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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Cop Cou
Nothwendigkeit gesetzt, auf alles genau Achtung
zu geben, dadurch entdekt man Schönheiten und
Fehler, die sonst | nicht würden bemerkt worden
seyn. Diese darzustellen, muß der Copiste noth-
wendig selbst mit der ganzen Anstrengung des
Geistes, den Geheimnissen der Kunst nachspühren.
Man bekommt dadurch eine Fertigkeit sowol das
Schöne als das Fehlerhafte schneller zu entde-
ken, die äusseren und inneren Sinnen werden ge-
schärft.

Nach dem Zeugniß verschiedener Künstler, ent-
dekt man oft erst bey der sechsten oder siebenten
Nachzeichnung gewisser Werke, Schönheiten, die
man bey dem vorhergehenden Copiren noch über-
sehen hatte. Jndem man aber die vornehmsten
Werke der Kunst copirt, lernt man nach und nach
so denken, und sich so ausdrüken, wie die grossen
Meister gethan haben. Wer aber durch Copiren
seinen Geschmak und seine Fertigkeiten zur Voll-
kommenheit bringen will, der muß nicht sclavisch
copiren. Er muß sich nicht vorsetzen, die Hand-
griffe der Originalmeister, das Mechanische der
Kunst allein zu errathen, sondern vielmehr sich be-
streben, ihren Geist und ihren Geschmak sich zu zu-
eignen. Man muß nicht suchen Copeyen zu ma-
chen, die alles Aeusserliche der Originale an sich ha-
ben, sondern fürnehmlich den Geist derselben, auf
eine uns eigene Art zu erreichen suchen.

Corinthische Ordnung.
(Baukunst.)

Eine von den drey griechischen oder von den fünf
üblichen Säulenordnungen, welche an der corinthi-
(*) S.
Ordnung.
Corinthi-
sche Säule.
schen Säule zu erkennen ist. (*) Weil diese Säule
von allen die Zierlichste, aber auch zugleich die
schlankeste und schwächste von allen ist, so ist diese
ganze Säulenordnung auch am meisten verzieret,
und wird da gebraucht, wo die Pracht und Zierlich-
keit sich über die Festigkeit des Gebäudes etwas
ausnehmen sollen, nämlich an höhern Geschossen
prächtiger Gebäude; oder inwendig in den Verzie-
rungen der Sääle, oder überhaupt da, wo das
Gebäude mit einem reichen Ansehen zu bekleiden
ist, weil die Baukunst nichts reicheres, als diese
Ordnung hat.

Die ganze Ordnung, wenn Säulenstühle dabey
gebraucht werden, ist dreißig Model hoch, wovon
die Säulenstühle vier, die Säule selbst zwanzig,
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Cop
und das Gebälke sechs Model hoch sind. Das
Gebälke muß in dieser Ordnung mehr Zierrathen,
als alle andre haben, um mit der zierlichen Säule
überein zu stimmen. Der Fries kann mit Schnitz-
werk verziert werden. Auch haben die römischen
Baumeister fast alle runde Glieder des Gebälkes
mit Laubwerk verziert, welches wir aber nicht gut
heissen. Man muß die Feinigkeit dieser Ordnung
hauptsächlich darin suchen, daß man ihr die Ein-
mischung kleinerer Glieder mehr, als andern er-
laubet.

Der Name scheinet anzuzeigen, daß diese Ord-
nung in Corinth erfunden worden, und das Ueppige,
das sie einigermaassen an sich hat, kommt gut mit
der bekannten Ueppigkeit, wodurch diese Stadt sich
von allen griechischen Städten ausgezeichnet hat,
überein. Nach Winkelmanns Bemerkung geschieht
der corinthische Säulen zum erstenmale, bey Ge-
legenheit des Tempelbaues zu Tegea, den Sco-
pas in der 96 Olympias übernommen hat, Er-
wähnung.

Corinthische Säule.

Die zierlichste Art Säulen, die in der Baukunst
gebraucht werden. Jhr Hauptcharakter ist ein
hohes Capiteel, mit drey übereinander stehenden
Reyhen Acanthus Blättern, und verschiedenen
zwischen denselben heraus wachsenden Stengeln ge-
ziert, die sich oben an dem Dekel in Schnekenfor-
men zusammenwikeln. Solcher Schneken sind auf
jeder Eke des Dekels zwey, und zwey auf jeder
Seite zwischen den Eken, und also in allem acht
Paar. Anstatt der Acanthns Blätter brauchen
einige Baumeister bisweilen auch andre, welche
aber dem Capiteel ein etwas schweereres Ansehen ge-
ben. Allein die dreyfache Reyhe der Blätter und
die acht Paar Schneken sind allemal das gewisseste
Kennzeichen dieser Säule.

