Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Can werden sie frostig. Es gehört in die Cantate nichts,als was groß und stark rührend ist, und das Einfache muß dabey dem Verwikelten vorgezogen werden. Einige machen ihre Cantaten dramatisch, dieses Auch thun Erzählungen, Beschreibungen mit Arien, Ma gorgogliar la piacida marina gia sento, Es giebt Cantaten, da der Dichter in seiner eige- Can Cap der Cantate zu beobachten hat, um sie zur Musikrecht bequem zu machen, findet man in Krau- sens fürtreflichem Werk von der musicalischen Poe- sie. (*)(*) Jm fünften Hauptstük. Die Cantate ist eine von den Dichtungsarten, Es giebt zweyerley Gattungen der Cantaten, Capelle. (Baukunst.) Jst ein kleines geistliches Gebäude, das zum Pri- Ca- (+) Celles qui sont en recit & les airs en Maximes,
sont toujours froides & mauvaises; le Musicien doit les [Spaltenumbruch] rebuter. Rousseau Dict. de Musique Art. Cantate. [Spaltenumbruch] Can werden ſie froſtig. Es gehoͤrt in die Cantate nichts,als was groß und ſtark ruͤhrend iſt, und das Einfache muß dabey dem Verwikelten vorgezogen werden. Einige machen ihre Cantaten dramatiſch, dieſes Auch thun Erzaͤhlungen, Beſchreibungen mit Arien, Ma gorgogliar la piacida marina già ſento, Es giebt Cantaten, da der Dichter in ſeiner eige- Can Cap der Cantate zu beobachten hat, um ſie zur Muſikrecht bequem zu machen, findet man in Krau- ſens fuͤrtreflichem Werk von der muſicaliſchen Poe- ſie. (*)(*) Jm fuͤnften Hauptſtuͤk. Die Cantate iſt eine von den Dichtungsarten, Es giebt zweyerley Gattungen der Cantaten, Capelle. (Baukunſt.) Jſt ein kleines geiſtliches Gebaͤude, das zum Pri- Ca- (†) Celles qui ſont en récit & les airs en Maximes,
ſont toujours froides & mauvaiſes; le Muſicien doit les [Spaltenumbruch] rebuter. Rousseau Dict. de Muſique Art. Cantate. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0204" n="192"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Can</hi></fw><lb/> werden ſie froſtig. Es gehoͤrt in die Cantate nichts,<lb/> als was groß und ſtark ruͤhrend iſt, und das Einfache<lb/> muß dabey dem Verwikelten vorgezogen werden.</p><lb/> <p>Einige machen ihre Cantaten dramatiſch, dieſes<lb/> ſchikt ſich gar nicht; denn die Cantate iſt die Mo-<lb/> ral einer Handlung, und nicht die Handlung ſelbſt.<lb/> Es geht wol an, daß zwey oder auch drey Per-<lb/> ſonen eingefuͤhrt werden, welche abwechſelnd reden<lb/> oder ſingen, aber dieſes iſt kein Drama. Denn<lb/> jede von den redenden Perſonen druͤkt ihre eigene<lb/> Empfindungen und Betrachtungen aus. Dieſes<lb/> macht keine Handlung. Wenn aber allegoriſche<lb/> Perſonen eingefuͤhrt werden, ſo wird insgemein die<lb/> ganze Vorſtellung froſtig. Aus dieſem Grunde ra-<lb/> then wir ſie dem Dichter gaͤnzlich ab.</p><lb/> <p>Auch thun Erzaͤhlungen, Beſchreibungen mit Arien,<lb/> die moraliſche Anmerkungen und Maximen enthal-<lb/> ten, keine gute Wuͤrkung. Sie ſind der Lebhaftig-<lb/> keit der Empfindungen entgegen, und geben dem<lb/> Tonſetzer nicht Gelegenheit genug, ſich kraͤftig und<lb/> ruͤhrend auszudruken. <cb/> <note place="foot" n="(†)"><hi rendition="#aq">Celles qui ſont en récit & les airs en Maximes,<lb/> ſont toujours froides & mauvaiſes; le Muſicien doit les<lb/><cb/> rebuter. <hi rendition="#g"><hi rendition="#k">Rousseau</hi></hi> <hi rendition="#i">Dict. de Muſique Art. Cantate.</hi></hi></note> Findet der Dichter noͤthig,<lb/> dem Zuhoͤrer hiſtoriſche Umſtaͤnde zu Gemuͤthe zu<lb/> fuͤhren, ſo kann er es auf eine weit lebhaftere Art,<lb/> als durch Erzaͤhlungen thun. 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Can
Can Cap
werden ſie froſtig. Es gehoͤrt in die Cantate nichts,
als was groß und ſtark ruͤhrend iſt, und das Einfache
muß dabey dem Verwikelten vorgezogen werden.
Einige machen ihre Cantaten dramatiſch, dieſes
ſchikt ſich gar nicht; denn die Cantate iſt die Mo-
ral einer Handlung, und nicht die Handlung ſelbſt.
