Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Cho macht haben, könnte gar wol blos eine Würkungvon der Menge der Stimmen gewesen seyn. Die- ses zu begreifen darf man nur bedenken, wie un- endlich fürchterlicher ein Feldgeschrey eines ganzen Heeres sey, als ein ähnliches Geschrey von weni- gen Menschen. Wir wollen über die Chöre nur noch anmerken, Chor wird auch die Gesellschaft der Sänger Chor in den Kirchen, auch in grossen Musiksä- Choral. (Musik.) Ein vierstimmiger Gesang, der weder figurirt noch Cho etwas ruhigen Betrachtungen und Empfindungen,die insgemein den Charakter der Kirchenlieder aus- machen. Er ist einer grossen Rührung fähig, und scheinet zu ruhigen Empfindungen weit vorzügli- cher zu seyn, als der figurirte melismatische Ge- sang: wie denn überhaupt überaus wenig dazu ge- hört, sehr tiefe Empfindungen einer ruhigen Art zu erweken. (*) Wenn er aber seine ganze Kraft(*) S. Lieder. behalten soll, so muß durch den Gesang der Fall der Verse, und folglich das richtige Zeitmaas der Sylben, nicht verlohren gehen; nur das cadenzirte, zu abgemessene rythmische Wesen, welches unsre heutigen figurirten Tonstüke gemeiniglich gar zu sehr der Tanzmusik nähert, muß aus dem Choral gänz- lich wegbleiben. Der Choral wird allemal vierstimmig gesetzt, Der beste Choralgesang scheinet der zu seyn, der Jn den Chorälen richtet man sich noch nach den dern
[Spaltenumbruch] Cho macht haben, koͤnnte gar wol blos eine Wuͤrkungvon der Menge der Stimmen geweſen ſeyn. Die- ſes zu begreifen darf man nur bedenken, wie un- endlich fuͤrchterlicher ein Feldgeſchrey eines ganzen Heeres ſey, als ein aͤhnliches Geſchrey von weni- gen Menſchen. Wir wollen uͤber die Choͤre nur noch anmerken, Chor wird auch die Geſellſchaft der Saͤnger Chor in den Kirchen, auch in groſſen Muſikſaͤ- Choral. (Muſik.) Ein vierſtimmiger Geſang, der weder figurirt noch Cho etwas ruhigen Betrachtungen und Empfindungen,die insgemein den Charakter der Kirchenlieder aus- machen. Er iſt einer groſſen Ruͤhrung faͤhig, und ſcheinet zu ruhigen Empfindungen weit vorzuͤgli- cher zu ſeyn, als der figurirte melismatiſche Ge- ſang: wie denn uͤberhaupt uͤberaus wenig dazu ge- hoͤrt, ſehr tiefe Empfindungen einer ruhigen Art zu erweken. (*) Wenn er aber ſeine ganze Kraft(*) S. Lieder. behalten ſoll, ſo muß durch den Geſang der Fall der Verſe, und folglich das richtige Zeitmaas der Sylben, nicht verlohren gehen; nur das cadenzirte, zu abgemeſſene rythmiſche Weſen, welches unſre heutigen figurirten Tonſtuͤke gemeiniglich gar zu ſehr der Tanzmuſik naͤhert, muß aus dem Choral gaͤnz- lich wegbleiben. Der Choral wird allemal vierſtimmig geſetzt, Der beſte Choralgeſang ſcheinet der zu ſeyn, der Jn den Choraͤlen richtet man ſich noch nach den dern
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Cho
Cho
macht haben, koͤnnte gar wol blos eine Wuͤrkung
von der Menge der Stimmen geweſen ſeyn. Die-
ſes zu begreifen darf man nur bedenken, wie un-
endlich fuͤrchterlicher ein Feldgeſchrey eines ganzen
Heeres ſey, als ein aͤhnliches Geſchrey von weni-
gen Menſchen.
Wir wollen uͤber die Choͤre nur noch anmerken,
daß hiebey mehr, als irgend zu einem andern
Theile der Kunſt, groſſe Erfahrung von Seite des
Capellmeiſters erfodert werde. Wer nicht ungemein
ofte, bey verſchiedenen Gelegenheiten und an ganz
verſchiedenen Orten, in Kirchen, auf der Schau-
buͤhne, und im freyen, groſſe Choͤre, von abgeaͤn-
derten Plaͤtzen und Stellungen gehoͤrt hat, der
wird nie alle Vortheile kennen lernen, die, ſowol den
Satz, als die Ausfuͤhrung der Choͤre vollkommener
machen. Alſo muͤſſen ſich unerfahrne, ſo viel moͤg-
lich, enthalten, die Muſik in aller ihrer Pracht, ſo
wie in Choͤren geſchieht, zeigen zu wollen. Unter
den Deutſchen ſind Haͤndel und Graun die groͤßten
Meiſter hierin. Jhre Choͤre verdienen mit der
groͤßten Ueberlegung ſtudirt zu werden.
