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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Den
dene Oeffnung sieht man die dort begrabene Person,
mit allen Empfindungen der Seeligkeit, in welche
sie nebst ihrem Kinde nun soll versetzt werden, auf
dem Gesicht und in der ganzen Bewegung. Sie
trägt ihr Kind, das nun auch lebt, in dem linken
Arm, und mit dem rechten stößt sie den geborstenen
Grabstein in die Höhe, um aus dem Grabe heraus
zu steigen. Um den Grabstein stehen die Worte:
Hier bin ich Herr und das Kind, das du mir ge-
geben hast,
nebst dem Namen der Verstorbenen.

Wäre der Gebrauch öffentlicher Denkmäler so
allgemein, wie er seyn sollte, so wär es alsdenn der
Mühe werth, nach dem Beyspiel das Ludwig
der
XIV in Frankreich gegeben hat, in jedem Land
die Erfindung derselben, und die Aufsicht über die
Ausführung einer Gesellschaft gelehrter und in den
schönen Künsten erfahrner Männer aufzutragen.

Es ist kaum etwas, darin die heutigen Sitten
und Gewohnheiten sich von den ehemaligen Sitten
der Griechen weiter entfernen, als der Gebrauch
der Denkmäler. Man darf, um davon überzeu-
get zu seyn, nur den Pausanias lesen. Ein Grieche
konnte weder in den Städten noch auf den Land-
strassen tausend Schritte gehen, ohne ein wichtiges
Denkmal anzutreffen. Die Grabmäler wurden
nicht, wie itzt geschieht, an Oerter gesetzt, wo nie-
mand sich gerne verweilt, und wohin kein Mensch
geht um einen vergnügten Spatziergang zu thun,
sondern an die Landstrassen, wo sie niemanden un-
bemerkt bleiben konnten. Jn den Städten waren
alle öffentliche Plätze, alle Spatziergänge und ver-
schiedene besonders dazu aufgeführte Gebäude, mit
öffentlichen Denkmälern angefüllt; so daß ein Grie-
che nirgend wohin gehen konnte, da ihm nicht häu-
fige Gelegenheiten zu sehr ernsthaften und den Geist
erhöhenden Betrachtungen, vorkamen. Von der-
gleichen edeln und zugleich sehr angenehmen Veran-
staltungen sieht man gegenwärtig kaum noch hier
und da einige schwache Spuhren.

Denkspruch.
(Redende Künste.)

Ein kurzer in der Rede beyläufig angebrachter Satz,
der eine wichtige allgemeine Wahrheit enthält. Die-
[Spaltenumbruch]

Den
jenigen, denen lange Erfahrung und ein scharfes
Nachdenken grosse Kenntniß der Welt und der Men-
schen gegeben hat, pflegen jede vorkommende Sache
gegen die ihnen beywohnenden allgemeinen Begriffe
und Urtheile, als gegen einen Maaßstab zu halten,
um dadurch entweder ihre Begriffe zu berichtigen,
oder das besondere in einen allgemeinen Gesichtspunkt
zu bringen: und daher entstehen in ihren Reden, diese
allgemeine Anmerkungen, davon diejenigen, die wich-
tig genug sind, in beständigem Andenken behalten
zu werden, Denksprüche genennet werden. Orestes
findet bey seiner Zurückkunft nach Mycene seine
Schwester an einen armen Landmann verheyrathet,
der sich aber als ein großmüthiger Mensch, gegen
seine Gemahlin aufführet: Der Sohn des Agamem-
nons, von einem so edlen Verfahren gerührt, hält
dieses besondere Beyspiel, gegen ein allgemeines
Vorurtheil, und bricht dabey in diese Worte aus.
Wenn werden doch die Menschen klug genung
werden, das Vorurtheil abzulegen, den Adel der
Seele aus dem äusserlicben zu beurtheilen?
(*)(*) Eurip.
Electra
v.
383 f. f.

Auf diese Art entstehen die Denksprüche, indem man
das Besondere, das man gegenwärtig vor sich hat,
gegen das Allgemeine hält, das in den Begriffen und
Urtheilen der Menschen liegt.

