Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Feh Fei aber doch unbestimmt, ungewiß und verworrenwerden. Auch hier kann die Baukunst die nöthigen Erläuterungen geben; denn da kann man die we- sentlichen und zufälligen Regeln am deutlichsten er- kennen. Wenn das, was seiner Natur nach ge- rade, oder senkrecht, oder bleyrecht seyn soll, krumm oder hängend ist, wenn das, was seiner Natur (*) S. Bau[k]unst. Gebälke.nach ganz seyn soll, gebrochen wird (*); so begeht der Baumeister wesentliche Fehler, die sehr belei- digen: wenn er aber in den Verhältnißen fehlet, wenn er zu zierlich, oder zu kahl wird, wenn in dem Ganzen nicht einerley Geschmak, oder nicht genug Harmonie ist, so begeht er weniger wesent- liche Fehler. Es wäre für die Critik nicht unwich- tig, die verschiedeuen Arten der Fehler in jeder der beyden Hauptgattungen näher zu bestimmen und genau zu benennen. Hier kann es genug seyn, den Kunstrichtern den nöthigen Wink dazu gegeben zu haben. Fein. [Spaltenumbruch]
(Schöne Künste.) Man nennt im eigentlichen Verstand dasjenige Es liegt in der Natur der Vorstellungskräfte, daß Fei scharfsinnigen Mann schmeicheln will, ihn nichtgrob, sondern auf eine verdekte Art loben muß. Also ist das Feine eine ästhetische Eigenschaft, Zum feinen Ausdruk gehören überhaupt die Wör- Ne-
[Spaltenumbruch] Feh Fei aber doch unbeſtimmt, ungewiß und verworrenwerden. Auch hier kann die Baukunſt die noͤthigen Erlaͤuterungen geben; denn da kann man die we- ſentlichen und zufaͤlligen Regeln am deutlichſten er- kennen. Wenn das, was ſeiner Natur nach ge- rade, oder ſenkrecht, oder bleyrecht ſeyn ſoll, krumm oder haͤngend iſt, wenn das, was ſeiner Natur (*) S. Bau[k]unſt. Gebaͤlke.nach ganz ſeyn ſoll, gebrochen wird (*); ſo begeht der Baumeiſter weſentliche Fehler, die ſehr belei- digen: wenn er aber in den Verhaͤltnißen fehlet, wenn er zu zierlich, oder zu kahl wird, wenn in dem Ganzen nicht einerley Geſchmak, oder nicht genug Harmonie iſt, ſo begeht er weniger weſent- liche Fehler. Es waͤre fuͤr die Critik nicht unwich- tig, die verſchiedeuen Arten der Fehler in jeder der beyden Hauptgattungen naͤher zu beſtimmen und genau zu benennen. Hier kann es genug ſeyn, den Kunſtrichtern den noͤthigen Wink dazu gegeben zu haben. Fein. [Spaltenumbruch]
(Schoͤne Kuͤnſte.) Man nennt im eigentlichen Verſtand dasjenige Es liegt in der Natur der Vorſtellungskraͤfte, daß Fei ſcharfſinnigen Mann ſchmeicheln will, ihn nichtgrob, ſondern auf eine verdekte Art loben muß. Alſo iſt das Feine eine aͤſthetiſche Eigenſchaft, Zum feinen Ausdruk gehoͤren uͤberhaupt die Woͤr- Ne-
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Der Kuͤnſtler alſo, der<lb/> fuͤr geuͤbte und ſcharfe Kenner ſchreibt, muß das<lb/> Feinere ſeiner Kunſt beſitzen, und uͤberhaupt einen<lb/> feinen Geſchmak haben, ſo wie der, der einem<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Fei</hi></fw><lb/> ſcharfſinnigen Mann ſchmeicheln will, ihn nicht<lb/> grob, ſondern auf eine verdekte Art loben muß.