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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Acc

Jedes vielsylbige Wort hat auch außer der Re-
de, wenn es allein ausgesprochen wird, einen Ac-
cent, dessen Würkung ist, daßelbe Wort von denen,
die vor oder nach ihm stehen könnten, abzulösen und
für sich zu einem ganzen zu machen, indem es
dadurch eine Erhöhung und Vertiefung, einen An-
(*) S.
Ganz.
fang und ein Ende bekommt (*) und also zu
einem Worte wird. Dieses läßt sich fühlen und
bedarff also keiner weitern Ausführung. Diese
Gattung wird der grammatische Accent genen-
net. Er wird in jeder Sprache blos durch den Ge-
brauch bestimmt, deßen Gründe schwerlich zu ent-
deken sind. Dieser Accent ist eine der Ursachen,
welche die Rede wolklingend machen, indem er sie
in Glieder abtheilt, und diesen Gliedern selbst
Manigfaltigkeit giebt, da in verschiedenen gleichsyl-
bigen Wörtern der Accent verschieden gesetzt wird.
So sind die viersylbigen Wörter Gerechtigkeit,
Wolthätigkeit, Philosophisch, Philosophie,

gleich große Glieder der Rede, aber von verschie-
denem Bau; indem eines den Accent auf der ersten,
ein anders auf der zweiten, eines auf der dritten und
eines auf der vierten Sylbe hat.

Die nächste Gattung des Accents ist diejenige,
welche zu deutlicher Bezeichnung des Sinnes der
Rede dienet und den Nachdruk gewißer Begriffe
bestimmt; man nennt dieses den oratorischen Accent.
Einsylbige Wörter haben keinen grammatischen
Accent, sie bekommen den Oratorischen, so bald
sie Begriffe bezeichnen, auf welche die Aufmerk-
samkeit besonders muß geführt werden. Jn viel-
sylbigen Wörtern wird der grammatische Accent
durch den Oratorischen verstärkt oder verschwächt,
oder gar aufgehoben und auf andre Sylben gelegt.
Jn der Redensart: er sey stark oder schwach, daran
liegt nichts,
bekommen die Wörter stark und schwach
kaum einen merklichen Accent: Sagt man aber,
ist er auch stark genug? -- oder: ist er wol
schwach genug?
-- so bekommen sie durch den Accent
einen Nachdruk. Jn dem Ausdruk: was unmög-
lich ist, wünscht kein verständiger Mensch,
behält
das Wort unmöglich seinen grammatischen Ac-
cent auf der ersten Sylbe, da in diesem Ausdruk --
unmöglich kann mein Freund mich verlaßen! --
der oratorische Accent auf die zweite Sylbe des
Worts unmöglich kommt. Wer im Zorn sagte --
unmöglich, oder möglich, es gilt gleich viel. --
der würde den oratorischen Accent auf den gram-
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Acc
matischen legen und die Sylbe un verstärken. Eine
besondere Art des oratorischen Accents ist der
Pathetische, welcher den Oratorischen noch ver-
stärkt. Dieser macht eigentlich das aus, was
wir den Ton nennen, davon besonders gehan-
delt wird. (*) Man kann nämlich einerley Reden(*) S. Ton
der Rede.

mit einerley oratorischen Accenten, dennoch so
verschieden vorbringen, daß sie ganz entgegen ge-
setzte Charaktere annehmen.

Von der Beobachtung der Accente hängt ein
großer Theil des Wolklangs ab. Der Redner und
der Dichter, der seine Worte und Redensarten so zu
setzen weis, daß alle Gattungen der Accente sich nicht
nur unter dem lesen selbst darbieten, sondern mit
den Gedanken selbst so genau verbunden sind, daß
sie nothwendig werden, ist unfehlbar wolklingend.
Denn daß der Wolklang mehr von den verschiede-
nen Accenten, als blos von der richtigen Beobach-
tung der Prosodie herkomme, scheinet eine ausge-
machte Sache zu seyn.

Accent in der Musik. Die verschiedene Gründe,
aus denen die Nothwendigkeit der Accente in der
Sprach erkennt wird, können auch auf die Accente
des Gesanges angewendet werden. Der Gesang ist
eine Sprache, die ihre Gedanken und ihre Perio-
den hat. Ohne Verschiedenheit des Nachdruks
der einzeln Töne und Mannigfaltigkeit darin, das
ist ohne Accente, hat kein Gesang statt. S. Gesang.
Das Ohr muß bald gereitzt, bald in seiner Span-
nung etwas gehemmt werden, itzt eine größere, denn
eine geringere Empfindung bey einerley Gattung des
Ausdruks haben. Die Accente, welche sowol ein-
zele Töne erheben oder dämpfen, als ganzen Fi-
guren mehr oder weniger Nachdruk geben, sind die
Mittel jene Würkungen zu erreichen.

