Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Ent mit beissenden Gewürzen zu rechte machen müssen,weil sie sonst gar nichts davon schmeken. Entwiklung. (Schöne Künste.) Jst eigentlich die Zergliederung oder Auslegung Sie ist überall nöthig, wo die Gegenstände nicht Begriffe werden, wie schon angemerkt worden, Obstupui, steteruntque comae, vox faucibus haesit. so drükt er im ersten Wort den Hauptbegriff des Ent- Ent Gedanken werden ebenfalls durch Zergliederung Die Entwiklung der Leidenschaften hat ihre beson- Man kann bey der Entwiklung eines Gegenstan- Einige (+) De his rebus tantis tamque atrocibus, neque satis
commode dicere, neque satis graviter conqueri, neque sa- [Spaltenumbruch] tis libere vociferari posse intelligo; nam commoditati inge- nium, gravitati aetas, libertati tempora sunt impedimente. [Spaltenumbruch] Ent mit beiſſenden Gewuͤrzen zu rechte machen muͤſſen,weil ſie ſonſt gar nichts davon ſchmeken. Entwiklung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Jſt eigentlich die Zergliederung oder Auslegung Sie iſt uͤberall noͤthig, wo die Gegenſtaͤnde nicht Begriffe werden, wie ſchon angemerkt worden, Obſtupui, ſteteruntque comæ, vox faucibus hæſit. ſo druͤkt er im erſten Wort den Hauptbegriff des Ent- Ent Gedanken werden ebenfalls durch Zergliederung Die Entwiklung der Leidenſchaften hat ihre beſon- Man kann bey der Entwiklung eines Gegenſtan- Einige (†) De his rebus tantis tamque atrocibus, neque ſatis
commode dicere, neque ſatis graviter conqueri, neque ſa- [Spaltenumbruch] tis libere vociferari poſſe intelligo; nam commoditati inge- nium, gravitati ætas, libertati tempora ſunt impedimente. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0340" n="328"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ent</hi></fw><lb/> mit beiſſenden Gewuͤrzen zu rechte machen muͤſſen,<lb/> weil ſie ſonſt gar nichts davon ſchmeken.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Entwiklung.</hi><lb/> (Schoͤne Kuͤnſte.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">J</hi>ſt eigentlich die Zergliederung oder Auslegung<lb/> des mannigfaltigen, das in einer Sache liegt, und<lb/> iſt von der Aufloͤſung unterſchieden. 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Ent
Ent
mit beiſſenden Gewuͤrzen zu rechte machen muͤſſen,
weil ſie ſonſt gar nichts davon ſchmeken.
Entwiklung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Jſt eigentlich die Zergliederung oder Auslegung
des mannigfaltigen, das in einer Sache liegt, und
iſt von der Aufloͤſung unterſchieden. Dieſe macht
das Ungewiſſe gewiß, das Zweifelhafte beſtimmt;
ſtellt die Ordnung her, wo ſie nicht vorhanden ſchien;
jene laͤßt uns das, was wuͤrklich in einer Sache
liegt, erkennen, indem ſie uns eines nach dem an-
dern von den in ihr liegenden Dingen klar vor Au-
gen legt. Das Verworrene, oder das, was ſo
ſcheint, wird aufgeloͤſet, und das Zuſammengelegte
wird entwikelt. Ein Begriff wird entwikelt durch
die Erklaͤrung, ein Gedanken durch Zergliederung
deſſelben; aber weder der eine, noch der andre wird
aufgeloͤſet, es ſey denn, daß etwas raͤthſelhaftes
oder unbegreiflich ſcheinendes darin geweſen ſey.
Die Aufloͤſung gebiehrt Gewißheit und Richtigkeit;
die Entwiklung aber Deutlichkeit. Da nun dieſe
bey den ſchoͤnen Kuͤnſten verſchiedentlich in Betrach-
tung kommt, (*) ſo iſt auch die Entwiklung in der
Theorie derſelben zu betrachten.
(*) S.
Deutlich-
keit.
Sie iſt uͤberall noͤthig, wo die Gegenſtaͤnde nicht
anders, als durch eine voͤllige Deutlichkeit ihre Wuͤr-
kung thun koͤnnen. Der Redner muß die Haupt-
begriffe, auf denen ſeine Beweiſe beruhen, ent-
wikeln; die Gedanken, auf deren Deutlichkeit viel
ankommt; die Geſinnungen, die Charaktere, die
Handlungen muͤſſen uͤberall, wo ſie als Haupt-
gegenſtaͤnde, nicht aber blos zufaͤllig und im Vorbey-
gehen erſcheinen, gehoͤrig entwikelt werden.
