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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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für Gründe dienet. Jn diesem Ton und mit nicht
geringerer Scharfsinnigkeit haben in Frankreich
(*) Art
poetique.
Boileau (*), und in England Pope (**) von der
(**) Es-
say on Cri-
ticism.
Dichtkunst geschrieben.

Von den unzähligen in die Poetik einschlagenden
dogmatischen Schriften, enthalten die in der Anmer-
kung hierunten [Spaltenumbruch] (+) angeführten, das gründlichste
und wichtigste, was über diese Materien bis dahin
entwikelt worden.

Dichtungskraft.
(Schöne Künste.)

Das Vermögen, Vorstellungen von Gegenständen
der Sinnen und der innern Empfindung, die man nie
unmittelbar gefühlt hat, in sich hervorzubringen.
Jeder Mensch besitzt dieses Vermögen mehr oder
weniger, und vielleicht ist niemand, der nicht nach
dem Beyspiel der Dinge, die er empfunden oder er-
fahren hat, andre, die gar nicht vorhanden sind,
sich einbilde; aber den Künstlern ist sie in einem
vorzüglichen Grad nothwendig.

Da sie uns die sinnlichen Gegenstände nicht eben
so vorstellen, wie sie dieselben aus der Erfahrung
haben, sondern so, wie sie dieselben zu einer desto
lebhaftern Würkung gern empfunden hätten, so
müssen sie einen ziemlichen Grad der Fertigkeit haben,
solche Gegenstände nach ihren Absichten zu bilden.
Auch müssen sie Dinge, die nicht sinnlich sind, unter
ähnlichen sinnlichen Gestalten darstellen, um das,
was der Verstand schweer oder nicht lebhaft genug
fassen würde, vermittelst der Einbildungskraft leb-
haft zu machen; sie müssen also sinnliche Gegen-
stände, die genaue Abbildungen nicht sinnlicher Vor-
stellungen sind, erdichten können. Unter den Künst-
lern hat der Dichter dieses Vermögen im höchsten
Grad nöthig, weil er den weitesten Umfang der
Vorstellungen zu bearbeiten sucht, und besonders auch
deswegen, weil er niemals für die Sinnen, son-
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dern für die Einbildungskraft arbeitet; daher er
denn schlechterdings nöthig hat, Gegenstände zu er-
dichten, die der Einbildungskraft sinnlich darstellen,
was auf die unmittelbarste Weise sich blos auf den
Verstand bezieht. Es ist also nicht ohne Grund ge-
schehen, daß ihm in unsrer Sprache der Namen Dich-
ter
vorzüglich beygelegt worden, ob er gleich auch
andern Künstlern zukommt.

Durch die Dichtungskraft bekommen abgezogene
und schweere Begriffe ein körperliches Wesen,
wodurch sie lebhaft und leicht faßlich; durch sie
bekommen Charaktere, Sitten, Handlungen und
Begebenheiten den höchsten Grad der Wahrschein-
lichkeit, indem jedes einzele dadurch in sein rechtes
Licht gesetzt, und die Wahrheit des ganzen augen-
scheinlicher wird. Denn das, was würklich geschieht,
ist, wie schon Aristoteles angemerkt hat, nicht immer
das wahrscheinlichste; es läßt uns im Zweifel
entweder über die Beschaffenheit der Sache, oder
über ihre Ursachen: auch ist es nicht immer das,
was in seiner Art die stärkste Würkung auf uns
macht. Durch glükliche Erdichtungen hat Homer
in der Person des Ulysses einen vollkommen weisen
und in allen Anschlägen richtig handelnden Mann,
in der Person des Achilles einen unüberwindlichen
Helden, abgebildet. Durch die Dichtungskraft ha-
ben wir die lebhaftesten und reizendsten Vorstellun-
gen, von der Seeligkeit des gottesfürchtigen und un-
schuldigen Lebens der Patriarchen, von der Glük-
seeligkeit des goldnen Weltalters; durch sie schreken
uns die fürchterlichen Vorstellungen von der Hölle,
die der Gottlose in seiner Seele herumträgt; durch
sie wird das geistliche Wesen der Dinge uns sicht-
bar. (++) Der Dichtungskraft haben wir die grossen
und erhabenen Formen des Phidias und andrer grie-
chischer Künstler, die erstaunlichen Charaktere in ei-
nigen Trauerspielen des Shakespear, die reizen-
den Muster der Tugend in den Schriften des Ri-

chard-
(+) Della ragion poetica Libri due di Vicentio Gra-
vina.
Muratori della perfetta poesia.
Reflexions sur la poesie & la peinture par l'abbe
du Bos.