Jn Ansehung ihrer Verhältniß gehört sie zu den
höhern Säulen. Jhre ganze Höhe ist ohngefehr
20 Model, der Fuß hat einen, das Capiteel zwey
und einen drittheil, das übrige ist für den Stam.
Man giebt dieser Säule entweder einen attischen
Fuß, oder einen eigenen der aus vielen Gliedern
besteht, deren Ordnung und Verhältnisse aber nicht
ganz bestimmt sind. Der Stam wird ofte mit Ca-
nelüren ausgehölt.

Weil

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Cop Cou
Nothwendigkeit geſetzt, auf alles genau Achtung
zu geben, dadurch entdekt man Schoͤnheiten und
Fehler, die ſonſt | nicht wuͤrden bemerkt worden
ſeyn. Dieſe darzuſtellen, muß der Copiſte noth-
wendig ſelbſt mit der ganzen Anſtrengung des
Geiſtes, den Geheimniſſen der Kunſt nachſpuͤhren.
Man bekommt dadurch eine Fertigkeit ſowol das
Schoͤne als das Fehlerhafte ſchneller zu entde-
ken, die aͤuſſeren und inneren Sinnen werden ge-
ſchaͤrft.

Nach dem Zeugniß verſchiedener Kuͤnſtler, ent-
dekt man oft erſt bey der ſechsten oder ſiebenten
Nachzeichnung gewiſſer Werke, Schoͤnheiten, die
man bey dem vorhergehenden Copiren noch uͤber-
ſehen hatte. Jndem man aber die vornehmſten
Werke der Kunſt copirt, lernt man nach und nach
ſo denken, und ſich ſo ausdruͤken, wie die groſſen
Meiſter gethan haben. Wer aber durch Copiren
ſeinen Geſchmak und ſeine Fertigkeiten zur Voll-
kommenheit bringen will, der muß nicht ſclaviſch
copiren. Er muß ſich nicht vorſetzen, die Hand-
griffe der Originalmeiſter, das Mechaniſche der
Kunſt allein zu errathen, ſondern vielmehr ſich be-
ſtreben, ihren Geiſt und ihren Geſchmak ſich zu zu-
eignen. Man muß nicht ſuchen Copeyen zu ma-
chen, die alles Aeuſſerliche der Originale an ſich ha-
ben, ſondern fuͤrnehmlich den Geiſt derſelben, auf
eine uns eigene Art zu erreichen ſuchen.

Corinthiſche Ordnung.
(Baukunſt.)

Eine von den drey griechiſchen oder von den fuͤnf
uͤblichen Saͤulenordnungen, welche an der corinthi-
(*) S.
Ordnung.
Corinthi-
ſche Saͤule.
ſchen Saͤule zu erkennen iſt. (*) Weil dieſe Saͤule
von allen die Zierlichſte, aber auch zugleich die
ſchlankeſte und ſchwaͤchſte von allen iſt, ſo iſt dieſe
ganze Saͤulenordnung auch am meiſten verzieret,
und wird da gebraucht, wo die Pracht und Zierlich-
keit ſich uͤber die Feſtigkeit des Gebaͤudes etwas
ausnehmen ſollen, naͤmlich an hoͤhern Geſchoſſen
praͤchtiger Gebaͤude; oder inwendig in den Verzie-
rungen der Saͤaͤle, oder uͤberhaupt da, wo das
Gebaͤude mit einem reichen Anſehen zu bekleiden
iſt, weil die Baukunſt nichts reicheres, als dieſe
Ordnung hat.

Die ganze Ordnung, wenn Saͤulenſtuͤhle dabey
gebraucht werden, iſt dreißig Model hoch, wovon
die Saͤulenſtuͤhle vier, die Saͤule ſelbſt zwanzig,
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Cop
und das Gebaͤlke ſechs Model hoch ſind. Das
Gebaͤlke muß in dieſer Ordnung mehr Zierrathen,
als alle andre haben, um mit der zierlichen Saͤule
uͤberein zu ſtimmen. Der Fries kann mit Schnitz-
werk verziert werden. Auch haben die roͤmiſchen
Baumeiſter faſt alle runde Glieder des Gebaͤlkes
mit Laubwerk verziert, welches wir aber nicht gut
heiſſen. Man muß die Feinigkeit dieſer Ordnung
hauptſaͤchlich darin ſuchen, daß man ihr die Ein-
miſchung kleinerer Glieder mehr, als andern er-
laubet.

