Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Com Will man also den Charakter und die Beschaffen- Aristoteles giebt von der Comödie einen Begriff, Es kann von ungemeinem Nutzen seyn, wenn Com daß selbst Plautus und Moliere nirgend fürtreflichersind, als wo sie ernsthaft gewesen. Man lasse also der spottenden und lachenden Comödie ihren Werth, und behalte die Schaubühne auch für diejenige offen, die ohne Lachen, durch edlere Gemählde ergözet, die uns die menschliche Natur auf der schönen und an- muthigen Seite zeiget. Auch lasse sich niemand durch die Besorgniß ei- Die Grundregel, die der comische |Dichter bestän- den-
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Com Will man alſo den Charakter und die Beſchaffen- Ariſtoteles giebt von der Comoͤdie einen Begriff, Es kann von ungemeinem Nutzen ſeyn, wenn Com daß ſelbſt Plautus und Moliere nirgend fuͤrtreflicherſind, als wo ſie ernſthaft geweſen. Man laſſe alſo der ſpottenden und lachenden Comoͤdie ihren Werth, und behalte die Schaubuͤhne auch fuͤr diejenige offen, die ohne Lachen, durch edlere Gemaͤhlde ergoͤzet, die uns die menſchliche Natur auf der ſchoͤnen und an- muthigen Seite zeiget. Auch laſſe ſich niemand durch die Beſorgniß ei- Die Grundregel, die der comiſche |Dichter beſtaͤn- den-
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Wir haben hinlaͤngliche Erfahrung, daß ver-<lb/> nuͤnftige und tugendhafte Handlungen, natuͤrliche<lb/> Sitten, Charaktere, in denen nichts ungereimtes,<lb/> nichts verkehrtes iſt, uns ſehr vergnuͤgen koͤnnen;<lb/> und wir ſehen, daß ſchon die roͤmiſche Comoͤdie ſich<lb/> dieſes edlern Stoffes bedienet hat. Die ſittliche Welt<lb/> hat mehrere Seiten, von denen wir ſie mit Vergnuͤ-<lb/> gen anſehen. Selbſt die blos thieriſche Natur hat<lb/> in Handlungen und Sitten ſchon etwas ergoͤzendes<lb/> fuͤr uns: warum ſollte es nicht weit mehr intereſ-<lb/> ſant fuͤr uns ſeyn, Menſchen bey den ſo mannigfal-<lb/> tigen Vorfallenheiten des Lebens handeln zu ſehen?<lb/> Jedes ſittliche Gemaͤhlde, das uns Menſchen nach<lb/> ihren wahren Charakteren zeiget, jede Scene des<lb/> Lebens, wobey wir die Empfindungen, Gedanken,<lb/> Anſchlaͤge, Unternehmungen der Menſchen ruhig<lb/> beobachten koͤnnen, iſt fuͤr einen nachdenkenden Zu-<lb/> ſchauer ein ergoͤzender Anblik. 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Com
Com
Will man alſo den Charakter und die Beſchaffen-
heit der Comoͤdie naͤher beſtimmen, ſo daͤrf man nur
mit einiger Aufmerkſamkeit unterſuchen, was uns
in den Handlungen, in den Sitten, in den Charak-
teren und dem Betragen der Menſchen auf eine
lehrreiche Art unterhaͤlt, und, ohne den Grund des
Herzens aufzuruͤhren, intereſſant iſt.
Ariſtoteles giebt von der Comoͤdie einen Begriff,
der dem, was ſie zu ſeiner Zeit war, angemeſſen
iſt. Er ſetzt ihr Weſen in der Vorſtellung deſſen,
was in dem Charakter und in den Handlungen der
Menſchen ungereimt, tadelhaft und verkehrt iſt.
Wir ſetzen es in der Abbildung deſſen, was das
menſchliche Leben, was die Charaktere, die Sitten,
die Handlungen ergoͤzendes und unterhaltendes ha-
ben. Wir haben hinlaͤngliche Erfahrung, daß ver-
nuͤnftige und tugendhafte Handlungen, natuͤrliche
Sitten, Charaktere, in denen nichts ungereimtes,
nichts verkehrtes iſt, uns ſehr vergnuͤgen koͤnnen;
und wir ſehen, daß ſchon die roͤmiſche Comoͤdie ſich
dieſes edlern Stoffes bedienet hat. Die ſittliche Welt
hat mehrere Seiten, von denen wir ſie mit Vergnuͤ-
gen anſehen. Selbſt die blos thieriſche Natur hat
in Handlungen und Sitten ſchon etwas ergoͤzendes
fuͤr uns: warum ſollte es nicht weit mehr intereſ-
ſant fuͤr uns ſeyn, Menſchen bey den ſo mannigfal-
tigen Vorfallenheiten des Lebens handeln zu ſehen?
