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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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So bald dieser erste Keim der Dichtkunst die Men-
schen auf die Mittel, nützliche Wahrheiten durch einen
angenehmen Vortrag auszubreiten, aufmerksam ge-
macht hatte, entdekten sie auch, daß außer dem gut
abgemessenen Fall der Worte, die gute Einkleidung,
der feurige Ausdruk der Gedanken, und lebhafte
Bilder eine ähnliche Würkung thun, und so wurd
nach und nach die poetische Sprach entdeket und
gebildet. Vermuthlich sind die ersten poetischen Ver-
suche überall blos einzele Verse, wie unsre meiste
Sprüchwörter, oder kurze aus zwey oder drey Ver-
sen bestehende Sätze gewesen. Als die Kunst zu-
nahm, erfand man Mittel durch Allegorien und Fa-
beln das Volk zu lehren; Gesetze und was zur Re-
ligion gehörte, wurd in diese neue Sprache einge-
kleidet, und man hörte bald Lieder den patriotischen
Muth zu stärken. Die edelsten Seelen von lebhaf-
tem Genie wurden blos durch die Musen ermuntert
Lehrer und Anführer ihrer Mitbürger, und so
wurd die Dichtkunst zur Lehrerin und Führerin der
Menschen. Manche Nation erkannte den Nutzen
dieser Kunst auf die Gemüther zu würken so lebhaft,
daß sie die glüklichen Menschen, die sie besaßen, mit
besondern Vorzügen belohnten, und so kam die Ord-
nung der Profeten oder Barden auf.

Die wahre Geschichte der Dichtkunst nur von
einem einzigen Volke, wär ohne Zweifel zugleich
die Geschichte dieser Kunst bey jeder andern Na-
tion, und gewiß ein wichtiger Theil der allgemeinen
Geschichte des menschlichen Genies: aber sie fehlt
überall. Am meisten weiß man von dieser Ge-
schichte, in so fern sie die Griechen betrift. Man kann
sie in vier Hauptzeiten eintheilen, nach eben so viel
Gestalten, in denen sie sich gezeiget hat. Die erste
Zeit, von welcher alle Nachrichten fehlen, ist die,
darin sie angefangen hat aufzukeimen, da ihre Werke
Sittensprüche, oder auch sehr kurze Aeusserungen
irgend einer aufwallenden Leidenschaft gewesen, die
tanzend gesungen worden. Jn dieser Zeit war sie
noch keine Kunst; wer etwa bey einer Versamm-
lung ein ausserordentliches Feuer der Einbildungs-
kraft fühlte, der reitzte die andern zu unförmlichem
Gesang und Tanz, bey welchen der Gegenstand der
Leidenschaft in hüpfenden Worten angezeiget wurde.
So äussern sich gegenwärtig bey den noch nicht
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gesitteten Völkern in Canada die ersten Versuche
in Musik, Tanz und Poesie. Einige scharfsinnige
Männer haben in der mosaischen Geschichte der er-
sten Menschen noch Spuhren solcher unförmlichen
Gesänge entdeket. Aristoteles scheinet eben diesen
Begriff vom Anfang der Kunst gehabt zu haben, und
nennt diese ersten Versuche # (*)(*) Poe-
tic. c.
4.

oder Werke, die aus Jnstinkt, ohne Absicht, entstan-
den sind.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß schon in dieser
Zeit die poetischen Versuche Spuhren von dem ver-
schiedenen Charakter der drey Hauptgattungen, des
lyrischen, des epischen und des dramatischen Gedichts,
gezeiget haben. Die Karre des Thespis ist noch
nicht sehr weit von diesen rohen Gestalten der ent-
stehenden Dichtkunst entfernt; dennoch versichert
Plato, daß die ersten Versuche der Tragödie sehr
weit über die Zeiten des Thespis heraufsteigen. [Spaltenumbruch] (+)
Das lyrische scheinet natürlicher Weise die älteste
Gattung zu seyn, da es durch den Ausbruch der
Leidenschaften verursachet worden, und die Lustbar-
keiten, die jedes wilde Volk nach einem glüklichen
Streit anstellt, konnen auch Spuhren der nachher
entstandenen epischen Poesie gezeiget haben.