Chor wird auch die Geſellſchaft der Saͤnger
ſelbſt, die zu Auffuͤhrung einer groſſen Muſik be-
ſtimmt ſind, genennt. Jhr Vorſteher wird in Deutſch-
land insgemein der Præfectus Chori genennt.
Chor in den Kirchen, auch in groſſen Muſikſaͤ-
len, iſt der Ort, wo der Chor der Saͤnger ſteht um
die Muſik aufzufuͤhren. Es wuͤrde vortheilhaft fuͤr
die Muſik ſeyn, wenn ein Kenner von feinem Gehoͤr
und weitlaͤuftiger Erfahrung, ſeine Beobachtungen
uͤber die vortheilhafte oder nachtheilige Einrichtung
der zur Muſik beſtimmten Gebaͤude an den Tag
geben wuͤrde. Denn noch zur Zeit ſcheinen die Bau-
meiſter keine beſtimmte Regeln zu haben, nach de-
nen die Choͤre ſicher anzulegen waͤren.
Choral.
(Muſik.)
Ein vierſtimmiger Geſang, der weder figurirt noch
rythmiſch iſt. Er iſt geſetzt, um in Kirchen von der
ganzen Gemeinde abgeſungen zu werden. Man
nennt ihn auch den Gregorianiſchen Geſang, weil
Pabſt Gregorius der Groſſe ihn eingefuͤhrt haben
ſoll. Die Franzoſen nennen ihn plain chant und die
Jtaliaͤner Canto firmo. Er iſt der einfacheſte Ge-
ſang, der moͤglich iſt, und ſchiket ſich zu ſtillen, und
etwas ruhigen Betrachtungen und Empfindungen,
die insgemein den Charakter der Kirchenlieder aus-
machen. Er iſt einer groſſen Ruͤhrung faͤhig, und
ſcheinet zu ruhigen Empfindungen weit vorzuͤgli-
cher zu ſeyn, als der figurirte melismatiſche Ge-
ſang: wie denn uͤberhaupt uͤberaus wenig dazu ge-
hoͤrt, ſehr tiefe Empfindungen einer ruhigen Art
zu erweken. (*) Wenn er aber ſeine ganze Kraft
behalten ſoll, ſo muß durch den Geſang der Fall
der Verſe, und folglich das richtige Zeitmaas der
Sylben, nicht verlohren gehen; nur das cadenzirte,
zu abgemeſſene rythmiſche Weſen, welches unſre
heutigen figurirten Tonſtuͤke gemeiniglich gar zu ſehr
der Tanzmuſik naͤhert, muß aus dem Choral gaͤnz-
lich wegbleiben.
(*) S.
Lieder.
Der Choral wird allemal vierſtimmig geſetzt,
und jede der vier Stimmen iſt eine Hauptſtimme.
Dieſes macht ſeine Verfertigung, obgleich gar
wenig Erſindung dazu gehoͤrt, dem, der nicht ein
vollkommener Harmoniſte iſt, ſehr ſchweer; weil
bey dem langſamen und nachdruͤklichen Gange deſ-
ſelben, auch die kleineſte Unrichtigkeit in der Har-
monie ſehr fuͤhlbar wird. Man muß dabey mit
den Diſſonanzen ſparſam ſeyn, die ſich ohne dem zu
dem ſanften Affekt des Kirchengeſanges nicht ſo |gut,
als zu unruhigen Leidenſchaften ſchiken. Es iſt
moͤglich, daß ein blos zweyſtimmiger Choral, da
die Harmonie der Mittelſtimme etwa, wo es noͤthtg
iſt, durch die Orgel ausgefuͤllt wuͤrde, noch beſſere
Wuͤrkung thaͤte. Denn da die Stimmen doch, um
harmoniſche Fehler zu vermeiden, ſich gegen einan-
der bewegen muͤſſen: ſo ſcheinet es nicht natuͤrlich,
daß bey einerley Empfindung, einer mit der Stim-
me ſteigt, da der andre faͤllt, und der dritte auf der-
ſelben Hoͤhe ſtehen bleibt.
Der beſte Choralgeſang ſcheinet der zu ſeyn, der
am einfacheſten, durch kleinere diatoniſche Jnter-
valle fortſchreitet, und die wenigſten Diſſonanzen
hat, dabey aber die Geltung der Sylben auf das
genaueſte beobachtet wird.
Jn den Choraͤlen richtet man ſich noch nach den
alten Tonarten, den ſechs authentiſchen und ſo viel
plagaliſchen. Man kann nicht leugnen, daß nicht
dadurch, wenn nur uͤbrigens gut temperirte Or-
geln vorhanden ſind, eine noch mehrere Mannig-
faltigkeit der Charaktere des Geſanges erhalten
werde, als wenn man, nach einer gleichſchweben-
den Temperatur, alles auf die itzt in der an-
dern
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