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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Bil
Jtalien wieder hergestellt, und von da breitete sie
sich auch hernach in andre Länder, diesseits der Al-
pen aus.

Allein den Glanz und die Grösse, die sie vormals
in Griechenland gehabt hat, konnte sie aus meh-
rern Ursachen, unter den Händen der Neuern nicht
wieder bekommen. Athen hat wahrscheinlicher
Weise so viel Bildhauer gehabt, als gegenwärtig
in ganz Europa sind. Was ist aber natürlicher,
als daß unter hundert Menschen, die sich auf eine
Kunst legen, eher ein grosser Kopf sich findet, als
unter zehen? Und daß, bey einerley Genie, die Nach-
eyferung, und die daher entstehende vollkommene
Entwiklung der Talente stärker seyn müsse, wo viel
Künstler zusammen sind, als wo sie einzeln leben?
Daraus allein läßt sich schon abnehmen, daß die
Neuern in dieser Kunst überhaupt hinter den Grie-
chen zurük bleiben.

Ein andrer sehr starker Grund, der den Vor-
zug der Griechen über die Neuern vermuthen liesse,
wenn wir ihn nicht durch die Erfahrung wüßten,
liegt in dem Gebrauch der Kunst. Es scheint sehr
widerstnnig, und doch ist es wahr, daß die einge-
bildeten Gottheiten der Griechen den Künstlern
mehr Stoff zum grossen Ausdruk gegeben haben,
als die Heiligen geben, die von den Christen ver-
ehrt werden, (denn die Gottheit selbst abzubilden,
untersteht sich niemand mehr,) deren Tugenden mehr
stille Privattugenden, als grosse und heldenmüthige
Bestrebungen der Seele gewesen sind. Welcher von
beyden Künstlern natürlicher Weise zu grössern Ge-
danken werde gereizt werden, der, der einen Her-
kules, oder der andre, der einen heiligen Anachore-
ten zu bilden hat, läßt sich ohne alle Mühe erkennen.
Eben so grosse Vortheile lagen auch in der politischen
Anwendung der Kunst unter den Griechen. Nie-
mand, der nicht in der Geschichte der Menschlichkeit
ganz fremd ist, kan daran zweifeln, daß die Bild-
hauer in Athen grössere Helden, und überhaupt grös-
sere Männer, und beyde in grösserer Zahl, vor ihren
Augen gehabt, als irgend ein neuer Künstler ha-
ben könnte; daß die Thaten und Tugenden dieser
Männer, natürlicher Weise, die Einbildungskraft
und das Herz der damaligen Künstler weit mehr
müsse erwärmt haben, als ähnliche Fälle gegen-
wärtig thun würden.

(*) S. Be-
redsamkeit.

Was von den Rednern in Athen angeführt wor-
den, (*) gilt auch von den Bildhauern. Jederman
[Spaltenumbruch]

Bil Bin
war ein Kenner, und der Künstler hatte das Lob
und den Tadel aller seiner Mitbürger zu erwarten.
Ein ganzes Publicum, unter dessen Augen er be-
ständig war, hatte auch seine Arbeit täglich vor
Augen, und wußte sie zu beurtheilen. Daß auch
dieses eine grosse Würkung auf die Künstler müsse
gehabt haben, kann nicht in Zweifel gezogen wer-
den. Das honos alit artes, ist nicht nur von der
Menge der Künstler zu verstehen, sondern vor-
nehmlich von der Nahrung, die der Geist, zu Er-
höhung der Talente, von der Hochachtung bekommt,
die man Künstlern erweißt.

Daß endlich auch die Bildung des Menschen,
oder die Natur, deren Studium dem Künstler die
Begriffe an die Hand giebt, die sein Genie hernach
veredelt, und bis zum Jdeal erhöhet, in Griechen-
land vollkommener gewesen, und durch die grie-
chischen Sitten sich freyer entwikelt habe, als es
unter den neuern Völkern geschieht, ist von Win-
kelmann gründlich dargethan worden.

Wenn also in dieser Kunst, wie in so manchen
andern Dingen, die Griechen unsre Meister sind,
so ist es nicht dem Mangel an Genie, sondern ver-
schiedenen, theils natürlichen, theils zufälligen Ur-
sachen zuzuschreiben, die den Griechen günstiger als
uns gewesen sind.

