Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Erz so viel würksamer zur Ueberredung, weil der Zuhö-rer kaum merkt, daß der Redner seinem Urtheil vorgreift. Es kann zwar geschehen, daß ein Redner seine Erzählung. (Dichtkunst.) Eine besondere Art des Gedichts, womit die Neu- Erz schen| Ton vorgetragen werden, und deswegen nichtzu dieser Gattung gehören, wie die Romanzen. Diese Dichtungsart ist in Ansehung des Jnhalts Dergleichen Erzählungen wären denn allerdings Wenn der Jnhalt glüklich gefunden oder gewählt schweer.
[Spaltenumbruch] Erz ſo viel wuͤrkſamer zur Ueberredung, weil der Zuhoͤ-rer kaum merkt, daß der Redner ſeinem Urtheil vorgreift. Es kann zwar geſchehen, daß ein Redner ſeine Erzaͤhlung. (Dichtkunſt.) Eine beſondere Art des Gedichts, womit die Neu- Erz ſchen| Ton vorgetragen werden, und deswegen nichtzu dieſer Gattung gehoͤren, wie die Romanzen. Dieſe Dichtungsart iſt in Anſehung des Jnhalts Dergleichen Erzaͤhlungen waͤren denn allerdings Wenn der Jnhalt gluͤklich gefunden oder gewaͤhlt ſchweer.
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Die dritte Art iſt<lb/> fuͤr zweifelhafte Faͤlle. Jndeſſen geſchieht es ofte,<lb/> daß ein Redner alle drey Arten in einer einzigen Er-<lb/> zaͤhlung anbringt; nachdem die beſondern Theile<lb/> der Sache mehr oder weniger klar ſind.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Erzaͤhlung.</hi><lb/> (Dichtkunſt.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">E</hi>ine beſondere Art des Gedichts, womit die Neu-<lb/> ern die Dichtkunſt bereichert haben; denn es ſchei-<lb/> net nicht, daß den Alten dieſe Dichtungsart bekannt<lb/> geweſen ſey. Die Erzaͤhlung kommt darin mit der<lb/> aͤſopiſchen Fabel uͤberein, daß ſie eine kurze Hand-<lb/> lung in einem gemaͤßigten Ton, der weit unter dem<lb/> eigentlichen epiſchen zuruͤk bleibet, erzaͤhlt; ſie geht<lb/> aber von ihr darin ab, daß ſie nicht bedeutend iſt,<lb/> wie die Fabel. Der Dichter hat ſeinen Endzwek<lb/> bey der Erzaͤhlung erreicht, wenn der Leſer blos die<lb/> erzaͤhlte Handlung in dem Lichte, darin er ſie hat vor-<lb/> ſtellen wollen, gefaßt hat, da der Fabeldichter eine<lb/> Lehre zur Abſicht hat. Es laͤßt ſich zwar, wie ei-<lb/><note place="left">(*) Schle-<lb/> gel in der<lb/> Abhandl.<lb/> uͤber die<lb/> Eintheil.<lb/> der Pocſie.</note>ner unſrer beſten Kunſtrichter anmerkt, (*) auch<lb/> aus ihr, wie aus jeder Handlung, irgendwo eine<lb/> Sittenlehre abſoͤndern. Dennoch iſt ſie nicht etwan<lb/> ein in eine ſinnliche Geſchichte verkleideter Lehrſatz;<lb/> und das Allegoriſche iſt ihr auf keine Weiſe noth-<lb/> wendig. Sie iſt, ſagt er ferner, die heroiſche oder<lb/> komiſche Epopee im kleinen; die erſte Anlage dazu,<lb/> nur die weſentlichſten Beſtandtheile derſelben in ih-<lb/> rer einfacheſten Form. Man kann hinzuſetzen, daß<lb/> ſie in dem Vortrag den gemaͤßigten Ton, der keine<lb/> Begeiſterung kennt, annihmt. 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Erz
Erz
ſo viel wuͤrkſamer zur Ueberredung, weil der Zuhoͤ-
rer kaum merkt, daß der Redner ſeinem Urtheil
vorgreift.
Es kann zwar geſchehen, daß ein Redner ſeine
Erzaͤhlung nur nach einer dieſer drey Arten vortraͤgt.
Wenn die Sache ſehr klar und jedem hinlaͤnglich
einleuchtend iſt, ſo thut die erſte Art die allerbeſte
Wuͤrkung. Denn ſo wie ein Grundſatz durch den
Beweis, den man davon geben wollte, nicht nur
keine Staͤrke gewinnt, ſondern von ſeiner Kraft ver-
lieret, ſo geht es einer offenbar guten oder ſchlech-
ten Sache, durch eine ausgefuͤhrte oder zierliche
Erzaͤhlung. Die andre Art ſchiket ſich fuͤr Begeben-
heiten, die zwar wenigem Zweifel unterworfen,
aber doch durch Erlaͤuterung verſchiedener Umſtaͤnde
klaͤrer koͤnnen gemacht werden. Die dritte Art iſt
fuͤr zweifelhafte Faͤlle. Jndeſſen geſchieht es ofte,
daß ein Redner alle drey Arten in einer einzigen Er-
zaͤhlung anbringt; nachdem die beſondern Theile
der Sache mehr oder weniger klar ſind.
Erzaͤhlung.
(Dichtkunſt.)