Diese Accente sind, wie die in der gemeinen
Sprache, grammatische, oratorische und pathetische
Accente; sie müssen alle erst von dem Tonsetzer,
hernach in dem Vortrag von dem Sänger oder Spie-
ler auf das genaueste beobachtet werden. Die
grammatischen Accente in der Musik sind die lan-
gen und kräftigen Töne, welche die Haupttöne
jedes Accords ausmachen und die durch die Länge
und durch den Nachdruk, durch die mehrere Fühl-
barkeit, vor den andern, die durchgehende, den
Accord nicht angehende Töne sind, müssen unter-
schieden werden. Diese Töne fallen auf die gute
Zeit des Takts. Es ist aber schlechterdings

noth-
[Spaltenumbruch]
Acc

Jedes vielſylbige Wort hat auch außer der Re-
de, wenn es allein ausgeſprochen wird, einen Ac-
cent, deſſen Wuͤrkung iſt, daßelbe Wort von denen,
die vor oder nach ihm ſtehen koͤnnten, abzuloͤſen und
fuͤr ſich zu einem ganzen zu machen, indem es
dadurch eine Erhoͤhung und Vertiefung, einen An-
(*) S.
Ganz.
fang und ein Ende bekommt (*) und alſo zu
einem Worte wird. Dieſes laͤßt ſich fuͤhlen und
bedarff alſo keiner weitern Ausfuͤhrung. Dieſe
Gattung wird der grammatiſche Accent genen-
net. Er wird in jeder Sprache blos durch den Ge-
brauch beſtimmt, deßen Gruͤnde ſchwerlich zu ent-
deken ſind. Dieſer Accent iſt eine der Urſachen,
welche die Rede wolklingend machen, indem er ſie
in Glieder abtheilt, und dieſen Gliedern ſelbſt
Manigfaltigkeit giebt, da in verſchiedenen gleichſyl-
bigen Woͤrtern der Accent verſchieden geſetzt wird.
So ſind die vierſylbigen Woͤrter Gerechtigkeit,
Wolthaͤtigkeit, Philoſophiſch, Philoſophie,

gleich große Glieder der Rede, aber von verſchie-
denem Bau; indem eines den Accent auf der erſten,
ein anders auf der zweiten, eines auf der dritten und
eines auf der vierten Sylbe hat.

Die naͤchſte Gattung des Accents iſt diejenige,
welche zu deutlicher Bezeichnung des Sinnes der
Rede dienet und den Nachdruk gewißer Begriffe
beſtimmt; man nennt dieſes den oratoriſchen Accent.
Einſylbige Woͤrter haben keinen grammatiſchen
Accent, ſie bekommen den Oratoriſchen, ſo bald
ſie Begriffe bezeichnen, auf welche die Aufmerk-
ſamkeit beſonders muß gefuͤhrt werden. Jn viel-
ſylbigen Woͤrtern wird der grammatiſche Accent
durch den Oratoriſchen verſtaͤrkt oder verſchwaͤcht,
oder gar aufgehoben und auf andre Sylben gelegt.
Jn der Redensart: er ſey ſtark oder ſchwach, daran
liegt nichts,
bekommen die Woͤrter ſtark und ſchwach
kaum einen merklichen Accent: Sagt man aber,
iſt er auch ſtark genug? — oder: iſt er wol
ſchwach genug?
— ſo bekommen ſie durch den Accent
einen Nachdruk. Jn dem Ausdruk: was unmoͤg-
lich iſt, wuͤnſcht kein verſtaͤndiger Menſch,
behaͤlt
das Wort unmoͤglich ſeinen grammatiſchen Ac-
cent auf der erſten Sylbe, da in dieſem Ausdruk —
unmoͤglich kann mein Freund mich verlaßen!
der oratoriſche Accent auf die zweite Sylbe des
Worts unmoͤglich kommt. Wer im Zorn ſagte —
unmoͤglich, oder moͤglich, es gilt gleich viel.
der wuͤrde den oratoriſchen Accent auf den gram-
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Acc
matiſchen legen und die Sylbe un verſtaͤrken. Eine
beſondere Art des oratoriſchen Accents iſt der
Pathetiſche, welcher den Oratoriſchen noch ver-
ſtaͤrkt. Dieſer macht eigentlich das aus, was
wir den Ton nennen, davon beſonders gehan-
delt wird. (*) Man kann naͤmlich einerley Reden(*) S. Ton
der Rede.

mit einerley oratoriſchen Accenten, dennoch ſo
verſchieden vorbringen, daß ſie ganz entgegen ge-
ſetzte Charaktere annehmen.