Man hat zu allen Zeiten die Denksprüche als
einen wichtigen Theil der redenden Künste angese-
hen, ob sie gleich auch ofte, wegen des übertriebenen
Gebrauchs, in Mißcredit gekommen sind. Sue-
tonius
lobt den Augustus, daß er den kindischen
Gebrauch der Denksprüche
in seiner Schreibart ver-
mieden habe. [Spaltenumbruch] (+) Eine Gattung der asiatischen
Schreibart, die bey den strengsten Kunstrichtern
eben nicht im besten Ansehen stehet, unterscheidete
sich durch einen Ueberfluß solcher Denksprüche, die
aber in dieser Art mehr witzig und zierlich, als wich-
tig und groß waren. (++) Daß die Sache könne
übertrieben werden, und daß gemeine, erzwungene,
blos witzige Denksprüche, Flecken der Rede und
keine Schönheiten seyen, läßt sich gar leicht be-
greiffen. Allein dieses benimmt der Wichtigkeit der
Sache nichts, und kann uns nicht hindern, über
den Nutzen und den Gebrauch derselben einige An-
merkungen zu machen.

Die
(+) Genus eloquendi secutus est elegans, vitatis senten-
tlarum ineptiis. Oct. Aug. c.
86.
(++) Asiaticum (genus) adolescentiae magis quam sene-
[Spaltenumbruch] ctuti concessum, Genera autem duo sunt: unum sonten-
tiosum
& argutum, seutentiis, non tam gravibus & severis,
quam concinnis & venustis. Cicero de Clar. Orator. c.
9.

[Spaltenumbruch]

Den
dene Oeffnung ſieht man die dort begrabene Perſon,
mit allen Empfindungen der Seeligkeit, in welche
ſie nebſt ihrem Kinde nun ſoll verſetzt werden, auf
dem Geſicht und in der ganzen Bewegung. Sie
traͤgt ihr Kind, das nun auch lebt, in dem linken
Arm, und mit dem rechten ſtoͤßt ſie den geborſtenen
Grabſtein in die Hoͤhe, um aus dem Grabe heraus
zu ſteigen. Um den Grabſtein ſtehen die Worte:
Hier bin ich Herr und das Kind, das du mir ge-
geben haſt,
nebſt dem Namen der Verſtorbenen.

Waͤre der Gebrauch oͤffentlicher Denkmaͤler ſo
allgemein, wie er ſeyn ſollte, ſo waͤr es alsdenn der
Muͤhe werth, nach dem Beyſpiel das Ludwig
der
XIV in Frankreich gegeben hat, in jedem Land
die Erfindung derſelben, und die Aufſicht uͤber die
Ausfuͤhrung einer Geſellſchaft gelehrter und in den
ſchoͤnen Kuͤnſten erfahrner Maͤnner aufzutragen.

Es iſt kaum etwas, darin die heutigen Sitten
und Gewohnheiten ſich von den ehemaligen Sitten
der Griechen weiter entfernen, als der Gebrauch
der Denkmaͤler. Man darf, um davon uͤberzeu-
get zu ſeyn, nur den Pauſanias leſen. Ein Grieche
konnte weder in den Staͤdten noch auf den Land-
ſtraſſen tauſend Schritte gehen, ohne ein wichtiges
Denkmal anzutreffen. Die Grabmaͤler wurden
nicht, wie itzt geſchieht, an Oerter geſetzt, wo nie-
mand ſich gerne verweilt, und wohin kein Menſch
geht um einen vergnuͤgten Spatziergang zu thun,
ſondern an die Landſtraſſen, wo ſie niemanden un-
bemerkt bleiben konnten. Jn den Staͤdten waren
alle oͤffentliche Plaͤtze, alle Spatziergaͤnge und ver-
ſchiedene beſonders dazu aufgefuͤhrte Gebaͤude, mit
oͤffentlichen Denkmaͤlern angefuͤllt; ſo daß ein Grie-
che nirgend wohin gehen konnte, da ihm nicht haͤu-
fige Gelegenheiten zu ſehr ernſthaften und den Geiſt
erhoͤhenden Betrachtungen, vorkamen. Von der-
gleichen edeln und zugleich ſehr angenehmen Veran-
ſtaltungen ſieht man gegenwaͤrtig kaum noch hier
und da einige ſchwache Spuhren.

Denkſpruch.
(Redende Kuͤnſte.)