Es geht wol an, daß zwey oder auch drey Per-
ſonen eingefuͤhrt werden, welche abwechſelnd reden
oder ſingen, aber dieſes iſt kein Drama. Denn
jede von den redenden Perſonen druͤkt ihre eigene
Empfindungen und Betrachtungen aus. Dieſes
macht keine Handlung. Wenn aber allegoriſche
Perſonen eingefuͤhrt werden, ſo wird insgemein die
ganze Vorſtellung froſtig. Aus dieſem Grunde ra-
then wir ſie dem Dichter gaͤnzlich ab.
Auch thun Erzaͤhlungen, Beſchreibungen mit Arien,
die moraliſche Anmerkungen und Maximen enthal-
ten, keine gute Wuͤrkung. Sie ſind der Lebhaftig-
keit der Empfindungen entgegen, und geben dem
Tonſetzer nicht Gelegenheit genug, ſich kraͤftig und
ruͤhrend auszudruken.
(†) Findet der Dichter noͤthig,
dem Zuhoͤrer hiſtoriſche Umſtaͤnde zu Gemuͤthe zu
fuͤhren, ſo kann er es auf eine weit lebhaftere Art,
als durch Erzaͤhlungen thun. Er kann ihm die Sache
lebhaft vor Augen bringen, indem er ſich anſtellt,
als ob er die Sachen ſaͤhe und hoͤre. So hat es Ram-
ler in ſeiner Cantate uͤber das Leiden des Heilandes
in dem erſten Recitativ gethan. So hat es Rolli
in der ſchoͤnen Cantate von Atis und Galathee ge-
than, da er im folgenden Recitativ auf das lebhaf-
teſte vorſtellt, was keine Erzaͤhlung wuͤrde gethan
haben.
Ma gorgogliar la piacida marina già ſento,
Ecco! gia ſorge.
Ecco! gia ſopre l’inargentata concha,
Ecco apparir la Diva!
E i zeffiretti alati
La guidan’ alla riva.
Es giebt Cantaten, da der Dichter in ſeiner eige-
nen Perſon ſpricht, die man betrachtende nennen
koͤnnte, und andre, da er hiſtoriſche Perſonen ſpre-
chen laͤßt, damit wir uns deſto lebhafter in ihre
Umſtaͤnde und Faſſung ſetzen koͤnnen. Dieſe kann
man hiſtoriſche Cantaten nennen. Einen weit-
laͤuftigen Unterricht uͤber alles, was der Dichter bey
der Cantate zu beobachten hat, um ſie zur Muſik
recht bequem zu machen, findet man in Krau-
ſens fuͤrtreflichem Werk von der muſicaliſchen Poe-
ſie. (*)
Die Cantate iſt eine von den Dichtungsarten,
welche den Alten unbekannt geblieben, wiewol ſie
ſchaͤtzbare Vorzuͤge hat. Die geiſtliche Cantate iſt
fuͤr den oͤffentlichen Gottesdienſt ſehr wichtig. Andre
von moraliſchem Jnhalt, koͤnnen bey andern feſtli-
chen Gelegenheiten, oder auch nur blos in Concer-
ten, von ſehr groſſem Nutzen ſeyn, wenn der Dich-
ter und der Tonſetzer jeder das ſeinige dabey gethan
haben.
Es giebt zweyerley Gattungen der Cantaten,
kleinere, fuͤr die Cammermuſik, darin weder ein
vielſtimmiger Geſang, noch vielſtimmige Begleitung
verſchiedener Jnſtrumente vorkommt; und groͤſſere
zur feyerlichen Kirchenmuſik, darin Choͤre, Choraͤle
und andre vielſtimmige Geſaͤnge und eine ſtarke
Beſetzung von verſchiedenen Jnſtrumenten ſtatt hat.
Dieſe werden insgemein Oratoria genennt. Bey
dieſen hat der Tonſetzer uͤberhaupt in Anſehung des
guten Geſchmaks dasjenige zu beobachten, was von
der Kirchenmuſik iſt erinnert worden. Die klei-
nern Cantaten erfodern einen uͤberaus reinen und
in allen Stuͤken vollkommenen Satz, als ſolche
Stuͤke, in denen jeder kleine Fehler anſtoͤßig wird,
und bey denen der Mangel der Handlung und der
theatraliſchen Vorſtellung durch innerliche Schoͤn-
heiten muß erſetzt werden.
Capelle.
(Baukunſt.)
Jſt ein kleines geiſtliches Gebaͤude, das zum Pri-
vatgottesdienſt erbauet iſt. Es giebt freyſtehende
Capellen, die nicht anders, als kleine Kirchen ſind;
in Haͤuſern oder Pallaͤſten, ſolcher Perſonen gebauete,
die das Vorrecht eines Privatgottesdienſts haben;
noch andere Capellen ſind beſondere, an den Ab-
ſeiten groſſer Kirchen angebauete, und mit einem
Altar verſehene Abtheilungen, darin bey beſondern
Gelegenheiten Privatmeſſen geleſen werden. Jn
groſſen Hauptkirchen findet man bisweilen verſchie-
dene ſolche Capellen zugleich angebracht.
Ca-
(†) Celles qui ſont en récit & les airs en Maximes,
ſont toujours froides & mauvaiſes; le Muſicien doit les
rebuter. Rousseau Dict. de Muſique Art. Cantate.
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