Von deutschen Schriften:
Die critischen Werke von Bodmer und von Brei-
tinger.
Homes Grundsätze der Critik.
[Spaltenumbruch] Ramlers, Batteux.
Schlegels Abhandlungen, die seinem übersetzten Bat-
teux beygefügt sind.
(++) La favola e l'esser delle cose trassormato in genl
humani ed e la verita travestita in sembianza popolare:
perche il poeta da corpo a i concetti, e con animar l'in-
sensato, ed avvolger di corpo lo spirito, converte in imma-
gini visibili le contemplazioni eccitate dalla filosophia.
Gravina L. I. c.
9.
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[Spaltenumbruch]

Dic
fuͤr Gruͤnde dienet. Jn dieſem Ton und mit nicht
geringerer Scharfſinnigkeit haben in Frankreich
(*) Art
poetique.
Boileau (*), und in England Pope (**) von der
(**) Eſ-
ſay on Cri-
ticiſm.
Dichtkunſt geſchrieben.

Von den unzaͤhligen in die Poetik einſchlagenden
dogmatiſchen Schriften, enthalten die in der Anmer-
kung hierunten [Spaltenumbruch] (†) angefuͤhrten, das gruͤndlichſte
und wichtigſte, was uͤber dieſe Materien bis dahin
entwikelt worden.

Dichtungskraft.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Das Vermoͤgen, Vorſtellungen von Gegenſtaͤnden
der Sinnen und der innern Empfindung, die man nie
unmittelbar gefuͤhlt hat, in ſich hervorzubringen.
Jeder Menſch beſitzt dieſes Vermoͤgen mehr oder
weniger, und vielleicht iſt niemand, der nicht nach
dem Beyſpiel der Dinge, die er empfunden oder er-
fahren hat, andre, die gar nicht vorhanden ſind,
ſich einbilde; aber den Kuͤnſtlern iſt ſie in einem
vorzuͤglichen Grad nothwendig.

Da ſie uns die ſinnlichen Gegenſtaͤnde nicht eben
ſo vorſtellen, wie ſie dieſelben aus der Erfahrung
haben, ſondern ſo, wie ſie dieſelben zu einer deſto
lebhaftern Wuͤrkung gern empfunden haͤtten, ſo
muͤſſen ſie einen ziemlichen Grad der Fertigkeit haben,
ſolche Gegenſtaͤnde nach ihren Abſichten zu bilden.
Auch muͤſſen ſie Dinge, die nicht ſinnlich ſind, unter
aͤhnlichen ſinnlichen Geſtalten darſtellen, um das,
was der Verſtand ſchweer oder nicht lebhaft genug
faſſen wuͤrde, vermittelſt der Einbildungskraft leb-
haft zu machen; ſie muͤſſen alſo ſinnliche Gegen-
ſtaͤnde, die genaue Abbildungen nicht ſinnlicher Vor-
ſtellungen ſind, erdichten koͤnnen. Unter den Kuͤnſt-
lern hat der Dichter dieſes Vermoͤgen im hoͤchſten
Grad noͤthig, weil er den weiteſten Umfang der
Vorſtellungen zu bearbeiten ſucht, und beſonders auch
deswegen, weil er niemals fuͤr die Sinnen, ſon-
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dern fuͤr die Einbildungskraft arbeitet; daher er
denn ſchlechterdings noͤthig hat, Gegenſtaͤnde zu er-
dichten, die der Einbildungskraft ſinnlich darſtellen,
was auf die unmittelbarſte Weiſe ſich blos auf den
Verſtand bezieht. Es iſt alſo nicht ohne Grund ge-
ſchehen, daß ihm in unſrer Sprache der Namen Dich-
ter
vorzuͤglich beygelegt worden, ob er gleich auch
andern Kuͤnſtlern zukommt.