Jedes ſittliche Gemaͤhlde, das uns Menſchen nach
ihren wahren Charakteren zeiget, jede Scene des
Lebens, wobey wir die Empfindungen, Gedanken,
Anſchlaͤge, Unternehmungen der Menſchen ruhig
beobachten koͤnnen, iſt fuͤr einen nachdenkenden Zu-
ſchauer ein ergoͤzender Anblik. Warum wollten wir
dem Mahler der Sitten verbieten, uns andre, als
laͤcherliche Scenen vorzulegen? Warum ſollten wir
die liebenswuͤrdige und die vernuͤnftige Seite des
Menſchen mit weniger Luſt ſehen, als die verkehrte
und ungereimte?
Es kann von ungemeinem Nutzen ſeyn, wenn
man uns die Thorheiten der Menſchen in ihrem
wahren Lichte zeiget; (*) ſollte es aber weniger nuͤtz-
lich ſeyn, uns durch Beyſpiele von vernuͤnftigem
Betragen, von edler Sinnesart, von Rechtſchaffen-
heit, von jeder im taͤglichen Leben noͤthigen Tugend
ſo zu ruͤhren, daß wir dauerhafte Eindruͤke davon
behielten? Man kann unmoͤglich befuͤrchten, daß
das Schoͤne und Gute weniger Eindruk zum Ver-
gnuͤgen mache, als das Laͤcherliche, da wir ſehen,
daß ſelbſt Plautus und Moliere nirgend fuͤrtreflicher
ſind, als wo ſie ernſthaft geweſen. Man laſſe alſo
der ſpottenden und lachenden Comoͤdie ihren Werth,
und behalte die Schaubuͤhne auch fuͤr diejenige offen,
die ohne Lachen, durch edlere Gemaͤhlde ergoͤzet, die
uns die menſchliche Natur auf der ſchoͤnen und an-
muthigen Seite zeiget.
(*) S.
Laͤcherlich.
Spott.
Auch laſſe ſich niemand durch die Beſorgniß ei-
niger Kunſtrichter, daß durch die edlere Comoͤdie
die Schranken zwiſchen dem tragiſchen und dem
comiſchen weggenommen werden und zweydeutige
Mittelarten entſtehen, die man weder zur Comoͤ-
die noch Tragoͤdie rechnen koͤnne, irre machen.
Die Natur kennt ſolche Schranken nicht. So we-
nig man uns ſagen kann, wo das Hohe ſich von
dem Niedrigen, das Groſſe von dem Kleinen trennt,
oder auf welcher Stelle das Lied an die Ode, oder
die Ode an das Lied graͤnzet, ſo wenig hat die Cri-
tik das Recht nach den Graͤnzen zwiſchen der Co-
moͤdie und der Tragoͤdie zu fragen. Sie ſind nicht
in dem Weſen, ſondern in Graden unterſchieden.
Die Grundregel, die der comiſche |Dichter beſtaͤn-
dig vor Augen haben muß, iſt nicht die, nach wel-
cher Ariſtophanes ſich allein ſcheint gerichtet zu ha-
ben: Spotte und erweke Verachtung und Gelaͤch-
ter; ſondern dieſe: Mahle Sitten und zeichne
Charaktere, die fuͤr denkende und empfindende
Menſchen intereſſant ſind. Dem zufolge wird er uͤber
die Sitten der Menſchen in allen Staͤnden genaue
Beobachtungen anſtellen, um ſie mit Wahrheit und
Lebhaftigkeit abzubilden. Was er darin tadelhaft
findet, wird er durch feinen Spott zu beſſern ſu-
chen, was er ſchoͤn und edel bemerkt, wird er in ei-
nem reizenden Lichte zeigen, und wir werden durch
ſeine Gemaͤhlde empfinden lernen, was in den Sit-
ten frey, ſchoͤn, edel, groß, und was darin unge-
reimt, gezwungen, ſclaviſch, niedrig und laͤcherlich
iſt. Wir werden unſre Zeitgenoſſen, und jeder ſich
ſelbſt in einem Lichte ſehen, das uns verſtattet, ein
unpartheyiſches Urtheil uͤber unſre Sitten zu faͤllen.
Er wird ſich ein Hauptſtudium daraus machen, die
verſchiedenen Charaktere der Menſchen genau ken-
nen zu lernen; er wird bemerken, wie dieſelben durch
die Lebensart, durch die aͤuſſerlichen Verbindungen,
durch den Wolſtand, durch Pflicht und durch andere
Umſtaͤnde modificirt werden. Er wird Charakter,
Pflicht, Leidenſchaften und Situationen der Men-
ſchen gegen einander in Streit bringen, und uns auf
den-
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