Von der Beobachtung der Accente haͤngt ein
großer Theil des Wolklangs ab. Der Redner und
der Dichter, der ſeine Worte und Redensarten ſo zu
ſetzen weis, daß alle Gattungen der Accente ſich nicht
nur unter dem leſen ſelbſt darbieten, ſondern mit
den Gedanken ſelbſt ſo genau verbunden ſind, daß
ſie nothwendig werden, iſt unfehlbar wolklingend.
Denn daß der Wolklang mehr von den verſchiede-
nen Accenten, als blos von der richtigen Beobach-
tung der Proſodie herkomme, ſcheinet eine ausge-
machte Sache zu ſeyn.

Accent in der Muſik. Die verſchiedene Gruͤnde,
aus denen die Nothwendigkeit der Accente in der
Sprach erkennt wird, koͤnnen auch auf die Accente
des Geſanges angewendet werden. Der Geſang iſt
eine Sprache, die ihre Gedanken und ihre Perio-
den hat. Ohne Verſchiedenheit des Nachdruks
der einzeln Toͤne und Mannigfaltigkeit darin, das
iſt ohne Accente, hat kein Geſang ſtatt. S. Geſang.
Das Ohr muß bald gereitzt, bald in ſeiner Span-
nung etwas gehemmt werden, itzt eine groͤßere, denn
eine geringere Empfindung bey einerley Gattung des
Ausdruks haben. Die Accente, welche ſowol ein-
zele Toͤne erheben oder daͤmpfen, als ganzen Fi-
guren mehr oder weniger Nachdruk geben, ſind die
Mittel jene Wuͤrkungen zu erreichen.

Dieſe Accente ſind, wie die in der gemeinen
Sprache, grammatiſche, oratoriſche und pathetiſche
Accente; ſie muͤſſen alle erſt von dem Tonſetzer,
hernach in dem Vortrag von dem Saͤnger oder Spie-
ler auf das genaueſte beobachtet werden. Die
grammatiſchen Accente in der Muſik ſind die lan-
gen und kraͤftigen Toͤne, welche die Haupttoͤne
jedes Accords ausmachen und die durch die Laͤnge
und durch den Nachdruk, durch die mehrere Fuͤhl-
barkeit, vor den andern, die durchgehende, den
Accord nicht angehende Toͤne ſind, muͤſſen unter-
ſchieden werden. Dieſe Toͤne fallen auf die gute
Zeit des Takts. Es iſt aber ſchlechterdings