Der Name ſcheinet anzuzeigen, daß dieſe Ord-
nung in Corinth erfunden worden, und das Ueppige,
das ſie einigermaaſſen an ſich hat, kommt gut mit
der bekannten Ueppigkeit, wodurch dieſe Stadt ſich
von allen griechiſchen Staͤdten ausgezeichnet hat,
uͤberein. Nach Winkelmanns Bemerkung geſchieht
der corinthiſche Saͤulen zum erſtenmale, bey Ge-
legenheit des Tempelbaues zu Tegea, den Sco-
pas in der 96 Olympias uͤbernommen hat, Er-
waͤhnung.

Corinthiſche Saͤule.

Die zierlichſte Art Saͤulen, die in der Baukunſt
gebraucht werden. Jhr Hauptcharakter iſt ein
hohes Capiteel, mit drey uͤbereinander ſtehenden
Reyhen Acanthus Blaͤttern, und verſchiedenen
zwiſchen denſelben heraus wachſenden Stengeln ge-
ziert, die ſich oben an dem Dekel in Schnekenfor-
men zuſammenwikeln. Solcher Schneken ſind auf
jeder Eke des Dekels zwey, und zwey auf jeder
Seite zwiſchen den Eken, und alſo in allem acht
Paar. Anſtatt der Acanthns Blaͤtter brauchen
einige Baumeiſter bisweilen auch andre, welche
aber dem Capiteel ein etwas ſchweereres Anſehen ge-
ben. Allein die dreyfache Reyhe der Blaͤtter und
die acht Paar Schneken ſind allemal das gewiſſeſte
Kennzeichen dieſer Saͤule.

Jn Anſehung ihrer Verhaͤltniß gehoͤrt ſie zu den
hoͤhern Saͤulen. Jhre ganze Hoͤhe iſt ohngefehr
20 Model, der Fuß hat einen, das Capiteel zwey
und einen drittheil, das uͤbrige iſt fuͤr den Stam.
Man giebt dieſer Saͤule entweder einen attiſchen
Fuß, oder einen eigenen der aus vielen Gliedern
beſteht, deren Ordnung und Verhaͤltniſſe aber nicht
ganz beſtimmt ſind. Der Stam wird ofte mit Ca-
neluͤren ausgehoͤlt.

