Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Erh Dieses sind die verschiedenen Gattungen des er- Daß nach dem Tod aller Unterschied des Ranges und Erh wird dieses durch die Art, wie sich Kleist ausdrükt:Die, deren nächtliche Lampe den ganzen Erdball er-(*) Jm Frühling. Hier ist wesentlich und zufällig Erhabenes zugleich. Was Horaz vom Schreiben überhaupt sagt: daß Will man einen Beweis davon haben, so verglei- tasie Pallida mors aequo pulsat pede pauperum tabernas (*) Od. I. 4, 13Regumque turres. (*) Erster Theil. X r
[Spaltenumbruch]
Erh Dieſes ſind die verſchiedenen Gattungen des er- Daß nach dem Tod aller Unterſchied des Ranges und Erh wird dieſes durch die Art, wie ſich Kleiſt ausdruͤkt:Die, deren naͤchtliche Lampe den ganzen Erdball er-(*) Jm Fruͤhling. Hier iſt weſentlich und zufaͤllig Erhabenes zugleich. Was Horaz vom Schreiben uͤberhaupt ſagt: daß Will man einen Beweis davon haben, ſo verglei- taſie Pallida mors æquo pulſat pede pauperum tabernas (*) Od. I. 4, 13Regumque turres. (*) Erſter Theil. X r
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So wird man auch bey jeder Aeuſſerung einer<lb/> hohen Sinnesart, wenn man ſie nur zu empfinden<lb/> vermag, in eine Art des Entzuͤkens geſetzt; und jede<lb/> große ſchrekhafte Begebenheit macht beſtuͤrzt, wenn<lb/> man ſie nur, wie ſie iſt, ſieht oder erzaͤhlen hoͤret.<lb/> Aber eine Vorſtellung, die man ſehr oft, ohne merk-<lb/> liche Wuͤrkung davon zu empfinden, gehabt hat, kann<lb/> uns in einem Licht, oder in einer Wendung gezeiget<lb/> werden, wo ſie den lebhafteſten Eindruk macht.<lb/> So ſind die ſchon angefuͤhrten Vorſtellungen von der<lb/> Ewigkeit und von der unermeßlichen Groͤße Gottes.<lb/> Denn ob ſchon beyde Gegenſtaͤnde an ſich groß ſind,<lb/> ſo iſt es ſehr ſchweer ſich ihre Groͤße mit einiger Klar-<lb/> heit vorzuſtellen: dazu hat uns das Genie des Dich-<lb/> ters geholfen. So iſt es eine gemeine, uns ſehr<lb/> wenig ruͤhrende Wahrheit, daß die Großen der<lb/> Erde ſo wie gemeine Menſchen ſterblich ſind; aber<lb/> ſie naͤhert ſich dem Erhabenen, wenn Horaz ſie alſo<lb/> ausdruͤkt:</p><lb/> <note place="foot"><hi rendition="#aq">Pallida mors æquo pulſat pede pauperum tabernas</hi><lb/><note place="left">(*) <hi rendition="#aq">Od. I.</hi><lb/> 4, 13</note><hi rendition="#aq">Regumque turres.</hi> (*)</note><lb/> <p>Daß nach dem Tod aller Unterſchied des Ranges und<lb/> der Wuͤrde wegfaͤllt, iſt ein gemeiner Gedanken,<lb/> aber in einer arabiſchen Erzaͤhlung bekommt er etwas<lb/> Wunderbares und Erhabenes. Der beruͤhmte Caliph<lb/><hi rendition="#fr">Harun Al-Raſchid</hi> begegnete einem Einſiedler, der<lb/> einen Todtenkopf mit Aufmerkſamkeit zu betrachten<lb/> ſchien. <hi rendition="#fr">Was machſt du damit?</hi> ſagt der Caliph.<lb/> Der Einſiedler — <hi rendition="#fr">ich ſache zu entdeken, ob dieſes<lb/> der Schaͤdel eines Benlers oder eines Monarchen<lb/> ſey?</hi> Eine bewundrungswuͤrdige Einkleidung einer<lb/> ganz bekannten Wahrheit. Auch Gedanken, die<lb/> ſchon an ſich groß und erhaben ſind, koͤnnen durch<lb/> die Einkleidung noch einen hoͤhern Grad deſſelben<lb/> erreichen. 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Erh
Erh
Dieſes ſind die verſchiedenen Gattungen des er-
habenen Stoffs. Nun iſt auch zu bemerken, daß ein
Gegenſtand entweder durch ſeine innerliche Groͤße er-
haben iſt, oder daß er durch die beſondere Weiſe, wie
er vorgeſtellt wird, ſeine Groͤße bekommt; jenes koͤnn-
te man das weſentlich Erhabene, dieſes das zufaͤllige
nennen. Es giebt Dinge, die wir nur geradezu
erkennen oder empfinden duͤrfen, um ſie zu bewun-
dern. Wer ſich einen Begriff von dem Weltgebaͤude
machen kann, wird gewiß das Erhabene darin fuͤh-
len. So wird man auch bey jeder Aeuſſerung einer
hohen Sinnesart, wenn man ſie nur zu empfinden
vermag, in eine Art des Entzuͤkens geſetzt; und jede
große ſchrekhafte Begebenheit macht beſtuͤrzt, wenn
man ſie nur, wie ſie iſt, ſieht oder erzaͤhlen hoͤret.