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[10/0022] Acc Acc Jedes vielſylbige Wort hat auch außer der Re- de, wenn es allein ausgeſprochen wird, einen Ac- cent, deſſen Wuͤrkung iſt, daßelbe Wort von denen, die vor oder nach ihm ſtehen koͤnnten, abzuloͤſen und fuͤr ſich zu einem ganzen zu machen, indem es dadurch eine Erhoͤhung und Vertiefung, einen An- fang und ein Ende bekommt (*) und alſo zu einem Worte wird. Dieſes laͤßt ſich fuͤhlen und bedarff alſo keiner weitern Ausfuͤhrung. Dieſe Gattung wird der grammatiſche Accent genen- net. Er wird in jeder Sprache blos durch den Ge- brauch beſtimmt, deßen Gruͤnde ſchwerlich zu ent- deken ſind. Dieſer Accent iſt eine der Urſachen, welche die Rede wolklingend machen, indem er ſie in Glieder abtheilt, und dieſen Gliedern ſelbſt Manigfaltigkeit giebt, da in verſchiedenen gleichſyl- bigen Woͤrtern der Accent verſchieden geſetzt wird. So ſind die vierſylbigen Woͤrter Gerechtigkeit, Wolthaͤtigkeit, Philoſophiſch, Philoſophie, gleich große Glieder der Rede, aber von verſchie- denem Bau; indem eines den Accent auf der erſten, ein anders auf der zweiten, eines auf der dritten und eines auf der vierten Sylbe hat. (*) S. Ganz. Die naͤchſte Gattung des Accents iſt diejenige, welche zu deutlicher Bezeichnung des Sinnes der Rede dienet und den Nachdruk gewißer Begriffe beſtimmt; man nennt dieſes den oratoriſchen Accent. Einſylbige Woͤrter haben keinen grammatiſchen Accent, ſie bekommen den Oratoriſchen, ſo bald ſie Begriffe bezeichnen, auf welche die Aufmerk- ſamkeit beſonders muß gefuͤhrt werden. Jn viel- ſylbigen Woͤrtern wird der grammatiſche Accent durch den Oratoriſchen verſtaͤrkt oder verſchwaͤcht, oder gar aufgehoben und auf andre Sylben gelegt. Jn der Redensart: er ſey ſtark oder ſchwach, daran liegt nichts, bekommen die Woͤrter ſtark und ſchwach kaum einen merklichen Accent: Sagt man aber, iſt er auch ſtark genug? — oder: iſt er wol ſchwach genug? — ſo bekommen ſie durch den Accent einen Nachdruk. Jn dem Ausdruk: was unmoͤg- lich iſt, wuͤnſcht kein verſtaͤndiger Menſch, behaͤlt das Wort unmoͤglich ſeinen grammatiſchen Ac- cent auf der erſten Sylbe, da in dieſem Ausdruk — unmoͤglich kann mein Freund mich verlaßen! — der oratoriſche Accent auf die zweite Sylbe des Worts unmoͤglich kommt. Wer im Zorn ſagte — unmoͤglich, oder moͤglich, es gilt gleich viel. — der wuͤrde den oratoriſchen Accent auf den gram- matiſchen legen und die Sylbe un verſtaͤrken. Eine beſondere Art des oratoriſchen Accents iſt der Pathetiſche, welcher den Oratoriſchen noch ver- ſtaͤrkt. Dieſer macht eigentlich das aus, was wir den Ton nennen, davon beſonders gehan- delt wird. (*) Man kann naͤmlich einerley Reden mit einerley oratoriſchen Accenten, dennoch ſo verſchieden vorbringen, daß ſie ganz entgegen ge- ſetzte Charaktere annehmen. (*) S. Ton der Rede. Von der Beobachtung der Accente haͤngt ein großer Theil des Wolklangs ab. Der Redner und der Dichter, der ſeine Worte und Redensarten ſo zu ſetzen weis, daß alle Gattungen der Accente ſich nicht nur unter dem leſen ſelbſt darbieten, ſondern mit den Gedanken ſelbſt ſo genau verbunden ſind, daß ſie nothwendig werden, iſt unfehlbar wolklingend. Denn daß der Wolklang mehr von den verſchiede- nen Accenten, als blos von der richtigen Beobach- tung der Proſodie herkomme, ſcheinet eine ausge- machte Sache zu ſeyn. Accent in der Muſik. Die verſchiedene Gruͤnde, aus denen die Nothwendigkeit der Accente in der Sprach erkennt wird, koͤnnen auch auf die Accente des Geſanges angewendet werden. Der Geſang iſt eine Sprache, die ihre Gedanken und ihre Perio- den hat. Ohne Verſchiedenheit des Nachdruks der einzeln Toͤne und Mannigfaltigkeit darin, das iſt ohne Accente, hat kein Geſang ſtatt. S. Geſang. Das Ohr muß bald gereitzt, bald in ſeiner Span- nung etwas gehemmt werden, itzt eine groͤßere, denn eine geringere Empfindung bey einerley Gattung des Ausdruks haben. Die Accente, welche ſowol ein- zele Toͤne erheben oder daͤmpfen, als ganzen Fi- guren mehr oder weniger Nachdruk geben, ſind die Mittel jene Wuͤrkungen zu erreichen. Dieſe Accente ſind, wie die in der gemeinen Sprache, grammatiſche, oratoriſche und pathetiſche Accente; ſie muͤſſen alle erſt von dem Tonſetzer, hernach in dem Vortrag von dem Saͤnger oder Spie- ler auf das genaueſte beobachtet werden. Die grammatiſchen Accente in der Muſik ſind die lan- gen und kraͤftigen Toͤne, welche die Haupttoͤne jedes Accords ausmachen und die durch die Laͤnge und durch den Nachdruk, durch die mehrere Fuͤhl- barkeit, vor den andern, die durchgehende, den Accord nicht angehende Toͤne ſind, muͤſſen unter- ſchieden werden. Dieſe Toͤne fallen auf die gute Zeit des Takts. Es iſt aber ſchlechterdings noth-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/22>, abgerufen am 24.11.2024.