</p><lb/> <p>Alſo iſt das Feine eine aͤſthetiſche Eigenſchaft,<lb/> wodurch einige Gedanken oder Vorſtellungen ihre<lb/> rechte Annehmlichkeit erhalten. Das Feine liegt<lb/> aber entweder in der Vorſtellung ſelbſt, oder in der<lb/> Art, wie ſie vorgetragen wird, naͤmlich in der<lb/> Wendung und in dem Ausdruk. Ein Gedanken iſt<lb/> Fein, wenn ſeine Kraft von Begriffen herkommt, die<lb/> nur ſcharfſinnige faſſen. Zum Beyſpiel kann das<lb/> Lob dienen, welches Euripides aus dem Munde des<lb/> Adraſtus dem Eteokles beylegt: <hi rendition="#fr">Er liebte das Va-<lb/> terland — — die Boͤſen haßte er, nicht den Staat;<lb/> denn er machte einen Unterſchied zwiſchen der<lb/> Republik, und denen, die ſie durch eine uͤble Ver-<lb/> waltung der Sachen verhaßt machen.</hi> (*) Zum<note place="right">(*) <hi rendition="#aq">Euri-<lb/> pid.</hi> in dem<lb/> Trauerſp.<lb/> #.</note><lb/> Beyſpiel einer ſehr feinen Wendung des Lobes kann<lb/> das Comrliment dienen, das Horaz dem Dichter<lb/> Alcaͤus macht. Mitten im Schreken, den der roͤmi-<lb/> ſche Dichter aus augenſcheinlicher Lebensgefahr ge-<lb/> habt, und da er ſchon einen gewiſſen Tod erwartet,<lb/> ſich auch ſchon das dunkele Reich der Schatten leb-<lb/> haft vorſtellt, ſieht er dort nur vorzuͤglich den Alcaͤus,<lb/> und bemerkt fuͤrnehmlich die Wunder ſeiner Lieder (*).<note place="right">(*) <hi rendition="#aq">Hor.<lb/> Lib. 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Feh Fei
Fei
aber doch unbeſtimmt, ungewiß und verworren
werden. Auch hier kann die Baukunſt die noͤthigen
Erlaͤuterungen geben; denn da kann man die we-
ſentlichen und zufaͤlligen Regeln am deutlichſten er-
kennen. Wenn das, was ſeiner Natur nach ge-
rade, oder ſenkrecht, oder bleyrecht ſeyn ſoll, krumm
oder haͤngend iſt, wenn das, was ſeiner Natur
nach ganz ſeyn ſoll, gebrochen wird (*); ſo begeht
der Baumeiſter weſentliche Fehler, die ſehr belei-
digen: wenn er aber in den Verhaͤltnißen fehlet,
wenn er zu zierlich, oder zu kahl wird, wenn in
dem Ganzen nicht einerley Geſchmak, oder nicht
genug Harmonie iſt, ſo begeht er weniger weſent-
liche Fehler. Es waͤre fuͤr die Critik nicht unwich-
tig, die verſchiedeuen Arten der Fehler in jeder der
beyden Hauptgattungen naͤher zu beſtimmen und
genau zu benennen. Hier kann es genug ſeyn,
den Kunſtrichtern den noͤthigen Wink dazu gegeben
zu haben.
(*) S.
Baukunſt.
Gebaͤlke.
Fein.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Man nennt im eigentlichen Verſtand dasjenige
fein, was in ſeiner Art zwar beſtimmte und klare,
aber nicht ſtarke Eindruͤke auf die Sinnen macht,
ſo daß ſchon ſcharfe Sinnen zu beſtimmter Empfin-
dung deſſelben erfodert werden, wie ein feiner Ton,
ein feiner Geruch, ein feiner Faden. Jm figuͤrli-
chen Sinn nennt man alſo dasjenige Fein, was eine
etwas ſcharfe Vorſtellungskraft erfodert, um den ge-
hoͤrigen Eindruk zu machen; was denen, die nicht
genau aufmerken, leicht unbemerkt bleibt. So iſt
ein feiner Gedanken der, deſſen Richtigkeit nur durch
einen merklichen Grad der Scharfſinnigkeit ent-
dekt wird. Das Feine iſt dem Groben entgegen ge-
ſetzt, das ſich ſtark fuͤhlen laͤßt, und auch groͤbern
Sinnen nicht entgeht.
