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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Erk Ern
kenntnis richtige Begriffe der Sachen geben. Wer
weiß, daß das Wort Ehe ursprünglich ein Gesetz
bedeutet, der kann blos durch eine etymologische
Erklärung gewisse Vorurtheile bestreiten. Er kann
blos dadurch begreiflich machen, daß diese Verbin-
dung gesetzmäßig seyn müsse. Diese Erklärungen
sind in der Beredsamkeit um so viel wichtiger, weil
sie durch ihre Neuigkeit überraschen, und weil sie ab-
gezogene Begriffe plötzlich in sinnliche verwandeln.

Bey dem Vortrag der Erklärung verfährt der
Redner insgemein ganz anders, als der Philosoph.
Denn so wie dieser einen Vernunftschluß in sehr
wenig Worten vorträgt, da der Redner oft eine
(*) S.
Beweisar-
ten S. 161.
große Rede daraus macht (*), so wendet dieser auch
bisweilen einen Haupttheil der Rede dazu an, daß
er die Erklärung des Begriffs, worauf die Haupt-
sach ankommt, weitläuftig ausführet und bestätiget.
Andre male hingegen ist er darin kürzer als der
Philosoph, weil er mit einem einzigen Wort, und
wie im Vorbeygang, den Zuhörer mehr an die wahre
Bedeutung des Worts erinnert, als durch eine förm-
liche Erklärung davon unterrichtet.

Ernsthaft.
(Schöne Künste.)

Wenn der Meusch ernsthaft ist, so richtet er eine
sorgsame Aufmerksamkeit auf die Gegenstände, die
ihn in diese Gemüthsfaßung setzen. Denn die Ernst-
haftigkeit scheinet die Würkung solcher Vorstellun-
gen zu seyn, die wir für wichtig halten, und dabey
zugleich etwas zu besorgen ist. Eine ernsthafte Ge-
müthslage kann demnach zur gewissern Würkung
der Werke der Kunst viel beytragen. Darum hat
der Künstler bey wichtigen Vorstellungen sich zu be-
mühen, daß sie sich gleich durch einen ernsthaften
Ton ankündigen.

Der Mahler unterstützt die Ernsthaftigkeit sei-
nes Jnhalts durch einen strengen Ton, wodurch die
schönen und hellen Farben ihren Glanz, die sanften
ihre Annehmlichkeit verlieren. Dadurch allein schon
kann er das Aug zu ernsthafter Betrachtung des
Gegenstandes reizen, so wie ein schwarzer und trau-
riger Himmel uns in ernsthafte Erwartung eines
[Spaltenumbruch]

Ern Erw
Gewitters setzet. Der Tonsetzer wird ernsthaft durch
einen schweeren Gang der Bewegung; durch häuf-
fige und schweere Vorhalte (*), durch plötzliche und(*) S.
Vorhalt,
auch Dis-
sonanz

ungewöhnliche Ausweichungen, durch chromatische
Fortschreitungen und durch Vermeidung lieblicher
melismatischer Verzierungen. Der Redner durch
schweere volltönende Worte; durch öftere Ausru-
fungen
und Anreden, durch Beschweerungen und
Eydschwühre, dergleichen man sowol beym De-
mosthenes, als in den so genannten Philippischen
Reden
des Cicero sehr oft antrift. [Spaltenumbruch] (+) Der epi-
sche Dichter unterhält seinen Leser durch den ernst-
haften, und bisweilen feyerlichen Ton und Gang
seines Verses, fast durchaus in der Ernsthaftigkeit.
Und wenn er das Ernsthafte auf das höchste trei-
ben will, so mischt er fürchterliche Nebenbegriffe ein.
Beydes Ton und Begriffe sind in folgender Stelle
höchst ernsthaft.

-- -- Bald stand er voll Tiefsinu,
Bald sah' er überall langsam herum und setzte sich wieder
Wie auf hohen unwirthlichen Bergen drohende Wetter
Langsam und Verweilend sich lagern; so saß er und dachte. (*)
(*) Meßias
II Ges.