Begriffe werden, wie ſchon angemerkt worden,
durch Erklaͤrungen entwikelt, auch wo dieſe feh-
len, oder ſonſt nicht noͤthig ſind, durch Zergliederung.
Wenn Virgil ſagt:
Obſtupui, ſteteruntque comæ, vox faucibus hæſit.
ſo druͤkt er im erſten Wort den Hauptbegriff des Ent-
ſetzens aus: was er aus der Zergliederung deſſelben
hinzuthut, gehoͤrt zur Entwiklung. Es verſteht ſich
von ſelbſt, daß nur die wichtigſten Begriffe, auf deren
Kraft viel ankommt, der Entwiklung noͤthig haben.
Gedanken werden ebenfalls durch Zergliederung
entwikelt; zum Beyſpiel davon kann folgendes die-
nen. Cicero wollte in ſeiner Rede (*) ſagen: ich
merke wol, daß ich uͤber eine ſo abſcheuliche Sache
nicht reden kann; was und wie ich wollte; weil
dieſer Gedanken da wichtig war, ſo entwikelt er ihn
alſo:
(†) „Jch ſehe wol ein, daß ich von ſo wich-
tigen und dabey ſo abſcheulichen Dingen, weder ge-
ſchikt genug reden, noch ernſtlich genug klagen, noch
frey genug meine eyfernde Stimme dagegen erhe-
ben kann; zu dem erſten fehlt mir die Faͤhigkeit, zu
dem andern das Anſehen, welches das Alter giebt,
und der Freyheit ſtehen die Umſtaͤnde der Zeit im
Weg.‟ Geſinnungen und Charaktere werden ent-
wikelt, wenn die weſentlichſten Faͤlle, bey denen ſie
ſich aͤußern, und durch die man ihre voͤllige Natur
erkennen lernt, herbey gebracht werden; dieſe Faͤlle
muͤſſen aber wuͤrklich verſchieden ſeyn, nicht immer
derſelbe Fall unter andern Umſtaͤnden. So entwi-
kelt ſich in der Jlias der Charakter des Achilles durch
vielerley, wuͤrklich verſchiedene Faͤlle; und ſo wußte
Richardſon in der Clariſſe und in dem Grandiſon,
jeden Charakter, auch jede Geſinnung voͤllig zu ent-
wikeln; und kann in dieſem Theil der Kunſt, als
das beſte Muſter das der Dichter zu ſtudiren hat,
vorgeſchlagen werden.
(*) Pro
Roſcio A-
merino.
Die Entwiklung der Leidenſchaften hat ihre beſon-
dern Schwierigkeiten, wenn ſie entweder einen et-
was ungewoͤhnlichen Gang nehmen, oder zu einer
ungewoͤhnlichen Groͤße ſteigen: in beyden Faͤllen iſt
es ſchweer alles ſo zu veranſtalten, daß nirgend et-
was unnatuͤrliches oder gezwungenes mit unterlaufe.
Dazu gehoͤrt eine große Kenntnis des menſchlichen
Herzens und eine gute Bekanntſchaft mit vielerley
Charaktern der Menſchen. Die ſeltſameſten Aeuſ-
ſerungen der Leidenſchaften entſtehen oft aus Kleinig-
keiten, ohne welche ſie unbegreiflich ſeyn wuͤrden.
Als ein Muſter einer ſehr geſchikten und guten Ent-
wiklung einer bis auf das aͤuſſerſte geſtiegenen Lei-
denſchaft haben wir in Geßners Abel, wo der ſo gar
unnatuͤrlich ſcheinende Haß des Cains auf eine mei-
ſterhafte Art von dem Dichter entwikelt wird.
Man kann bey der Entwiklung eines Gegenſtan-
des zweyerley Abſichten haben; naͤmlich den Ein-
druk deſſelben zu ſchwaͤchen, oder ihn zu verſtaͤrken.
Einige
(†) De his rebus tantis tamque atrocibus, neque ſatis
commode dicere, neque ſatis graviter conqueri, neque ſa-
tis libere vociferari poſſe intelligo; nam commoditati inge-
nium, gravitati ætas, libertati tempora ſunt impedimente.
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