Durch die Dichtungskraft bekommen abgezogene
und ſchweere Begriffe ein koͤrperliches Weſen,
wodurch ſie lebhaft und leicht faßlich; durch ſie
bekommen Charaktere, Sitten, Handlungen und
Begebenheiten den hoͤchſten Grad der Wahrſchein-
lichkeit, indem jedes einzele dadurch in ſein rechtes
Licht geſetzt, und die Wahrheit des ganzen augen-
ſcheinlicher wird. Denn das, was wuͤrklich geſchieht,
iſt, wie ſchon Ariſtoteles angemerkt hat, nicht immer
das wahrſcheinlichſte; es laͤßt uns im Zweifel
entweder uͤber die Beſchaffenheit der Sache, oder
uͤber ihre Urſachen: auch iſt es nicht immer das,
was in ſeiner Art die ſtaͤrkſte Wuͤrkung auf uns
macht. Durch gluͤkliche Erdichtungen hat Homer
in der Perſon des Ulyſſes einen vollkommen weiſen
und in allen Anſchlaͤgen richtig handelnden Mann,
in der Perſon des Achilles einen unuͤberwindlichen
Helden, abgebildet. Durch die Dichtungskraft ha-
ben wir die lebhafteſten und reizendſten Vorſtellun-
gen, von der Seeligkeit des gottesfuͤrchtigen und un-
ſchuldigen Lebens der Patriarchen, von der Gluͤk-
ſeeligkeit des goldnen Weltalters; durch ſie ſchreken
uns die fuͤrchterlichen Vorſtellungen von der Hoͤlle,
die der Gottloſe in ſeiner Seele herumtraͤgt; durch
ſie wird das geiſtliche Weſen der Dinge uns ſicht-
bar. (††) Der Dichtungskraft haben wir die groſſen
und erhabenen Formen des Phidias und andrer grie-
chiſcher Kuͤnſtler, die erſtaunlichen Charaktere in ei-
nigen Trauerſpielen des Shakeſpear, die reizen-
den Muſter der Tugend in den Schriften des Ri-

chard-
(†) Della ragion poetica Libri due di Vicentio Gra-
vina.
Muratori della perfetta poeſia.
Reflexions ſur la poeſie & la peinture par l’abbé
du Bos.

