Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Eur
vollkommenes in der Welt und selbst die Gebäude
der besten Meister haben immer noch ihre Fehler;

als wenn man zur Zeit des Theseus schon sehr
über die Schönheiten der Baukunst raffinirt hätte.
Und es schmekt weit mehr nach dem Zeitalter des
Euripides, als des Theseus, wenn Hippolytus
sagt, er habe immer so keusch gelebt, daß er nicht
einmal die schlüpfrigen Gemählde anzusehen ge-
wohnt sey. Er ist der erste und von den übrig
gebliebenen tragischen Dichtern der einzige, der seine
Trauerspiele mit einer besondern Art Eingang an-
fängt, darin eine der handelnden Personen die Zu-
schauer von dem Jnhalt des Stüks unterrichtet, und
mit einigen der Personen bekannt macht. Und
hierin hat er ofte so wol die Wahrscheinlichkeit über-
schritten, als zu viel gesagt.

[Spaltenumbruch]
Eur

Jn der Schreibart reicht er weder an die Hoheit
des Aeschylus noch an den körnichten, männlichen
und feurigen Ausdruk des Sophokles. Aber er ist
überall angenehm, herzrührend, und, besonders in
klagenden und zärtlichen Stellen, höchst beredt.
Fast überall ist er, so weit wir von dem griechischen
Vers urtheilen können, sehr wolklingend und über-
aus besorgt, den Klang des Verses so wol, als
einzeler Worte, dem besondern Jnhalt der Materie
gemäß einzurichten. Kurz seine Tragedien sind
eines der kostbarsten Ueberbleibsel des Alterthums,
welche man niemal genug lesen kann. Unter den
Neuern hat Racine ihn stark nachgeahmt, und beson-
ders seine zärtlichen Scenen, so oft es die Gelegen-
heit gab, sich sehr zu nutze gemacht.



[Spaltenumbruch]

Eur
vollkommenes in der Welt und ſelbſt die Gebaͤude
der beſten Meiſter haben immer noch ihre Fehler;

als wenn man zur Zeit des Theſeus ſchon ſehr
uͤber die Schoͤnheiten der Baukunſt raffinirt haͤtte.
Und es ſchmekt weit mehr nach dem Zeitalter des
Euripides, als des Theſeus, wenn Hippolytus
ſagt, er habe immer ſo keuſch gelebt, daß er nicht
einmal die ſchluͤpfrigen Gemaͤhlde anzuſehen ge-
wohnt ſey. Er iſt der erſte und von den uͤbrig
gebliebenen tragiſchen Dichtern der einzige, der ſeine
Trauerſpiele mit einer beſondern Art Eingang an-
faͤngt, darin eine der handelnden Perſonen die Zu-
ſchauer von dem Jnhalt des Stuͤks unterrichtet, und
mit einigen der Perſonen bekannt macht. Und
hierin hat er ofte ſo wol die Wahrſcheinlichkeit uͤber-
ſchritten, als zu viel geſagt.