Weil
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[232/0244] Cop Cou Cop Nothwendigkeit geſetzt, auf alles genau Achtung zu geben, dadurch entdekt man Schoͤnheiten und Fehler, die ſonſt | nicht wuͤrden bemerkt worden ſeyn. Dieſe darzuſtellen, muß der Copiſte noth- wendig ſelbſt mit der ganzen Anſtrengung des Geiſtes, den Geheimniſſen der Kunſt nachſpuͤhren. Man bekommt dadurch eine Fertigkeit ſowol das Schoͤne als das Fehlerhafte ſchneller zu entde- ken, die aͤuſſeren und inneren Sinnen werden ge- ſchaͤrft. Nach dem Zeugniß verſchiedener Kuͤnſtler, ent- dekt man oft erſt bey der ſechsten oder ſiebenten Nachzeichnung gewiſſer Werke, Schoͤnheiten, die man bey dem vorhergehenden Copiren noch uͤber- ſehen hatte. Jndem man aber die vornehmſten Werke der Kunſt copirt, lernt man nach und nach ſo denken, und ſich ſo ausdruͤken, wie die groſſen Meiſter gethan haben. Wer aber durch Copiren ſeinen Geſchmak und ſeine Fertigkeiten zur Voll- kommenheit bringen will, der muß nicht ſclaviſch copiren. Er muß ſich nicht vorſetzen, die Hand- griffe der Originalmeiſter, das Mechaniſche der Kunſt allein zu errathen, ſondern vielmehr ſich be- ſtreben, ihren Geiſt und ihren Geſchmak ſich zu zu- eignen. Man muß nicht ſuchen Copeyen zu ma- chen, die alles Aeuſſerliche der Originale an ſich ha- ben, ſondern fuͤrnehmlich den Geiſt derſelben, auf eine uns eigene Art zu erreichen ſuchen. Corinthiſche Ordnung. (Baukunſt.) Eine von den drey griechiſchen oder von den fuͤnf uͤblichen Saͤulenordnungen, welche an der corinthi- ſchen Saͤule zu erkennen iſt. (*) Weil dieſe Saͤule von allen die Zierlichſte, aber auch zugleich die ſchlankeſte und ſchwaͤchſte von allen iſt, ſo iſt dieſe ganze Saͤulenordnung auch am meiſten verzieret, und wird da gebraucht, wo die Pracht und Zierlich- keit ſich uͤber die Feſtigkeit des Gebaͤudes etwas ausnehmen ſollen, naͤmlich an hoͤhern Geſchoſſen praͤchtiger Gebaͤude; oder inwendig in den Verzie- rungen der Saͤaͤle, oder uͤberhaupt da, wo das Gebaͤude mit einem reichen Anſehen zu bekleiden iſt, weil die Baukunſt nichts reicheres, als dieſe Ordnung hat. (*) S. Ordnung. Corinthi- ſche Saͤule. Die ganze Ordnung, wenn Saͤulenſtuͤhle dabey gebraucht werden, iſt dreißig Model hoch, wovon die Saͤulenſtuͤhle vier, die Saͤule ſelbſt zwanzig, und das Gebaͤlke ſechs Model hoch ſind. Das Gebaͤlke muß in dieſer Ordnung mehr Zierrathen, als alle andre haben, um mit der zierlichen Saͤule uͤberein zu ſtimmen. Der Fries kann mit Schnitz- werk verziert werden. Auch haben die roͤmiſchen Baumeiſter faſt alle runde Glieder des Gebaͤlkes mit Laubwerk verziert, welches wir aber nicht gut heiſſen. Man muß die Feinigkeit dieſer Ordnung hauptſaͤchlich darin ſuchen, daß man ihr die Ein- miſchung kleinerer Glieder mehr, als andern er- laubet. Der Name ſcheinet anzuzeigen, daß dieſe Ord- nung in Corinth erfunden worden, und das Ueppige, das ſie einigermaaſſen an ſich hat, kommt gut mit der bekannten Ueppigkeit, wodurch dieſe Stadt ſich von allen griechiſchen Staͤdten ausgezeichnet hat, uͤberein. Nach Winkelmanns Bemerkung geſchieht der corinthiſche Saͤulen zum erſtenmale, bey Ge- legenheit des Tempelbaues zu Tegea, den Sco- pas in der 96 Olympias uͤbernommen hat, Er- waͤhnung. Corinthiſche Saͤule. Die zierlichſte Art Saͤulen, die in der Baukunſt gebraucht werden. Jhr Hauptcharakter iſt ein hohes Capiteel, mit drey uͤbereinander ſtehenden Reyhen Acanthus Blaͤttern, und verſchiedenen zwiſchen denſelben heraus wachſenden Stengeln ge- ziert, die ſich oben an dem Dekel in Schnekenfor- men zuſammenwikeln. Solcher Schneken ſind auf jeder Eke des Dekels zwey, und zwey auf jeder Seite zwiſchen den Eken, und alſo in allem acht Paar. Anſtatt der Acanthns Blaͤtter brauchen einige Baumeiſter bisweilen auch andre, welche aber dem Capiteel ein etwas ſchweereres Anſehen ge- ben. Allein die dreyfache Reyhe der Blaͤtter und die acht Paar Schneken ſind allemal das gewiſſeſte Kennzeichen dieſer Saͤule. Jn Anſehung ihrer Verhaͤltniß gehoͤrt ſie zu den hoͤhern Saͤulen. Jhre ganze Hoͤhe iſt ohngefehr 20 Model, der Fuß hat einen, das Capiteel zwey und einen drittheil, das uͤbrige iſt fuͤr den Stam. Man giebt dieſer Saͤule entweder einen attiſchen Fuß, oder einen eigenen der aus vielen Gliedern beſteht, deren Ordnung und Verhaͤltniſſe aber nicht ganz beſtimmt ſind. Der Stam wird ofte mit Ca- neluͤren ausgehoͤlt. Weil

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/244>, abgerufen am 27.11.2024.