Ein kurzer in der Rede beylaͤufig angebrachter Satz,
der eine wichtige allgemeine Wahrheit enthaͤlt. Die-
[Spaltenumbruch]

Den
jenigen, denen lange Erfahrung und ein ſcharfes
Nachdenken groſſe Kenntniß der Welt und der Men-
ſchen gegeben hat, pflegen jede vorkommende Sache
gegen die ihnen beywohnenden allgemeinen Begriffe
und Urtheile, als gegen einen Maaßſtab zu halten,
um dadurch entweder ihre Begriffe zu berichtigen,
oder das beſondere in einen allgemeinen Geſichtspunkt
zu bringen: und daher entſtehen in ihren Reden, dieſe
allgemeine Anmerkungen, davon diejenigen, die wich-
tig genug ſind, in beſtaͤndigem Andenken behalten
zu werden, Denkſpruͤche genennet werden. Oreſtes
findet bey ſeiner Zuruͤckkunft nach Mycene ſeine
Schweſter an einen armen Landmann verheyrathet,
der ſich aber als ein großmuͤthiger Menſch, gegen
ſeine Gemahlin auffuͤhret: Der Sohn des Agamem-
nons, von einem ſo edlen Verfahren geruͤhrt, haͤlt
dieſes beſondere Beyſpiel, gegen ein allgemeines
Vorurtheil, und bricht dabey in dieſe Worte aus.
Wenn werden doch die Menſchen klug genung
werden, das Vorurtheil abzulegen, den Adel der
Seele aus dem aͤuſſerlicben zu beurtheilen?
(*)(*) Eurip.
Electra
v.
383 f. f.

Auf dieſe Art entſtehen die Denkſpruͤche, indem man
das Beſondere, das man gegenwaͤrtig vor ſich hat,
gegen das Allgemeine haͤlt, das in den Begriffen und
Urtheilen der Menſchen liegt.

Man hat zu allen Zeiten die Denkſpruͤche als
einen wichtigen Theil der redenden Kuͤnſte angeſe-
hen, ob ſie gleich auch ofte, wegen des uͤbertriebenen
Gebrauchs, in Mißcredit gekommen ſind. Sue-
tonius
lobt den Auguſtus, daß er den kindiſchen
Gebrauch der Denkſpruͤche
in ſeiner Schreibart ver-
mieden habe. [Spaltenumbruch] (†) Eine Gattung der aſiatiſchen
Schreibart, die bey den ſtrengſten Kunſtrichtern
eben nicht im beſten Anſehen ſtehet, unterſcheidete
ſich durch einen Ueberfluß ſolcher Denkſpruͤche, die
aber in dieſer Art mehr witzig und zierlich, als wich-
tig und groß waren. (††) Daß die Sache koͤnne
uͤbertrieben werden, und daß gemeine, erzwungene,
blos witzige Denkſpruͤche, Flecken der Rede und
keine Schoͤnheiten ſeyen, laͤßt ſich gar leicht be-
greiffen. Allein dieſes benimmt der Wichtigkeit der
Sache nichts, und kann uns nicht hindern, uͤber
den Nutzen und den Gebrauch derſelben einige An-
merkungen zu machen.