Eine beſondere Art des Gedichts, womit die Neu-
ern die Dichtkunſt bereichert haben; denn es ſchei-
net nicht, daß den Alten dieſe Dichtungsart bekannt
geweſen ſey. Die Erzaͤhlung kommt darin mit der
aͤſopiſchen Fabel uͤberein, daß ſie eine kurze Hand-
lung in einem gemaͤßigten Ton, der weit unter dem
eigentlichen epiſchen zuruͤk bleibet, erzaͤhlt; ſie geht
aber von ihr darin ab, daß ſie nicht bedeutend iſt,
wie die Fabel. Der Dichter hat ſeinen Endzwek
bey der Erzaͤhlung erreicht, wenn der Leſer blos die
erzaͤhlte Handlung in dem Lichte, darin er ſie hat vor-
ſtellen wollen, gefaßt hat, da der Fabeldichter eine
Lehre zur Abſicht hat. Es laͤßt ſich zwar, wie ei-
ner unſrer beſten Kunſtrichter anmerkt, (*) auch
aus ihr, wie aus jeder Handlung, irgendwo eine
Sittenlehre abſoͤndern. Dennoch iſt ſie nicht etwan
ein in eine ſinnliche Geſchichte verkleideter Lehrſatz;
und das Allegoriſche iſt ihr auf keine Weiſe noth-
wendig. Sie iſt, ſagt er ferner, die heroiſche oder
komiſche Epopee im kleinen; die erſte Anlage dazu,
nur die weſentlichſten Beſtandtheile derſelben in ih-
rer einfacheſten Form. Man kann hinzuſetzen, daß
ſie in dem Vortrag den gemaͤßigten Ton, der keine
Begeiſterung kennt, annihmt. Denn es giebt auch
dergleichen kleine Epopeen, die in dem hohen lyri-
ſchen| Ton vorgetragen werden, und deswegen nicht
zu dieſer Gattung gehoͤren, wie die Romanzen.
(*) Schle-
gel in der
Abhandl.
uͤber die
Eintheil.
der Pocſie.
Dieſe Dichtungsart iſt in Anſehung des Jnhalts
einer großen Mannigfaltigkeit faͤhig; ſie kann Hand-
lungen und Thaten, Leidenſchaften, herrſchende und
voruͤbergehende Empfindungen, ganze Charaktere,
Begebenheiten, Gluͤks- und Gemuͤthsumſtaͤnde ſchil-
dern; und in Anſehung des Tones kann ſie pathe-
tiſch, ſittlich oder ſcherzhaft ſeyn. Soll ſie aber
mehr, als zum Zeitvertreib dienen, und mehr als
voruͤbergehende Aufwallungen verſchiedener, ange-
nehm durch einander laufender, Empfindungen erwe-
ken, ſo trift man den Stoff dazu eben nicht auf al-
len Straßen an. Wenn der erzaͤhlende Dichter lehr-
reich ſeyn will, wenn ſeine Abſicht iſt, nur ſolche
Geſchichten oder Thaten zu erzaͤhlen, die in dem
Verſtand der Leſer wol beſtimmte und auf immer
wuͤrkſame Grundbegriffe oder Grundſaͤtze zuruͤklaſſen,
ſo muß er ſich weit und mit ſcharfen Bliken in dem
ſittlichen Leben der Menſchen umſehen. Auch der
fleißigſte Beobachter der Menſchen iſt nur ſelten ſo
gluͤklich, auf ſolche claßiſche Maͤnner ſeiner eigenen,
oder der vergangenen Zeiten zu ſtoßen, deren Den-
kungsart und Handlungen, als canoniſche Lehren
fuͤr alle Menſchen, anzuſehen ſind. Vernunft und
Thorheit, Tugend und Laſter zeigen ſich zwar uͤberall,
aber hoͤchſt ſelten in dem hellen Licht und in der Ge-
ſtalt, worin ſie zur Lehr oder Warnung ſich dem
Gemuͤth unvergeßlich und immer wuͤrkſam einpraͤ-
gen. So muͤſſen aber die Beyſpiele ſeyn, die zu
einer vollkommenen Erzaͤhlung den Stoff ausmachen.
Es wird naͤmlich hier vorausgeſetzt, daß die Erzaͤh-
lung in allen Abſichten vollkommen ſey, bey welcher
jeder Leſer von geſunder Einſicht mit voͤlliger Em-
pfindung ſagt: ſo muß ich denken, ſo muß ich han-
deln, ſo muß ich niemal handeln, wenn ich noch
etwas auf mir ſelbſt halten ſoll, und die Erzaͤhlung
muß unvergeßlich als ein Muſter dem Geiſt einge-
praͤgt werden.
Dergleichen Erzaͤhlungen waͤren denn allerdings
ſehr ſchaͤtzbare Werke, und man koͤnnte den Neuern
uͤber die Erfindung dieſer Dichtart gluͤkwuͤnſchen.
Wenn der Jnhalt gluͤklich gefunden oder gewaͤhlt
iſt, ſo iſt noch die Schwierigkeit des guten Vor-
trags zu uͤberſteigen, die nicht gering iſt. Das
Erzaͤhlen iſt uͤberhaupt eine ſehr ſchweere Sache;
aber in Verſen zu erzaͤhlen, zumal wenn der Jnhalt
einfach iſt und wenig Leidenſchaftliches hat, iſt hoͤchſt
ſchweer.
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