Von deutſchen Schriften:
Die critiſchen Werke von Bodmer und von Brei-
tinger.
Homes Grundſaͤtze der Critik.
[Spaltenumbruch] Ramlers, Batteux.
Schlegels Abhandlungen, die ſeinem uͤberſetzten Bat-
teux beygefuͤgt ſind.
(††) La favola é l’eſſer delle coſe trasſormato in genl
humani ed é la verita traveſtita in ſembianza popolare:
perche il poeta da corpo a i concetti, e con animar l’in-
ſenſato, ed avvolger di corpo lo ſpirito, converte in imma-
gini viſibili le contemplazioni eccitate dalla filoſophia.
Gravina L. I. c.
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[259/0271] Dic Dic fuͤr Gruͤnde dienet. Jn dieſem Ton und mit nicht geringerer Scharfſinnigkeit haben in Frankreich Boileau (*), und in England Pope (**) von der Dichtkunſt geſchrieben. (*) Art poetique. (**) Eſ- ſay on Cri- ticiſm. Von den unzaͤhligen in die Poetik einſchlagenden dogmatiſchen Schriften, enthalten die in der Anmer- kung hierunten (†) angefuͤhrten, das gruͤndlichſte und wichtigſte, was uͤber dieſe Materien bis dahin entwikelt worden. Dichtungskraft. (Schoͤne Kuͤnſte.) Das Vermoͤgen, Vorſtellungen von Gegenſtaͤnden der Sinnen und der innern Empfindung, die man nie unmittelbar gefuͤhlt hat, in ſich hervorzubringen. Jeder Menſch beſitzt dieſes Vermoͤgen mehr oder weniger, und vielleicht iſt niemand, der nicht nach dem Beyſpiel der Dinge, die er empfunden oder er- fahren hat, andre, die gar nicht vorhanden ſind, ſich einbilde; aber den Kuͤnſtlern iſt ſie in einem vorzuͤglichen Grad nothwendig. Da ſie uns die ſinnlichen Gegenſtaͤnde nicht eben ſo vorſtellen, wie ſie dieſelben aus der Erfahrung haben, ſondern ſo, wie ſie dieſelben zu einer deſto lebhaftern Wuͤrkung gern empfunden haͤtten, ſo muͤſſen ſie einen ziemlichen Grad der Fertigkeit haben, ſolche Gegenſtaͤnde nach ihren Abſichten zu bilden. Auch muͤſſen ſie Dinge, die nicht ſinnlich ſind, unter aͤhnlichen ſinnlichen Geſtalten darſtellen, um das, was der Verſtand ſchweer oder nicht lebhaft genug faſſen wuͤrde, vermittelſt der Einbildungskraft leb- haft zu machen; ſie muͤſſen alſo ſinnliche Gegen- ſtaͤnde, die genaue Abbildungen nicht ſinnlicher Vor- ſtellungen ſind, erdichten koͤnnen. Unter den Kuͤnſt- lern hat der Dichter dieſes Vermoͤgen im hoͤchſten Grad noͤthig, weil er den weiteſten Umfang der Vorſtellungen zu bearbeiten ſucht, und beſonders auch deswegen, weil er niemals fuͤr die Sinnen, ſon- dern fuͤr die Einbildungskraft arbeitet; daher er denn ſchlechterdings noͤthig hat, Gegenſtaͤnde zu er- dichten, die der Einbildungskraft ſinnlich darſtellen, was auf die unmittelbarſte Weiſe ſich blos auf den Verſtand bezieht. Es iſt alſo nicht ohne Grund ge- ſchehen, daß ihm in unſrer Sprache der Namen Dich- ter vorzuͤglich beygelegt worden, ob er gleich auch andern Kuͤnſtlern zukommt. Durch die Dichtungskraft bekommen abgezogene und ſchweere Begriffe ein koͤrperliches Weſen, wodurch ſie lebhaft und leicht faßlich; durch ſie bekommen Charaktere, Sitten, Handlungen und Begebenheiten den hoͤchſten Grad der Wahrſchein- lichkeit, indem jedes einzele dadurch in ſein rechtes Licht geſetzt, und die Wahrheit des ganzen augen- ſcheinlicher wird. Denn das, was wuͤrklich geſchieht, iſt, wie ſchon Ariſtoteles angemerkt hat, nicht immer das wahrſcheinlichſte; es laͤßt uns im Zweifel entweder uͤber die Beſchaffenheit der Sache, oder uͤber ihre Urſachen: auch iſt es nicht immer das, was in ſeiner Art die ſtaͤrkſte Wuͤrkung auf uns macht. Durch gluͤkliche Erdichtungen hat Homer in der Perſon des Ulyſſes einen vollkommen weiſen und in allen Anſchlaͤgen richtig handelnden Mann, in der Perſon des Achilles einen unuͤberwindlichen Helden, abgebildet. Durch die Dichtungskraft ha- ben wir die lebhafteſten und reizendſten Vorſtellun- gen, von der Seeligkeit des gottesfuͤrchtigen und un- ſchuldigen Lebens der Patriarchen, von der Gluͤk- ſeeligkeit des goldnen Weltalters; durch ſie ſchreken uns die fuͤrchterlichen Vorſtellungen von der Hoͤlle, die der Gottloſe in ſeiner Seele herumtraͤgt; durch ſie wird das geiſtliche Weſen der Dinge uns ſicht- bar. (††) Der Dichtungskraft haben wir die groſſen und erhabenen Formen des Phidias und andrer grie- chiſcher Kuͤnſtler, die erſtaunlichen Charaktere in ei- nigen Trauerſpielen des Shakeſpear, die reizen- den Muſter der Tugend in den Schriften des Ri- chard- (†) Della ragion poetica Libri due di Vicentio Gra- vina. Muratori della perfetta poeſia. Reflexions ſur la poeſie & la peinture par l’abbé du Bos. Von deutſchen Schriften: Die critiſchen Werke von Bodmer und von Brei- tinger. Homes Grundſaͤtze der Critik. Ramlers, Batteux. Schlegels Abhandlungen, die ſeinem uͤberſetzten Bat- teux beygefuͤgt ſind. (††) La favola é l’eſſer delle coſe trasſormato in genl humani ed é la verita traveſtita in ſembianza popolare: perche il poeta da corpo a i concetti, e con animar l’in- ſenſato, ed avvolger di corpo lo ſpirito, converte in imma- gini viſibili le contemplazioni eccitate dalla filoſophia. Gravina L. I. c. 9. K k 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/271>, abgerufen am 24.11.2024.