[Spaltenumbruch]
Eur

Jn der Schreibart reicht er weder an die Hoheit
des Aeſchylus noch an den koͤrnichten, maͤnnlichen
und feurigen Ausdruk des Sophokles. Aber er iſt
uͤberall angenehm, herzruͤhrend, und, beſonders in
klagenden und zaͤrtlichen Stellen, hoͤchſt beredt.
Faſt uͤberall iſt er, ſo weit wir von dem griechiſchen
Vers urtheilen koͤnnen, ſehr wolklingend und uͤber-
aus beſorgt, den Klang des Verſes ſo wol, als
einzeler Worte, dem beſondern Jnhalt der Materie
gemaͤß einzurichten. Kurz ſeine Tragedien ſind
eines der koſtbarſten Ueberbleibſel des Alterthums,
welche man niemal genug leſen kann. Unter den
Neuern hat Racine ihn ſtark nachgeahmt, und beſon-
ders ſeine zaͤrtlichen Scenen, ſo oft es die Gelegen-
heit gab, ſich ſehr zu nutze gemacht.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0370" n="358"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Eur</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">vollkommenes in der Welt und &#x017F;elb&#x017F;t die Geba&#x0364;ude<lb/>
der be&#x017F;ten Mei&#x017F;ter haben immer noch ihre Fehler;</hi><lb/>
als wenn man zur Zeit des The&#x017F;eus &#x017F;chon &#x017F;ehr<lb/>
u&#x0364;ber die Scho&#x0364;nheiten der Baukun&#x017F;t raffinirt ha&#x0364;tte.<lb/>
Und es &#x017F;chmekt weit mehr nach dem Zeitalter des<lb/>
Euripides, als des The&#x017F;eus, wenn Hippolytus<lb/>
&#x017F;agt, er habe immer &#x017F;o keu&#x017F;ch gelebt, daß er nicht<lb/>
einmal die &#x017F;chlu&#x0364;pfrigen Gema&#x0364;hlde anzu&#x017F;ehen ge-<lb/>
wohnt &#x017F;ey. Er i&#x017F;t der er&#x017F;te und von den u&#x0364;brig<lb/>
gebliebenen tragi&#x017F;chen Dichtern der einzige, der &#x017F;eine<lb/>
Trauer&#x017F;piele mit einer be&#x017F;ondern Art Eingang an-<lb/>
fa&#x0364;ngt, darin eine der handelnden Per&#x017F;onen die Zu-<lb/>
&#x017F;chauer von dem Jnhalt des Stu&#x0364;ks unterrichtet, und<lb/>
mit einigen der Per&#x017F;onen bekannt macht. Und<lb/>
hierin hat er ofte &#x017F;o wol die Wahr&#x017F;cheinlichkeit u&#x0364;ber-<lb/>
&#x017F;chritten, als zu viel ge&#x017F;agt.</p><lb/>
          <cb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Eur</hi> </fw><lb/>
          <p>Jn der Schreibart reicht er weder an die Hoheit<lb/>
des Ae&#x017F;chylus noch an den ko&#x0364;rnichten, ma&#x0364;nnlichen<lb/>
und feurigen Ausdruk des Sophokles. Aber er i&#x017F;t<lb/>
u&#x0364;berall angenehm, herzru&#x0364;hrend, und, be&#x017F;onders in<lb/>
klagenden und za&#x0364;rtlichen Stellen, ho&#x0364;ch&#x017F;t beredt.<lb/>
Fa&#x017F;t u&#x0364;berall i&#x017F;t er, &#x017F;o weit wir von dem griechi&#x017F;chen<lb/>
Vers urtheilen ko&#x0364;nnen, &#x017F;ehr wolklingend und u&#x0364;ber-<lb/>
aus be&#x017F;orgt, den Klang des Ver&#x017F;es &#x017F;o wol, als<lb/>
einzeler Worte, dem be&#x017F;ondern Jnhalt der Materie<lb/>
gema&#x0364;ß einzurichten. Kurz &#x017F;eine Tragedien &#x017F;ind<lb/>
eines der ko&#x017F;tbar&#x017F;ten Ueberbleib&#x017F;el des Alterthums,<lb/>
welche man niemal genug le&#x017F;en kann. Unter den<lb/>
Neuern hat <hi rendition="#fr">Racine</hi> ihn &#x017F;tark nachgeahmt, und be&#x017F;on-<lb/>
ders &#x017F;eine za&#x0364;rtlichen Scenen, &#x017F;o oft es die Gelegen-<lb/>
heit gab, &#x017F;ich &#x017F;ehr zu nutze gemacht.</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[358/0370] Eur Eur vollkommenes in der Welt und ſelbſt die Gebaͤude der beſten Meiſter haben immer noch ihre Fehler; als wenn man zur Zeit des Theſeus ſchon ſehr uͤber die Schoͤnheiten der Baukunſt raffinirt haͤtte. Und es ſchmekt weit mehr nach dem Zeitalter des Euripides, als des Theſeus, wenn Hippolytus ſagt, er habe immer ſo keuſch gelebt, daß er nicht einmal die ſchluͤpfrigen Gemaͤhlde anzuſehen ge- wohnt ſey. Er iſt der erſte und von den uͤbrig gebliebenen tragiſchen Dichtern der einzige, der ſeine Trauerſpiele mit einer beſondern Art Eingang an- faͤngt, darin eine der handelnden Perſonen die Zu- ſchauer von dem Jnhalt des Stuͤks unterrichtet, und mit einigen der Perſonen bekannt macht. Und hierin hat er ofte ſo wol die Wahrſcheinlichkeit uͤber- ſchritten, als zu viel geſagt. Jn der Schreibart reicht er weder an die Hoheit des Aeſchylus noch an den koͤrnichten, maͤnnlichen und feurigen Ausdruk des Sophokles. Aber er iſt uͤberall angenehm, herzruͤhrend, und, beſonders in klagenden und zaͤrtlichen Stellen, hoͤchſt beredt. Faſt uͤberall iſt er, ſo weit wir von dem griechiſchen Vers urtheilen koͤnnen, ſehr wolklingend und uͤber- aus beſorgt, den Klang des Verſes ſo wol, als einzeler Worte, dem beſondern Jnhalt der Materie gemaͤß einzurichten. Kurz ſeine Tragedien ſind eines der koſtbarſten Ueberbleibſel des Alterthums, welche man niemal genug leſen kann. Unter den Neuern hat Racine ihn ſtark nachgeahmt, und beſon- ders ſeine zaͤrtlichen Scenen, ſo oft es die Gelegen- heit gab, ſich ſehr zu nutze gemacht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/370
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/370>, abgerufen am 25.11.2024.