einen Geiſt mit Nachdenken, oder eine Seele mit Empfin- dungen? Sieht man in ihrer Stellung eine beſon- dere Beſtimmung zu einer gewiſſen Verrichtung? Sind die Bewegungen und Gebaͤhrden natuͤrlich, und zu einem gewiſſen Zwek einſtimmend? Wenn dieſe Sachen ſich in der Figur nicht deutlich zeigen, ſo iſt ſie nicht ſchoͤn gezeichnet. Das Urtheil aber uͤber alle dieſe Theile, die zur Schoͤnheit einer Figur gehoͤren, haͤngt von einer genauen Kenntnis der Schoͤnheit der natuͤrlichen und ſittlichen Bewegungen des Menſchen ab. Man muß nicht nur die Phi- ſionomien, die Gebehrden, Bewegungen, Stel- lungen und alle natuͤrlichen Formen der Men- ſchen genau beobachtet, ſondern auch viel ſchoͤne Perſonen, von allerley Stand, Alter und Cha- rakter oft betrachtet haben, um ein ſolches Urtheil faͤllen zu koͤnnen. Eine fleißige Betrachtung des Antiken, der beſten griechiſchen Bilder, ſchaͤrft das Auge zur Beurtheilung der Figuren. Figur. (Redende Kuͤnſte.) Eine ſich beſonders auszeichnende, eine eigene Form annehmende, Art ſich auszudruͤken, der Ausdruk be- ſtehe in einem einzigen Wort, oder einer ganzen Redensart. Jeder Ausdruk, der wegen ſeiner gu- ten Art verdient, mit einem beſondern Namen ge- nennt zu werden, iſt eine Figur, das iſt, eine eigene Geſtalt der Rede. Nachdem man einmal angefangen hatte, uͤber die Sprache der Redner und Dichter nachzudenken, um den Urſprung der verſchiedenen Annehmlichkeiten des Nachdruks und der Hoheit derſelben zu entdeken, hat man bald an- gemerkt, daß gewiſſe Formen oder beſondere Be- ſchaffenheiten des Ausdruks, eine beſondere Wuͤr- kung haben. Damit man nun die verſchiedenen Arten der Formen von einander unterſcheidete, ſo mußte man die vornehmſten mit beſondern Namen bezeichnen, die eine eine Ausrufung, die andre eine Wiederholung, die dritte anders nennen. Dies iſt der Urſprung der Lehre von den Figuren, wor- uͤber die Lehrer der Sprache und der Beredſamkeit ſo viel geſchrieben haben (†). Wenn wir das Wort Figur in ſeiner allgemeine- ſten Bedeutung fuͤr die beſondere Form einer Sache nehmen, ſo giebt es uͤberhaupt drey Gattungen von Figuren; naͤmlich Figuren der Sachen, die wir uns vorſtellen, Figuren der Ordnung, Figuren des Ausdruks. Ziehen wir aber blos die Vorſtel- lungen (†) Illud genus orationis, in quo per quamdam ſuſpicio- nem, quod non dicimus, accipi volumus; non utique contra- rium, ut in Ironia, ſed aliud latens, et auditori quaſi in- veniendum. Quint. IX. 2. 65. Dieſe Erklaͤrung geht mehr auf die Tropen insbeſondre, als auf die Figuren uͤber- haupt.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/396>, abgerufen am 22.11.2024.