Der Mensch besizet zwey, wie es scheinet, von einander unabhängliche Vermögen, den Verstand und das sittliche Gefühl, auf deren Entwiklung die Glükseeligkeit des gesellschaftlichen Lebens gegründet werden muß. Von dem Verstand hänget die Möglichkeit desselben ab, das sittliche Gefühl aber giebt diesem Leben das, ohne welches dasselbe keinen Werth haben würde.
Daß die Menschen nicht mehr einzeln, oder in kleinen Horden, gleich den Thieren des Feldes herum irren, um eine kümmerliche Nahrung zu suchen; daß sie beständige Wohnplätze und einen zuverläßigen Unterhalt haben; daß sie in großen Gesellschaften, und unter guten Gesetzen leben, ist eine Wolthat, die sie dem Verstand zu danken haben, der die mechanischen Künste erfunden, Wissenschaften und Gesetze ausgedacht hat. Sollen aber die Menschen diese herlichen Früchte des Verstandes recht genießen, und in dem großen gesellschaftlichen Leben glüklich seyn, so müssen gesellschaftliche Tugenden; so muß Gefühl für sittliche Ordnung, für das Schöne und Gute in die Gemüther gepflanzet werden.
Man betrachte den Zustand vieler großen Völker, bey denen der Verstand wol angebaut ist; wo die mechanischen Künste und die Wissenschaften zu einer beträcht- lichen Vollkommenheit gestiegen sind, und frage sich selbst, ob diese Völker glüklich seyen? Bey der Untersuchung warum sie es nicht sind, findet man, daß es ihnen an den Nerven der Seele, an dem lebhaften Gefühl des Schönen und Guten fehlet; man findet sie zu träg sich der Unordnung zu wiedersetzen; zu gefühllos den Mangel
des
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Vorrede.
Der Menſch beſizet zwey, wie es ſcheinet, von einander unabhaͤngliche Vermoͤgen, den Verſtand und das ſittliche Gefuͤhl, auf deren Entwiklung die Gluͤkſeeligkeit des geſellſchaftlichen Lebens gegruͤndet werden muß. Von dem Verſtand haͤnget die Moͤglichkeit deſſelben ab, das ſittliche Gefuͤhl aber giebt dieſem Leben das, ohne welches daſſelbe keinen Werth haben wuͤrde.
Daß die Menſchen nicht mehr einzeln, oder in kleinen Horden, gleich den Thieren des Feldes herum irren, um eine kuͤmmerliche Nahrung zu ſuchen; daß ſie beſtaͤndige Wohnplaͤtze und einen zuverlaͤßigen Unterhalt haben; daß ſie in großen Geſellſchaften, und unter guten Geſetzen leben, iſt eine Wolthat, die ſie dem Verſtand zu danken haben, der die mechaniſchen Kuͤnſte erfunden, Wiſſenſchaften und Geſetze ausgedacht hat. Sollen aber die Menſchen dieſe herlichen Fruͤchte des Verſtandes recht genießen, und in dem großen geſellſchaftlichen Leben gluͤklich ſeyn, ſo muͤſſen geſellſchaftliche Tugenden; ſo muß Gefuͤhl fuͤr ſittliche Ordnung, fuͤr das Schoͤne und Gute in die Gemuͤther gepflanzet werden.
Man betrachte den Zuſtand vieler großen Voͤlker, bey denen der Verſtand wol angebaut iſt; wo die mechaniſchen Kuͤnſte und die Wiſſenſchaften zu einer betraͤcht- lichen Vollkommenheit geſtiegen ſind, und frage ſich ſelbſt, ob dieſe Voͤlker gluͤklich ſeyen? Bey der Unterſuchung warum ſie es nicht ſind, findet man, daß es ihnen an den Nerven der Seele, an dem lebhaften Gefuͤhl des Schoͤnen und Guten fehlet; man findet ſie zu traͤg ſich der Unordnung zu wiederſetzen; zu gefuͤhllos den Mangel
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[III/0003]
Vorrede.
Der Menſch beſizet zwey, wie es ſcheinet, von einander unabhaͤngliche
Vermoͤgen, den Verſtand und das ſittliche Gefuͤhl, auf deren Entwiklung
die Gluͤkſeeligkeit des geſellſchaftlichen Lebens gegruͤndet werden muß. Von dem
Verſtand haͤnget die Moͤglichkeit deſſelben ab, das ſittliche Gefuͤhl aber giebt dieſem
Leben das, ohne welches daſſelbe keinen Werth haben wuͤrde.
Daß die Menſchen nicht mehr einzeln, oder in kleinen Horden, gleich den Thieren
des Feldes herum irren, um eine kuͤmmerliche Nahrung zu ſuchen; daß ſie beſtaͤndige
Wohnplaͤtze und einen zuverlaͤßigen Unterhalt haben; daß ſie in großen Geſellſchaften,
und unter guten Geſetzen leben, iſt eine Wolthat, die ſie dem Verſtand zu danken
haben, der die mechaniſchen Kuͤnſte erfunden, Wiſſenſchaften und Geſetze ausgedacht
hat. Sollen aber die Menſchen dieſe herlichen Fruͤchte des Verſtandes recht genießen,
und in dem großen geſellſchaftlichen Leben gluͤklich ſeyn, ſo muͤſſen geſellſchaftliche
Tugenden; ſo muß Gefuͤhl fuͤr ſittliche Ordnung, fuͤr das Schoͤne und Gute in
die Gemuͤther gepflanzet werden.
Man betrachte den Zuſtand vieler großen Voͤlker, bey denen der Verſtand wol
angebaut iſt; wo die mechaniſchen Kuͤnſte und die Wiſſenſchaften zu einer betraͤcht-
lichen Vollkommenheit geſtiegen ſind, und frage ſich ſelbſt, ob dieſe Voͤlker gluͤklich
ſeyen? Bey der Unterſuchung warum ſie es nicht ſind, findet man, daß es ihnen
an den Nerven der Seele, an dem lebhaften Gefuͤhl des Schoͤnen und Guten fehlet;
man findet ſie zu traͤg ſich der Unordnung zu wiederſetzen; zu gefuͤhllos den Mangel
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. III. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/3>, abgerufen am 21.11.2024.
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