Das Ernsthafte bey kleinen und verächtlichen Ge-
genständen macht eine Art des Scherzhaften und Lä-
cherlichen aus, und kann also beym Spott sehr gute
Würkung thun; denn nichts ist poßirlicher als ein
ernsthafter Ton der läppischen Gegenständen. Wer
kann sich des Lachens enthalten, wenn Scarron in
einem ernsthaften Ton sein zerrissenes Kleid besingt?
Er vergleicht es mit den ägyptischen Pyramiden,
die er also anredet:

Superbes monumens -- --
Par l'injure des ans, vous etes abolis.
-- -- -- --
Il n'est point de ciment que le tems ne dissoude
Si vos marbres si durs ont senti son pouvoir
Dois je trouver mauvais qu'un mechant pourpoint noir
Qui m'a dure deux ans soit peice par le coude.
Erweiterung.
(Beredsamkeit.)

Longinus giebt folgende Erklärung davon; sie sey
eine vollständige Zusammentragung aller, einer Sa-

che
(+) Nur ein Beyspiel aus hunderten, die Cicero geben
könnte. Proh Dii immortales! Ubi est ille mos, virtusque
Majorum? -- -- An ego ab es mandata acciperem, qui
senatus mandata contemneret? aut ei cum senatu quidquam
[Spaltenumbruch] commune judicarem, qui Imperatorem Pop. Rom. senatu pro-
hibeute obsideret? At quae mandata? arregautia! Quo stu-
pore! Quo spiritu? Philip. VIII.
8.

[Spaltenumbruch]

Erk Ern
kenntnis richtige Begriffe der Sachen geben. Wer
weiß, daß das Wort Ehe urſpruͤnglich ein Geſetz
bedeutet, der kann blos durch eine etymologiſche
Erklaͤrung gewiſſe Vorurtheile beſtreiten. Er kann
blos dadurch begreiflich machen, daß dieſe Verbin-
dung geſetzmaͤßig ſeyn muͤſſe. Dieſe Erklaͤrungen
ſind in der Beredſamkeit um ſo viel wichtiger, weil
ſie durch ihre Neuigkeit uͤberraſchen, und weil ſie ab-
gezogene Begriffe ploͤtzlich in ſinnliche verwandeln.

Bey dem Vortrag der Erklaͤrung verfaͤhrt der
Redner insgemein ganz anders, als der Philoſoph.
Denn ſo wie dieſer einen Vernunftſchluß in ſehr
wenig Worten vortraͤgt, da der Redner oft eine
(*) S.
Beweisar-
ten S. 161.
große Rede daraus macht (*), ſo wendet dieſer auch
bisweilen einen Haupttheil der Rede dazu an, daß
er die Erklaͤrung des Begriffs, worauf die Haupt-
ſach ankommt, weitlaͤuftig ausfuͤhret und beſtaͤtiget.
Andre male hingegen iſt er darin kuͤrzer als der
Philoſoph, weil er mit einem einzigen Wort, und
wie im Vorbeygang, den Zuhoͤrer mehr an die wahre
Bedeutung des Worts erinnert, als durch eine foͤrm-
liche Erklaͤrung davon unterrichtet.

Ernſthaft.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Wenn der Meuſch ernſthaft iſt, ſo richtet er eine
ſorgſame Aufmerkſamkeit auf die Gegenſtaͤnde, die
ihn in dieſe Gemuͤthsfaßung ſetzen. Denn die Ernſt-
haftigkeit ſcheinet die Wuͤrkung ſolcher Vorſtellun-
gen zu ſeyn, die wir fuͤr wichtig halten, und dabey
zugleich etwas zu beſorgen iſt. Eine ernſthafte Ge-
muͤthslage kann demnach zur gewiſſern Wuͤrkung
der Werke der Kunſt viel beytragen. Darum hat
der Kuͤnſtler bey wichtigen Vorſtellungen ſich zu be-
muͤhen, daß ſie ſich gleich durch einen ernſthaften
Ton ankuͤndigen.

