Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Ede beweißt nichts gegen den vorher angenommenenGrundsatz des Geschmaks. Man schätzet solche Wer- ke deswegen, weil darin Theile der Kunst, nämlich die Haltung und das Colorit in der Vollkommen- heit erscheinen. Das Edle zeiget sich entweder in der Sache selbst, Jeder Künstller hat sich unaufhörlich zu bestre- Wer das Glük hat, von Jugend auf mit Men- Der deutsche Künstler hat vorzüglich nöthig, sei- Ede und der größten Ausländer zu bilden. Hat Horayseinen Römern sagen dürfen, daß sie die griechi- schen Muster nie aus den Händen lassen sollen, so kann auch ein Deutscher seine Mitbürger an fremde Schulen verweisen. Man würde es vergeblich leugnen, daß Deutsch- Dieses sey nicht gesagt, um jemanden, der, noch Nirgend zeiget sich aber der Mangel des Edlen es Erster Theil. O o
[Spaltenumbruch] Ede beweißt nichts gegen den vorher angenommenenGrundſatz des Geſchmaks. Man ſchaͤtzet ſolche Wer- ke deswegen, weil darin Theile der Kunſt, naͤmlich die Haltung und das Colorit in der Vollkommen- heit erſcheinen. Das Edle zeiget ſich entweder in der Sache ſelbſt, Jeder Kuͤnſtller hat ſich unaufhoͤrlich zu beſtre- Wer das Gluͤk hat, von Jugend auf mit Men- Der deutſche Kuͤnſtler hat vorzuͤglich noͤthig, ſei- Ede und der groͤßten Auslaͤnder zu bilden. Hat Horayſeinen Roͤmern ſagen duͤrfen, daß ſie die griechi- ſchen Muſter nie aus den Haͤnden laſſen ſollen, ſo kann auch ein Deutſcher ſeine Mitbuͤrger an fremde Schulen verweiſen. Man wuͤrde es vergeblich leugnen, daß Deutſch- Dieſes ſey nicht geſagt, um jemanden, der, noch Nirgend zeiget ſich aber der Mangel des Edlen es Erſter Theil. O o
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Darum<lb/> ſollen nicht nur edle Gegenſtaͤnde gewaͤhlet, ſondern<lb/> auch das Zufaͤllige darin ihrer edlen Natur richtig<lb/> angemeſſen werden.</p><lb/> <p>Jeder Kuͤnſtller hat ſich unaufhoͤrlich zu beſtre-<lb/> ben, ſeinen Geſchmak und den ſittlichen Theil ſeiner<lb/> Seele immer mehr zu veredlen. Denn obgleich<lb/> das Gefuͤhl, wodurch wir ſchnell, und oft uns ſelbſt<lb/> unbewußt, das edlere dem gemeinern vorziehen, eine<lb/> Gabe der Natur iſt, ſo kann es doch durch Uebung<lb/> und Studium ſehr geſtaͤrkt und allmaͤhlig zur Ge-<lb/> wohnheit gemacht werden.</p><lb/> <p>Wer das Gluͤk hat, von Jugend auf mit Men-<lb/> ſchen von feinerm Gefuͤhl und einer edlern Lebens-<lb/> art umzugehen, deſſen Geſchmak wird allmaͤhlig zu<lb/> dem edlern gebildet. Wer aber von dem Gluͤk dieſe<lb/> Wolthat nicht erhalten hat, der muß deſto aufmerk-<lb/> ſamer das Genie und den Geſchmak der beſten Werke<lb/> der Kunſt alter und neuer Voͤlker ſtudiren. 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Die meiſten Deutſchen arbeiten fuͤr<lb/> den Geſchmak in den erſten Aufwallungen eines<lb/> jugendlichen Genies, und hoͤren zu der Zeit auf,<lb/> da ſie haͤtten anfangen ſollen. Selten bekommt<lb/> man das Gefuͤhl des Edlen in den Hoͤrſaͤlen der<lb/> Univerſitaͤten, und in dem Umgang mit der juͤn-<lb/> gern Welt, welche zu lebhaft empfindet, um im-<lb/> mer fein zu waͤhlen. 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Ede
Ede
beweißt nichts gegen den vorher angenommenen
Grundſatz des Geſchmaks. Man ſchaͤtzet ſolche Wer-
ke deswegen, weil darin Theile der Kunſt, naͤmlich
die Haltung und das Colorit in der Vollkommen-
heit erſcheinen.
Das Edle zeiget ſich entweder in der Sache ſelbſt,
oder in der Art des Vortrages; beydes muß immer
zuſammen ſeyn. Ein edler Gedanken kann durch
einen ſchlechten Ausdruk verdunkelt werden, die edelſte
Handlung durch eine ſchlechte und gemeine Art, viel
von ihrem Werth verlieren; ein Gebaͤude von edlem
und groſſem Anſehen, in ſo fern man es im gan-
zen betrachtet, kann durch uͤberhaͤufte, gemeine und
poͤbelhafte Verzierungen ſchlecht werden. Darum
ſollen nicht nur edle Gegenſtaͤnde gewaͤhlet, ſondern
auch das Zufaͤllige darin ihrer edlen Natur richtig
angemeſſen werden.