Auf diese erste Zeit folgte, vermuthlich nach einer
langen Reyhe von Jahren, die zweyte, in welcher
die scharfsinnigsten unter den Autoschediasmatisten,
oder den durch Jnstinkt gebildeten Poeten, über die
Form und Würkung der ersten Versuche nachgedacht,
und nun aus Absichten, entweder sich ein Ansehen
unter dem Volke zu geben, oder dasselbe nach ih-
rem Willen zu lenken, oder würklich aus väterlicher
Zuneigung ihm Kenntniß und Sitten beyzubringen,
sowol den Jnhalt, als den Vortrag nach überlegten
Regeln eingerichtet. Die Dichter dieser zweyten
Zeit scheinen Lehrer, Gesetzgeber, Häupter und Füh-
rer der Völker gewesen zu seyn. Jn diese Zeiten
möchte man, wiewol vielleicht schon etwas späth
herunter, die ersten Dichter setzen, die von den Grie-
chen nahmhaft gemacht werden, und deren Gesänge
unter der Nation aufbehalten worden. Orpheus
besang in dieser Zeit die Cosmogonie oder den Ur-
sprung der Welt, und sein von den Aegyptiern ge-
lerntes System der Theologie. Musäus sein Schüler
besang in der Redeart der Orakel, (in dunkeln Hexa-

metern)
(+) Pl. in dem Gespr. Mönos. #
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So bald dieſer erſte Keim der Dichtkunſt die Men-
ſchen auf die Mittel, nuͤtzliche Wahrheiten durch einen
angenehmen Vortrag auszubreiten, aufmerkſam ge-
macht hatte, entdekten ſie auch, daß außer dem gut
abgemeſſenen Fall der Worte, die gute Einkleidung,
der feurige Ausdruk der Gedanken, und lebhafte
Bilder eine aͤhnliche Wuͤrkung thun, und ſo wurd
nach und nach die poetiſche Sprach entdeket und
gebildet. Vermuthlich ſind die erſten poetiſchen Ver-
ſuche uͤberall blos einzele Verſe, wie unſre meiſte
Spruͤchwoͤrter, oder kurze aus zwey oder drey Ver-
ſen beſtehende Saͤtze geweſen. Als die Kunſt zu-
nahm, erfand man Mittel durch Allegorien und Fa-
beln das Volk zu lehren; Geſetze und was zur Re-
ligion gehoͤrte, wurd in dieſe neue Sprache einge-
kleidet, und man hoͤrte bald Lieder den patriotiſchen
Muth zu ſtaͤrken. Die edelſten Seelen von lebhaf-
tem Genie wurden blos durch die Muſen ermuntert
Lehrer und Anfuͤhrer ihrer Mitbuͤrger, und ſo
wurd die Dichtkunſt zur Lehrerin und Fuͤhrerin der
Menſchen. Manche Nation erkannte den Nutzen
dieſer Kunſt auf die Gemuͤther zu wuͤrken ſo lebhaft,
daß ſie die gluͤklichen Menſchen, die ſie beſaßen, mit
beſondern Vorzuͤgen belohnten, und ſo kam die Ord-
nung der Profeten oder Barden auf.

Die wahre Geſchichte der Dichtkunſt nur von
einem einzigen Volke, waͤr ohne Zweifel zugleich
die Geſchichte dieſer Kunſt bey jeder andern Na-
tion, und gewiß ein wichtiger Theil der allgemeinen
Geſchichte des menſchlichen Genies: aber ſie fehlt
uͤberall. Am meiſten weiß man von dieſer Ge-
ſchichte, in ſo fern ſie die Griechen betrift. Man kann
ſie in vier Hauptzeiten eintheilen, nach eben ſo viel
Geſtalten, in denen ſie ſich gezeiget hat. Die erſte
Zeit, von welcher alle Nachrichten fehlen, iſt die,
darin ſie angefangen hat aufzukeimen, da ihre Werke
Sittenſpruͤche, oder auch ſehr kurze Aeuſſerungen
irgend einer aufwallenden Leidenſchaft geweſen, die
tanzend geſungen worden. Jn dieſer Zeit war ſie
noch keine Kunſt; wer etwa bey einer Verſamm-
lung ein auſſerordentliches Feuer der Einbildungs-
kraft fuͤhlte, der reitzte die andern zu unfoͤrmlichem
Geſang und Tanz, bey welchen der Gegenſtand der
Leidenſchaft in huͤpfenden Worten angezeiget wurde.
So aͤuſſern ſich gegenwaͤrtig bey den noch nicht
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geſitteten Voͤlkern in Canada die erſten Verſuche
in Muſik, Tanz und Poeſie. Einige ſcharfſinnige
Maͤnner haben in der moſaiſchen Geſchichte der er-
ſten Menſchen noch Spuhren ſolcher unfoͤrmlichen
Geſaͤnge entdeket. Ariſtoteles ſcheinet eben dieſen
Begriff vom Anfang der Kunſt gehabt zu haben, und
nennt dieſe erſten Verſuche # (*)(*) Poe-
tic. c.
4.

oder Werke, die aus Jnſtinkt, ohne Abſicht, entſtan-
den ſind.

Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß ſchon in dieſer
Zeit die poetiſchen Verſuche Spuhren von dem ver-
ſchiedenen Charakter der drey Hauptgattungen, des
lyriſchen, des epiſchen und des dramatiſchen Gedichts,
gezeiget haben. Die Karre des Theſpis iſt noch
nicht ſehr weit von dieſen rohen Geſtalten der ent-
ſtehenden Dichtkunſt entfernt; dennoch verſichert
Plato, daß die erſten Verſuche der Tragoͤdie ſehr
weit uͤber die Zeiten des Theſpis heraufſteigen. [Spaltenumbruch] (†)
Das lyriſche ſcheinet natuͤrlicher Weiſe die aͤlteſte
Gattung zu ſeyn, da es durch den Ausbruch der
Leidenſchaften verurſachet worden, und die Luſtbar-
keiten, die jedes wilde Volk nach einem gluͤklichen
Streit anſtellt, konnen auch Spuhren der nachher
entſtandenen epiſchen Poeſie gezeiget haben.

Auf dieſe erſte Zeit folgte, vermuthlich nach einer
langen Reyhe von Jahren, die zweyte, in welcher
die ſcharfſinnigſten unter den Autoſchediasmatiſten,
oder den durch Jnſtinkt gebildeten Poeten, uͤber die
Form und Wuͤrkung der erſten Verſuche nachgedacht,
und nun aus Abſichten, entweder ſich ein Anſehen
unter dem Volke zu geben, oder daſſelbe nach ih-
rem Willen zu lenken, oder wuͤrklich aus vaͤterlicher
Zuneigung ihm Kenntniß und Sitten beyzubringen,
ſowol den Jnhalt, als den Vortrag nach uͤberlegten
Regeln eingerichtet. Die Dichter dieſer zweyten
Zeit ſcheinen Lehrer, Geſetzgeber, Haͤupter und Fuͤh-
rer der Voͤlker geweſen zu ſeyn. Jn dieſe Zeiten
moͤchte man, wiewol vielleicht ſchon etwas ſpaͤth
herunter, die erſten Dichter ſetzen, die von den Grie-
chen nahmhaft gemacht werden, und deren Geſaͤnge
unter der Nation aufbehalten worden. Orpheus
beſang in dieſer Zeit die Cosmogonie oder den Ur-
ſprung der Welt, und ſein von den Aegyptiern ge-
lerntes Syſtem der Theologie. Muſaͤus ſein Schuͤler
beſang in der Redeart der Orakel, (in dunkeln Hexa-