Der Mahler unterſtuͤtzt die Ernſthaftigkeit ſei-
nes Jnhalts durch einen ſtrengen Ton, wodurch die
ſchoͤnen und hellen Farben ihren Glanz, die ſanften
ihre Annehmlichkeit verlieren. Dadurch allein ſchon
kann er das Aug zu ernſthafter Betrachtung des
Gegenſtandes reizen, ſo wie ein ſchwarzer und trau-
riger Himmel uns in ernſthafte Erwartung eines
[Spaltenumbruch]

Ern Erw
Gewitters ſetzet. Der Tonſetzer wird ernſthaft durch
einen ſchweeren Gang der Bewegung; durch haͤuf-
fige und ſchweere Vorhalte (*), durch ploͤtzliche und(*) S.
Vorhalt,
auch Diſ-
ſonanz

ungewoͤhnliche Ausweichungen, durch chromatiſche
Fortſchreitungen und durch Vermeidung lieblicher
melismatiſcher Verzierungen. Der Redner durch
ſchweere volltoͤnende Worte; durch oͤftere Ausru-
fungen
und Anreden, durch Beſchweerungen und
Eydſchwuͤhre, dergleichen man ſowol beym De-
moſthenes, als in den ſo genannten Philippiſchen
Reden
des Cicero ſehr oft antrift. [Spaltenumbruch] (†) Der epi-
ſche Dichter unterhaͤlt ſeinen Leſer durch den ernſt-
haften, und bisweilen feyerlichen Ton und Gang
ſeines Verſes, faſt durchaus in der Ernſthaftigkeit.
Und wenn er das Ernſthafte auf das hoͤchſte trei-
ben will, ſo miſcht er fuͤrchterliche Nebenbegriffe ein.
Beydes Ton und Begriffe ſind in folgender Stelle
hoͤchſt ernſthaft.

— — Bald ſtand er voll Tiefſinu,
Bald ſah’ er uͤberall langſam herum und ſetzte ſich wieder
Wie auf hohen unwirthlichen Bergen drohende Wetter
Langſam und Verweilend ſich lagern; ſo ſaß er und dachte. (*)
(*) Meßias
II Geſ.

Das Ernſthafte bey kleinen und veraͤchtlichen Ge-
genſtaͤnden macht eine Art des Scherzhaften und Laͤ-
cherlichen aus, und kann alſo beym Spott ſehr gute
Wuͤrkung thun; denn nichts iſt poßirlicher als ein
ernſthafter Ton der laͤppiſchen Gegenſtaͤnden. Wer
kann ſich des Lachens enthalten, wenn Scarron in
einem ernſthaften Ton ſein zerriſſenes Kleid beſingt?
Er vergleicht es mit den aͤgyptiſchen Pyramiden,
die er alſo anredet:

Superbes monumens — —
Par l’injure des ans, vous êtes abolis.
— — — —
Il n’eſt point de ciment que le tems ne diſſoude
Si vos marbres ſi durs ont ſenti ſon pouvoir
Dois je trouver mauvais qu’un mechant pourpoint noir
Qui m’a duré deux ans ſoit peicé par le coude.
Erweiterung.
(Beredſamkeit.)

Longinus giebt folgende Erklaͤrung davon; ſie ſey
eine vollſtaͤndige Zuſammentragung aller, einer Sa-

che
(†) Nur ein Beyſpiel aus hunderten, die Cicero geben
koͤnnte. Proh Dii immortales! Ubi eſt ille mos, virtusque
Majorum? — — An ego ab es mandata acciperem, qui
ſenatus mandata contemneret? aut ei cum ſenatu quidquam
[Spaltenumbruch] commune judicarem, qui Imperatorem Pop. Rom. ſenatu pro-
hibeute obſideret? At quæ mandata? arregautia! Quo ſtu-
pore! Quo ſpiritu? Philip. VIII.
8.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/362>, abgerufen am 22.11.2024.