Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Col Daß überhaupt aller Orten mehr claßische Dichter, Colorit. (Mahlerey.) Mit diesem Namen bezeichnet man den Theil der Durch das Colorit unterscheidet sich das Gemählde Diejenigen, welche eine ausschliessende Liebe zur Col also, in sichtbaren Dingen, durch das vollkommeneColorit, erreicht wird. Man sieht den Laocoon in Marmor, und wird durch diesen Anblik mit man- cherley Empfindungen durchdrungen: aber wenn itzt dieses Bild zu leben anfienge? Wenn wir die Blässe der Todesangst im Gesicht und am ganzen Leibe, die blutrünstigen Streifen auf der Haut; wenn wir die Spuren des schäumenden Gifts der Schlange (*) durch ekelhafte Farben ausgedrukt sä-(*) Perfu- sus sanie vittas, atroque Veneno Virg. hen: alsdenn würden wir auch das heftige Keuchen zu hören glauben, und der ganze Eindruk würde alsdenn die höchste Stärke haben. Die Niobe in Marmor erwekt das tiefste Mitleiden; aber wenn man sie mit der Farbe des Todesschrekens, mit dem starren und unaussprechlich verwirrten Auge sähe, so könnte niemand den Anblik aushalten. Man stelle sich bey dem, was Apollo im Belvedere ent- zükendes hat, die Farbe einer göttlichen Jugend, und den Glanz, der dem Vater des Lichts zukommt, noch dabey vor: was würde man alsdenn empfinden? Also bleibt dem vollkommenen Colorit sein Werth auch bey dem höchsten Reiz der Form: es ist ein eben so wesentlicher Theil der Kunst als die Zeichnung. Aber worin besteht seine Vollkommenheit? durch Um so viel schweerer wird das Studium des Colo- tragung Erster Theil. D d
[Spaltenumbruch]
Col Daß uͤberhaupt aller Orten mehr claßiſche Dichter, Colorit. (Mahlerey.) Mit dieſem Namen bezeichnet man den Theil der Durch das Colorit unterſcheidet ſich das Gemaͤhlde Diejenigen, welche eine ausſchlieſſende Liebe zur Col alſo, in ſichtbaren Dingen, durch das vollkommeneColorit, erreicht wird. Man ſieht den Laocoon in Marmor, und wird durch dieſen Anblik mit man- cherley Empfindungen durchdrungen: aber wenn itzt dieſes Bild zu leben anfienge? Wenn wir die Blaͤſſe der Todesangſt im Geſicht und am ganzen Leibe, die blutruͤnſtigen Streifen auf der Haut; wenn wir die Spuren des ſchaͤumenden Gifts der Schlange (*) durch ekelhafte Farben ausgedrukt ſaͤ-(*) Perfu- ſus ſanie vittas, atroque Veneno Virg. hen: alsdenn wuͤrden wir auch das heftige Keuchen zu hoͤren glauben, und der ganze Eindruk wuͤrde alsdenn die hoͤchſte Staͤrke haben. Die Niobe in Marmor erwekt das tiefſte Mitleiden; aber wenn man ſie mit der Farbe des Todesſchrekens, mit dem ſtarren und unausſprechlich verwirrten Auge ſaͤhe, ſo koͤnnte niemand den Anblik aushalten. Man ſtelle ſich bey dem, was Apollo im Belvedere ent- zuͤkendes hat, die Farbe einer goͤttlichen Jugend, und den Glanz, der dem Vater des Lichts zukommt, noch dabey vor: was wuͤrde man alsdenn empfinden? Alſo bleibt dem vollkommenen Colorit ſein Werth auch bey dem hoͤchſten Reiz der Form: es iſt ein eben ſo weſentlicher Theil der Kunſt als die Zeichnung. Aber worin beſteht ſeine Vollkommenheit? durch Um ſo viel ſchweerer wird das Studium des Colo- tragung Erſter Theil. D d
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Col
Col
Daß uͤberhaupt aller Orten mehr claßiſche Dichter,
als andre claßiſche Schriftſteller erſcheinen, laͤßt ſich
leicht begreifen. Die Einbildungskraft und die Em-
pfindungen zeigen ſich allemal fruͤher, als der Verſtand
und der Beobachtungsgeiſt; alſo koͤnnen ſie in einer
Nation auch eher zur Vollkommenheit kommen, als
die Talente, die nur auf eine gewiſſe Groͤſſe des Ver-
ſtandes gegruͤndet ſind. Daher iſt es, wie Cicero
angemerkt hat, (*) leichter, einen groſſen Dichter,
als einen groſſen Redner anzutreffen.
(*) Multo
tamen
pauciores
oratores
quam poe-
tae boni
reperien-
tur. Cic.
de Orat.
Lib. I.
Colorit.
(Mahlerey.)
Mit dieſem Namen bezeichnet man den Theil der
Mahlerey, der jedem Gegenſtand die Farben zu ge-
ben weiß, die er haben muß, damit das Ganze,
als ein in der Natur vorhandener Gegenſtand in
die Augen falle. Jn dieſem Sinn kann man den
Begriff des Worts Colorit durch Farbengebung aus-
druͤken. Man verſteht aber auch durch dieſen Aus-
druk, die Beſchaffenheit aller im Gemaͤhlde ſichtbaren
Farben in ihrem Zuſammenhang und ihrer Wuͤrkung
auf das Auge.