Aber eine Vorſtellung, die man ſehr oft, ohne merk-
liche Wuͤrkung davon zu empfinden, gehabt hat, kann
uns in einem Licht, oder in einer Wendung gezeiget
werden, wo ſie den lebhafteſten Eindruk macht.
So ſind die ſchon angefuͤhrten Vorſtellungen von der
Ewigkeit und von der unermeßlichen Groͤße Gottes.
Denn ob ſchon beyde Gegenſtaͤnde an ſich groß ſind,
ſo iſt es ſehr ſchweer ſich ihre Groͤße mit einiger Klar-
heit vorzuſtellen: dazu hat uns das Genie des Dich-
ters geholfen. So iſt es eine gemeine, uns ſehr
wenig ruͤhrende Wahrheit, daß die Großen der
Erde ſo wie gemeine Menſchen ſterblich ſind; aber
ſie naͤhert ſich dem Erhabenen, wenn Horaz ſie alſo
ausdruͤkt:
Daß nach dem Tod aller Unterſchied des Ranges und
der Wuͤrde wegfaͤllt, iſt ein gemeiner Gedanken,
aber in einer arabiſchen Erzaͤhlung bekommt er etwas
Wunderbares und Erhabenes. Der beruͤhmte Caliph
Harun Al-Raſchid begegnete einem Einſiedler, der
einen Todtenkopf mit Aufmerkſamkeit zu betrachten
ſchien. Was machſt du damit? ſagt der Caliph.
Der Einſiedler — ich ſache zu entdeken, ob dieſes
der Schaͤdel eines Benlers oder eines Monarchen
ſey? Eine bewundrungswuͤrdige Einkleidung einer
ganz bekannten Wahrheit. Auch Gedanken, die
ſchon an ſich groß und erhaben ſind, koͤnnen durch
die Einkleidung noch einen hoͤhern Grad deſſelben
erreichen. Es iſt an ſich ſchon etwas großes, ſich
den wahren Philoſophen, als einen Menſchen vor-
zuſtellen, der durch ſein Nachdenken das menſch-
liche Geſchlecht erleuchtet; aber noch wunderbarer
wird dieſes durch die Art, wie ſich Kleiſt ausdruͤkt:
Die, deren naͤchtliche Lampe den ganzen Erdball er-
leuchtet. (*)
Hier iſt weſentlich und zufaͤllig Erhabenes zugleich.
Dieſes zufaͤllig Erhabene iſt das, was Longinus
der Kunſt zuſchreibt, und davon er in Abſicht auf
die redenden Kuͤnſte am ausfuͤhrlichſten und gruͤnd-
lichſten handelt. Nachdem er angemerkt hat, (*)
daß dieſes Erhabene durch grammatiſche und rhe-
toriſche Figuren; durch Tropen und andre mit
Wuͤrde verbundene Ausdruͤke; endlich blos durch
den Ton und Fall der Rede kann erhalten werden;
ſo wendet er den groͤßten Theil ſeines Werks (*) an,
dieſes durch eine Menge wol ausgeſuchter Beyſpiele
zu erlaͤutern. Wir empfehlen ein oft wiederholtes
Leſen dieſes Werks allen denen, die das Große und
Erhabene im Ausdruk zu erreichen ſuchen.
(*) im
VIII Abſch.
(*) vom
XVI bis
zum XI.
Abſchnitt.
Was Horaz vom Schreiben uͤberhaupt ſagt: daß
man um gut zu ſchreiben, erſt gut denken muͤſſe,
kann insbeſonder auf jede Gattung des Erhabe-
nen angewendet werden. Wer es erreichen will,
muß irgend eines der natuͤrlichen Vermoͤgen des
Geiſtes oder des Herzens, in vorzuͤglicher Groͤße
beſitzen. Ohne dieſen Vorzug wird man weder
ſelbſt erhabene Vorſtellungen oder Empfindungen
hervorbringen, noch da, wo man ſie antrift, ſich
zunutze machen koͤnnen. Das erſte und vornehmſte
Mittel, ſagt Longinus, das Erhabene zu erreichen, iſt
die natuͤrliche Faͤhigkeit große Begriffe und große
Gedanken hervorzubringen; das andre, ſtarke und
große Empfindungen zu haben. Wiewol nun der,
dem die Natur dieſe Vorzuͤge verſagt hat, ſie durch
keine Bemuͤhung erlangt, ſo kann die natuͤrliche
Faͤhigkeit durch die Umſtaͤnde der Zeit, durch Gele-
genheit, durch Arbeit und Studium erhoͤht werden.
Niemand bilde ſich ein, daß Homer oder Demoſthe-
nes, Phidias oder Raphael das Erhabene, das wir
an ihnen bewundern, allein der Natur zu danken ha-
ben. Den Saamen des Erhabenen legt die Natur
in den Geiſt und in das Herz; daß er aber aufkei-
met und Fruͤchte zeuget, wird durch Urſachen be-
wuͤrkt, die von auſſenher kommen.
Will man einen Beweis davon haben, ſo verglei-
che man den Olympus oder den Tartarus des Ho-
mers, mit dem Himmel und der Hoͤlle Miltons;
oder die philoſophiſchen Gedanken des Lukretius
mit denen, die wir bey Pope und Haller antreffen.
Wer wird dem Homer die Erhabenheit der Phan-
taſie
Pallida mors æquo pulſat pede pauperum tabernas
Regumque turres. (*)
Erſter Theil. X r
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