Die
(†) Genus eloquendi ſecutus eſt elegans, vitatis ſenten-
tlarum ineptiis. Oct. Aug. c.
86.
(††) Aſiaticum (genus) adoleſcentiae magis quam ſene-
[Spaltenumbruch] ctuti conceſſum, Genera autem duo ſunt: unum ſonten-
tioſum
& argutum, ſeutentiis, non tam gravibus & ſeveris,
quam concinnis & venuſtis. Cicero de Clar. Orator. c.
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[240/0252] Den Den dene Oeffnung ſieht man die dort begrabene Perſon, mit allen Empfindungen der Seeligkeit, in welche ſie nebſt ihrem Kinde nun ſoll verſetzt werden, auf dem Geſicht und in der ganzen Bewegung. Sie traͤgt ihr Kind, das nun auch lebt, in dem linken Arm, und mit dem rechten ſtoͤßt ſie den geborſtenen Grabſtein in die Hoͤhe, um aus dem Grabe heraus zu ſteigen. Um den Grabſtein ſtehen die Worte: Hier bin ich Herr und das Kind, das du mir ge- geben haſt, nebſt dem Namen der Verſtorbenen. Waͤre der Gebrauch oͤffentlicher Denkmaͤler ſo allgemein, wie er ſeyn ſollte, ſo waͤr es alsdenn der Muͤhe werth, nach dem Beyſpiel das Ludwig der XIV in Frankreich gegeben hat, in jedem Land die Erfindung derſelben, und die Aufſicht uͤber die Ausfuͤhrung einer Geſellſchaft gelehrter und in den ſchoͤnen Kuͤnſten erfahrner Maͤnner aufzutragen. Es iſt kaum etwas, darin die heutigen Sitten und Gewohnheiten ſich von den ehemaligen Sitten der Griechen weiter entfernen, als der Gebrauch der Denkmaͤler. Man darf, um davon uͤberzeu- get zu ſeyn, nur den Pauſanias leſen. Ein Grieche konnte weder in den Staͤdten noch auf den Land- ſtraſſen tauſend Schritte gehen, ohne ein wichtiges Denkmal anzutreffen. Die Grabmaͤler wurden nicht, wie itzt geſchieht, an Oerter geſetzt, wo nie- mand ſich gerne verweilt, und wohin kein Menſch geht um einen vergnuͤgten Spatziergang zu thun, ſondern an die Landſtraſſen, wo ſie niemanden un- bemerkt bleiben konnten. Jn den Staͤdten waren alle oͤffentliche Plaͤtze, alle Spatziergaͤnge und ver- ſchiedene beſonders dazu aufgefuͤhrte Gebaͤude, mit oͤffentlichen Denkmaͤlern angefuͤllt; ſo daß ein Grie- che nirgend wohin gehen konnte, da ihm nicht haͤu- fige Gelegenheiten zu ſehr ernſthaften und den Geiſt erhoͤhenden Betrachtungen, vorkamen. Von der- gleichen edeln und zugleich ſehr angenehmen Veran- ſtaltungen ſieht man gegenwaͤrtig kaum noch hier und da einige ſchwache Spuhren. Denkſpruch. (Redende Kuͤnſte.) Ein kurzer in der Rede beylaͤufig angebrachter Satz, der eine wichtige allgemeine Wahrheit enthaͤlt. Die- jenigen, denen lange Erfahrung und ein ſcharfes Nachdenken groſſe Kenntniß der Welt und der Men- ſchen gegeben hat, pflegen jede vorkommende Sache gegen die ihnen beywohnenden allgemeinen Begriffe und Urtheile, als gegen einen Maaßſtab zu halten, um dadurch entweder ihre Begriffe zu berichtigen, oder das beſondere in einen allgemeinen Geſichtspunkt zu bringen: und daher entſtehen in ihren Reden, dieſe allgemeine Anmerkungen, davon diejenigen, die wich- tig genug ſind, in beſtaͤndigem Andenken behalten zu werden, Denkſpruͤche genennet werden. Oreſtes findet bey ſeiner Zuruͤckkunft nach Mycene ſeine Schweſter an einen armen Landmann verheyrathet, der ſich aber als ein großmuͤthiger Menſch, gegen ſeine Gemahlin auffuͤhret: Der Sohn des Agamem- nons, von einem ſo edlen Verfahren geruͤhrt, haͤlt dieſes beſondere Beyſpiel, gegen ein allgemeines Vorurtheil, und bricht dabey in dieſe Worte aus. Wenn werden doch die Menſchen klug genung werden, das Vorurtheil abzulegen, den Adel der Seele aus dem aͤuſſerlicben zu beurtheilen? (*) Auf dieſe Art entſtehen die Denkſpruͤche, indem man das Beſondere, das man gegenwaͤrtig vor ſich hat, gegen das Allgemeine haͤlt, das in den Begriffen und Urtheilen der Menſchen liegt. (*) Eurip. Electra v. 383 f. f. Man hat zu allen Zeiten die Denkſpruͤche als einen wichtigen Theil der redenden Kuͤnſte angeſe- hen, ob ſie gleich auch ofte, wegen des uͤbertriebenen Gebrauchs, in Mißcredit gekommen ſind. Sue- tonius lobt den Auguſtus, daß er den kindiſchen Gebrauch der Denkſpruͤche in ſeiner Schreibart ver- mieden habe. (†) Eine Gattung der aſiatiſchen Schreibart, die bey den ſtrengſten Kunſtrichtern eben nicht im beſten Anſehen ſtehet, unterſcheidete ſich durch einen Ueberfluß ſolcher Denkſpruͤche, die aber in dieſer Art mehr witzig und zierlich, als wich- tig und groß waren. (††) Daß die Sache koͤnne uͤbertrieben werden, und daß gemeine, erzwungene, blos witzige Denkſpruͤche, Flecken der Rede und keine Schoͤnheiten ſeyen, laͤßt ſich gar leicht be- greiffen. Allein dieſes benimmt der Wichtigkeit der Sache nichts, und kann uns nicht hindern, uͤber den Nutzen und den Gebrauch derſelben einige An- merkungen zu machen. Die (†) Genus eloquendi ſecutus eſt elegans, vitatis ſenten- tlarum ineptiis. Oct. Aug. c. 86. (††) Aſiaticum (genus) adoleſcentiae magis quam ſene- ctuti conceſſum, Genera autem duo ſunt: unum ſonten- tioſum & argutum, ſeutentiis, non tam gravibus & ſeveris, quam concinnis & venuſtis. Cicero de Clar. Orator. c. 9.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/252>, abgerufen am 24.11.2024.