Durch das Colorit unterſcheidet ſich das Gemaͤhlde
von der bloſſen Zeichnung und dem Kupferſtich.
Waͤr in der ſichtbaren Natur alles einfaͤrbig, wie in
den Kupferſtichen, ſo wuͤrde ſie ohne Zweifel eines
groſſen Theils ihrer Schoͤnheit beraubt ſeyn. Denn
in den Farben liegt ein Reiz, der ofte nicht viel ge-
ringer iſt, als der, der von der Schoͤnheit der For-
men herruͤhret. Jn der lebloſen Natur uͤbertrift die
untergehende Sonne jede andre Schoͤnheit, und der
lachenden Morgenroͤthe kommt an Anmuthigkeit
nichts gleich. Selbſt in der hoͤhern Natur ſtrei-
tet der Reiz der Farben auf einem jugendlich ſchoͤ-
nen Geſichte, mit dem Reiz der Bildung um den
Vorzug. Auch andre Arten der Kraͤfte, die in
Bildung und Form liegen, finden ſich vielleicht eben
ſo ſtark in den Farben. Die Todtenblaͤſſe allein iſt
vermoͤgend Mitleiden zu erweken, und gewiſſe wi-
derſtehende, die hoͤchſte Mißharmonie erwekende
Farben, Abſcheu.
Diejenigen, welche eine ausſchlieſſende Liebe zur
Zeichnung haben, und deswegen das Colorit gering
ſchaͤtzen, verkennen die Schoͤnheit in Farben, und
bedenken nicht, daß in den Kuͤnſten der hoͤchſte Grad
der Kraft von der Taͤuſchung herkomme (*), die nur
durch den vollkommenſten Ausdruk der Wahrheit;
alſo, in ſichtbaren Dingen, durch das vollkommene
Colorit, erreicht wird. Man ſieht den Laocoon
in Marmor, und wird durch dieſen Anblik mit man-
cherley Empfindungen durchdrungen: aber wenn
itzt dieſes Bild zu leben anfienge? Wenn wir die
Blaͤſſe der Todesangſt im Geſicht und am ganzen
Leibe, die blutruͤnſtigen Streifen auf der Haut;
wenn wir die Spuren des ſchaͤumenden Gifts der
Schlange (*) durch ekelhafte Farben ausgedrukt ſaͤ-
hen: alsdenn wuͤrden wir auch das heftige Keuchen
zu hoͤren glauben, und der ganze Eindruk wuͤrde
alsdenn die hoͤchſte Staͤrke haben. Die Niobe in
Marmor erwekt das tiefſte Mitleiden; aber wenn
man ſie mit der Farbe des Todesſchrekens, mit dem
ſtarren und unausſprechlich verwirrten Auge ſaͤhe,
ſo koͤnnte niemand den Anblik aushalten. Man
ſtelle ſich bey dem, was Apollo im Belvedere ent-
zuͤkendes hat, die Farbe einer goͤttlichen Jugend, und
den Glanz, der dem Vater des Lichts zukommt, noch
dabey vor: was wuͤrde man alsdenn empfinden?
Alſo bleibt dem vollkommenen Colorit ſein Werth
auch bey dem hoͤchſten Reiz der Form: es iſt ein eben
ſo weſentlicher Theil der Kunſt als die Zeichnung.
(*) S.
Taͤuſchung
(*) Perfu-
ſus ſanie
vittas,
atroque
Veneno
Virg.
Aber worin beſteht ſeine Vollkommenheit? durch
welchen Weg, durch welches Studium gelangt der
Mahler zu ſicherer Kenntniß aller Kraͤfte deſſelben?
Dies iſt vielleicht die ſchweerſte Aufgabe aus der gan-
zen Kunſt. Ohne Zweifel waͤr es dem Titian ſelbſt
unmoͤglich geweſen, das, was er uͤber die Schoͤn-
heit und die Kraft des Colorits empfunden hat, aus-
zudruken. Da es uns ſo ſehr ſchweer wird, von
der Schoͤnheit in Formen irgend etwas beſtimmtes
zu erkennen, ob es gleich moͤglich iſt, von Formen
manchen deutlichen Begriff zu faſſen, ſo wird es
voͤllig unmoͤglich, die Schoͤnheit, die von Mi-
ſchung und Harmonie der Farben entſteht, zu be-
ſchreiben. Wir ſind, wie ein groſſer Kenner ſich
ausdrukt, mit den Verhaͤltniſſen des menſchlichen
Koͤrpers lange nicht ſo unbekannt, als mit den taͤg-
lichen Erſcheinungen in der Natur, und mit den
Spuhren eines wohlthaͤtigen Lichtes in Abſicht auf
die Mahlerey. (*) Niemand frage, wie die Far-
ben Liebe, Wolluſt, die lieblichſte Empfindung
einer ſanften Ruhe, ein paradieſiſches Gefuͤhl in der
Seele bewuͤrken. Man kann es fuͤhlen, aber nicht
beſchreiben.
(*) S.
von Hage-
dorn Betr.
uͤber die
Mahlerey
IV. Buch,
25. Betr.
Um ſo viel ſchweerer wird das Studium des Colo-
rits. Es iſt hier noch nicht die Frage von der Auf-
tragung
Erſter Theil. D d
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