Es liegt in der Natur der Vorſtellungskraͤfte, daß
diejenigen, die eine große Fertigkeit in jeder Art der
Vorſtellungen erlangt haben, von dem Feinen an-
genehmer geruͤhrt werden, als von dem zu merkli-
chen. So wol fuͤr die aͤußern, als fuͤr die innern
Sinnen, werden rohe Menſchen von ſolchen Dingen
angenehm geruͤhrt, die geuͤbtern ſchon zu gemein
und nicht fein genug ſind. Der Kuͤnſtler alſo, der
fuͤr geuͤbte und ſcharfe Kenner ſchreibt, muß das
Feinere ſeiner Kunſt beſitzen, und uͤberhaupt einen
feinen Geſchmak haben, ſo wie der, der einem
ſcharfſinnigen Mann ſchmeicheln will, ihn nicht
grob, ſondern auf eine verdekte Art loben muß.
Alſo iſt das Feine eine aͤſthetiſche Eigenſchaft,
wodurch einige Gedanken oder Vorſtellungen ihre
rechte Annehmlichkeit erhalten. Das Feine liegt
aber entweder in der Vorſtellung ſelbſt, oder in der
Art, wie ſie vorgetragen wird, naͤmlich in der
Wendung und in dem Ausdruk. Ein Gedanken iſt
Fein, wenn ſeine Kraft von Begriffen herkommt, die
nur ſcharfſinnige faſſen. Zum Beyſpiel kann das
Lob dienen, welches Euripides aus dem Munde des
Adraſtus dem Eteokles beylegt: Er liebte das Va-
terland — — die Boͤſen haßte er, nicht den Staat;
denn er machte einen Unterſchied zwiſchen der
Republik, und denen, die ſie durch eine uͤble Ver-
waltung der Sachen verhaßt machen. (*) Zum
Beyſpiel einer ſehr feinen Wendung des Lobes kann
das Comrliment dienen, das Horaz dem Dichter
Alcaͤus macht. Mitten im Schreken, den der roͤmi-
ſche Dichter aus augenſcheinlicher Lebensgefahr ge-
habt, und da er ſchon einen gewiſſen Tod erwartet,
ſich auch ſchon das dunkele Reich der Schatten leb-
haft vorſtellt, ſieht er dort nur vorzuͤglich den Alcaͤus,
und bemerkt fuͤrnehmlich die Wunder ſeiner Lieder (*).
Durch den Ausdruk kann ein gemeiner Gedanken
Fein werden, wenn ihm etwas, das auf eine feine
Art reizet, beygemiſcht wird. Davon kann folgen-
des, aus dem eben angefuͤhrten Trauerſpiel des Eu-
ripides, zum Beyſpiel dienen (*). Die argiviſchen
Matronen bitten die Aethra ihren Sohn zu bewegen,
ihnen die Leichnahme ihrer erſchlagenen Soͤhne aus-
zuliefern. Auch du, ſagen ſie, haſt ehedem aus
den lieblichen Umarmungen deines Gemahls einen
Sohn gebohren. Wie viel feiner iſt dieſes, als
das gemeine, auch du biſt Mutter. Der ange-
fuͤhrte Dichter iſt vorzuͤglich reich an Gedanken, die
durch den Ausdruk Fein werden. Wie Fein iſt nicht
folgendes, ebenfalls durch Einmiſchung angenehmer,
und an ſich feiner Nebenbegriffe. Er vergoͤnnte ſei-
ner Tochter aus den Freyern den zu waͤhlen, auf
den die lieblichen Eingebungen der Venus ihre
Neigung lenken wuͤrden. (*) Dadurch giebt der
Dichter auf eine angenehme Weiſe zu verſtehen, daß
die Wahl eines Gatten durch ein gewiſſes nicht zu
beſtimmendes Gefuͤhl, das aus Wolluſt entſpringt,
geleitet werde.
(*) Euri-
pid. in dem
Trauerſp.
#.
(*) Hor.
Lib. II.
od. 13.
(*) vs. 55.
56.
(*) Jphig.
in Aul. vs.
68. 69.
Zum feinen Ausdruk gehoͤren uͤberhaupt die Woͤr-
ter, die entweder die Hauptbegriffe ſelbſt, oder einige
Ne-
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