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(†) Pl. in dem Geſpr. Moͤnos. #
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[253/0265] Dic Dic So bald dieſer erſte Keim der Dichtkunſt die Men- ſchen auf die Mittel, nuͤtzliche Wahrheiten durch einen angenehmen Vortrag auszubreiten, aufmerkſam ge- macht hatte, entdekten ſie auch, daß außer dem gut abgemeſſenen Fall der Worte, die gute Einkleidung, der feurige Ausdruk der Gedanken, und lebhafte Bilder eine aͤhnliche Wuͤrkung thun, und ſo wurd nach und nach die poetiſche Sprach entdeket und gebildet. Vermuthlich ſind die erſten poetiſchen Ver- ſuche uͤberall blos einzele Verſe, wie unſre meiſte Spruͤchwoͤrter, oder kurze aus zwey oder drey Ver- ſen beſtehende Saͤtze geweſen. Als die Kunſt zu- nahm, erfand man Mittel durch Allegorien und Fa- beln das Volk zu lehren; Geſetze und was zur Re- ligion gehoͤrte, wurd in dieſe neue Sprache einge- kleidet, und man hoͤrte bald Lieder den patriotiſchen Muth zu ſtaͤrken. Die edelſten Seelen von lebhaf- tem Genie wurden blos durch die Muſen ermuntert Lehrer und Anfuͤhrer ihrer Mitbuͤrger, und ſo wurd die Dichtkunſt zur Lehrerin und Fuͤhrerin der Menſchen. Manche Nation erkannte den Nutzen dieſer Kunſt auf die Gemuͤther zu wuͤrken ſo lebhaft, daß ſie die gluͤklichen Menſchen, die ſie beſaßen, mit beſondern Vorzuͤgen belohnten, und ſo kam die Ord- nung der Profeten oder Barden auf. Die wahre Geſchichte der Dichtkunſt nur von einem einzigen Volke, waͤr ohne Zweifel zugleich die Geſchichte dieſer Kunſt bey jeder andern Na- tion, und gewiß ein wichtiger Theil der allgemeinen Geſchichte des menſchlichen Genies: aber ſie fehlt uͤberall. Am meiſten weiß man von dieſer Ge- ſchichte, in ſo fern ſie die Griechen betrift. Man kann ſie in vier Hauptzeiten eintheilen, nach eben ſo viel Geſtalten, in denen ſie ſich gezeiget hat. Die erſte Zeit, von welcher alle Nachrichten fehlen, iſt die, darin ſie angefangen hat aufzukeimen, da ihre Werke Sittenſpruͤche, oder auch ſehr kurze Aeuſſerungen irgend einer aufwallenden Leidenſchaft geweſen, die tanzend geſungen worden. Jn dieſer Zeit war ſie noch keine Kunſt; wer etwa bey einer Verſamm- lung ein auſſerordentliches Feuer der Einbildungs- kraft fuͤhlte, der reitzte die andern zu unfoͤrmlichem Geſang und Tanz, bey welchen der Gegenſtand der Leidenſchaft in huͤpfenden Worten angezeiget wurde. So aͤuſſern ſich gegenwaͤrtig bey den noch nicht geſitteten Voͤlkern in Canada die erſten Verſuche in Muſik, Tanz und Poeſie. Einige ſcharfſinnige Maͤnner haben in der moſaiſchen Geſchichte der er- ſten Menſchen noch Spuhren ſolcher unfoͤrmlichen Geſaͤnge entdeket. Ariſtoteles ſcheinet eben dieſen Begriff vom Anfang der Kunſt gehabt zu haben, und nennt dieſe erſten Verſuche # (*) oder Werke, die aus Jnſtinkt, ohne Abſicht, entſtan- den ſind. (*) Poe- tic. c. 4. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß ſchon in dieſer Zeit die poetiſchen Verſuche Spuhren von dem ver- ſchiedenen Charakter der drey Hauptgattungen, des lyriſchen, des epiſchen und des dramatiſchen Gedichts, gezeiget haben. Die Karre des Theſpis iſt noch nicht ſehr weit von dieſen rohen Geſtalten der ent- ſtehenden Dichtkunſt entfernt; dennoch verſichert Plato, daß die erſten Verſuche der Tragoͤdie ſehr weit uͤber die Zeiten des Theſpis heraufſteigen. (†) Das lyriſche ſcheinet natuͤrlicher Weiſe die aͤlteſte Gattung zu ſeyn, da es durch den Ausbruch der Leidenſchaften verurſachet worden, und die Luſtbar- keiten, die jedes wilde Volk nach einem gluͤklichen Streit anſtellt, konnen auch Spuhren der nachher entſtandenen epiſchen Poeſie gezeiget haben. Auf dieſe erſte Zeit folgte, vermuthlich nach einer langen Reyhe von Jahren, die zweyte, in welcher die ſcharfſinnigſten unter den Autoſchediasmatiſten, oder den durch Jnſtinkt gebildeten Poeten, uͤber die Form und Wuͤrkung der erſten Verſuche nachgedacht, und nun aus Abſichten, entweder ſich ein Anſehen unter dem Volke zu geben, oder daſſelbe nach ih- rem Willen zu lenken, oder wuͤrklich aus vaͤterlicher Zuneigung ihm Kenntniß und Sitten beyzubringen, ſowol den Jnhalt, als den Vortrag nach uͤberlegten Regeln eingerichtet. Die Dichter dieſer zweyten Zeit ſcheinen Lehrer, Geſetzgeber, Haͤupter und Fuͤh- rer der Voͤlker geweſen zu ſeyn. Jn dieſe Zeiten moͤchte man, wiewol vielleicht ſchon etwas ſpaͤth herunter, die erſten Dichter ſetzen, die von den Grie- chen nahmhaft gemacht werden, und deren Geſaͤnge unter der Nation aufbehalten worden. Orpheus beſang in dieſer Zeit die Cosmogonie oder den Ur- ſprung der Welt, und ſein von den Aegyptiern ge- lerntes Syſtem der Theologie. Muſaͤus ſein Schuͤler beſang in der Redeart der Orakel, (in dunkeln Hexa- metern) (†) Pl. in dem Geſpr. Moͤnos. # #. J i 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/265>, abgerufen am 24.11.2024.