Jeder Kuͤnſtller hat ſich unaufhoͤrlich zu beſtre-
ben, ſeinen Geſchmak und den ſittlichen Theil ſeiner
Seele immer mehr zu veredlen. Denn obgleich
das Gefuͤhl, wodurch wir ſchnell, und oft uns ſelbſt
unbewußt, das edlere dem gemeinern vorziehen, eine
Gabe der Natur iſt, ſo kann es doch durch Uebung
und Studium ſehr geſtaͤrkt und allmaͤhlig zur Ge-
wohnheit gemacht werden.
Wer das Gluͤk hat, von Jugend auf mit Men-
ſchen von feinerm Gefuͤhl und einer edlern Lebens-
art umzugehen, deſſen Geſchmak wird allmaͤhlig zu
dem edlern gebildet. Wer aber von dem Gluͤk dieſe
Wolthat nicht erhalten hat, der muß deſto aufmerk-
ſamer das Genie und den Geſchmak der beſten Werke
der Kunſt alter und neuer Voͤlker ſtudiren. Mit
Vorbeygehung aller Schriftſteller und Kuͤnſtler, die
nur einen zufaͤlligen Ruhm, aus irgend einem me-
chaniſchen Theil derſelben, oder nur einen voruͤber-
gehenden Beyfall erhalten haben, muß er ſich an die
erſten und claßiſchen Maͤnner jeder Art halten; an
die, die nicht blos bey ihrer Nation, ſondern bey al-
len Voͤlkern, wo der Geſchmak aufgekommen iſt,
fuͤr die erſten in ihrer Art gehalten werden. Fuͤr
junge, noch ungebildete Genie, wenn die Natur ſie
nicht vorzuͤglich bedacht hat, iſt es allemal gefaͤhr-
lich, gutes, mittelmaͤßiges und ſchlechtes durch einan-
der zu leſen, oder zu ſehen. Es gehoͤrt ein aus-
nehmendes Genie dazu, ſich nach ſchlechten Muſtern
zu bilden, und gut zu werden.
Der deutſche Kuͤnſtler hat vorzuͤglich noͤthig, ſei-
nen Geſchmak durch fleißiges Studium der Alten,
und der groͤßten Auslaͤnder zu bilden. Hat Horay
ſeinen Roͤmern ſagen duͤrfen, daß ſie die griechi-
ſchen Muſter nie aus den Haͤnden laſſen ſollen, ſo
kann auch ein Deutſcher ſeine Mitbuͤrger an fremde
Schulen verweiſen.
Man wuͤrde es vergeblich leugnen, daß Deutſch-
land im Ganzen genommen, in Anſehung des
Edlen in dem Geſchmak, bis itzt noch weit, nicht
nur hinter den Alten, ſondern auch hinter mancher
neuern Nation zuruͤk bleibe. Dieſer Mangel iſt in
den redenden Kuͤnſten noch weit fuͤhlbarer, als in
den andern. Die meiſten Deutſchen arbeiten fuͤr
den Geſchmak in den erſten Aufwallungen eines
jugendlichen Genies, und hoͤren zu der Zeit auf,
da ſie haͤtten anfangen ſollen. Selten bekommt
man das Gefuͤhl des Edlen in den Hoͤrſaͤlen der
Univerſitaͤten, und in dem Umgang mit der juͤn-
gern Welt, welche zu lebhaft empfindet, um im-
mer fein zu waͤhlen. Eine edlere Art zu denken und
zu empfinden erlanget man insgemein erſt alsdenn,
wenn man alle Arten der ſittlichen und aͤſthetiſchen
Gegenſtaͤnde vielfaͤltig und ſehr oͤfters vor Augen ge-
habt, und den verſchiedenen Ton aͤhnlicher Gegen-
ſtaͤnde genau bemerkt hat.
Dieſes ſey nicht geſagt, um jemanden, der, noch
nicht voͤllig reif, ſich in redenden Kuͤnſten oͤffentlich
gezeiget hat, zu tadeln oder zu beleidigen; denn
die Abſicht dieſer Anmerkungen geht blos dahin,
einigen unſrer ſchoͤnen Geiſter dieſe wichtige Erinne-
rung zu geben, daß ſie, da es ein Haupttheil ihres
Berufs iſt, einen edlen Geſchmak und eine edle Sin-
nesart unter ihrer Nation auszubreiten, ein ſo wich-
tiges Werk nicht eher unternehmen ſollen, bis ſie
ſelbſt dieſe ſchoͤnen Wuͤrkungen der Kuͤnſte an ihren
eigenen Gemuͤthern erfahren haben. Weder das
Feuer des Genies, noch eine lebhafte Einbildungs-
kraft, noch ſtarke Empfindungen, ſind dazu hinrei-
chend. Das feine Gefuͤhl der beſten Art zu han-
deln und ſeine Empfindungen zu aͤuſſern, dieſes
Gefuͤhl, das die, nie deutlich zu zeichnenden Graͤn-
zen, zwiſchen dem gemeinen und dem edlen, zwi-
ſchen dem feinen und dem groͤbern, zwiſchen dem
gezwungenen und dem natuͤrlichen, ſicher empfin-
det, iſt die Frucht eines langen und ſcharfen Nach-
denkens, und eines ſehr anhaltenden Beobachtungs-
geiſtes.
Nirgend zeiget ſich aber der Mangel des Edlen
ſichtbarer, als auf der deutſchen Schaubuͤhne, wo
es
Erſter Theil. O o
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