Wiewol nun die Neuern würklich einige grosse
Bildhauer gehabt haben, so kann man doch nicht
eigentlich sagen, daß die Bildhauerkunst jemal in
den neuern Zeiten, in würklichem Flor gewesen
sey: denn dazu gehört in der That mehr, als daß
etwa alle zehen Jahre in irgend einer Hauptkirche,
oder in einer grossen Hauptstadt, ein Bild von ei-
niger Wichtigkeit, zur öffentlichen Verehrung auf-
gestellt werde. Daß bey günstigen Umständen ein
Michel Angelo, und auch unsre Deutsche, ein
Schlüter und ein Balthasar Permoser, sich zu der
Grösse der guten griechischen Bildhauer würden er-
hoben haben, daran läßt sich mit Grund nicht
zweifeln.

Bindung.
(Musik.)

Die Fortdauer eines auf der schlechten Zeit des
Takts angeschlagenen Tones, bis in die gute Zeit.
Der Rame kommt ohne Zweifel daher, daß man

we-

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Bil
Jtalien wieder hergeſtellt, und von da breitete ſie
ſich auch hernach in andre Laͤnder, dieſſeits der Al-
pen aus.

Allein den Glanz und die Groͤſſe, die ſie vormals
in Griechenland gehabt hat, konnte ſie aus meh-
rern Urſachen, unter den Haͤnden der Neuern nicht
wieder bekommen. Athen hat wahrſcheinlicher
Weiſe ſo viel Bildhauer gehabt, als gegenwaͤrtig
in ganz Europa ſind. Was iſt aber natuͤrlicher,
als daß unter hundert Menſchen, die ſich auf eine
Kunſt legen, eher ein groſſer Kopf ſich findet, als
unter zehen? Und daß, bey einerley Genie, die Nach-
eyferung, und die daher entſtehende vollkommene
Entwiklung der Talente ſtaͤrker ſeyn muͤſſe, wo viel
Kuͤnſtler zuſammen ſind, als wo ſie einzeln leben?
Daraus allein laͤßt ſich ſchon abnehmen, daß die
Neuern in dieſer Kunſt uͤberhaupt hinter den Grie-
chen zuruͤk bleiben.

Ein andrer ſehr ſtarker Grund, der den Vor-
zug der Griechen uͤber die Neuern vermuthen lieſſe,
wenn wir ihn nicht durch die Erfahrung wuͤßten,
liegt in dem Gebrauch der Kunſt. Es ſcheint ſehr
widerſtnnig, und doch iſt es wahr, daß die einge-
bildeten Gottheiten der Griechen den Kuͤnſtlern
mehr Stoff zum groſſen Ausdruk gegeben haben,
als die Heiligen geben, die von den Chriſten ver-
ehrt werden, (denn die Gottheit ſelbſt abzubilden,
unterſteht ſich niemand mehr,) deren Tugenden mehr
ſtille Privattugenden, als groſſe und heldenmuͤthige
Beſtrebungen der Seele geweſen ſind. Welcher von
beyden Kuͤnſtlern natuͤrlicher Weiſe zu groͤſſern Ge-
danken werde gereizt werden, der, der einen Her-
kules, oder der andre, der einen heiligen Anachore-
ten zu bilden hat, laͤßt ſich ohne alle Muͤhe erkennen.
Eben ſo groſſe Vortheile lagen auch in der politiſchen
Anwendung der Kunſt unter den Griechen. Nie-
mand, der nicht in der Geſchichte der Menſchlichkeit
ganz fremd iſt, kan daran zweifeln, daß die Bild-
hauer in Athen groͤſſere Helden, und uͤberhaupt groͤſ-
ſere Maͤnner, und beyde in groͤſſerer Zahl, vor ihren
Augen gehabt, als irgend ein neuer Kuͤnſtler ha-
ben koͤnnte; daß die Thaten und Tugenden dieſer
Maͤnner, natuͤrlicher Weiſe, die Einbildungskraft
und das Herz der damaligen Kuͤnſtler weit mehr
muͤſſe erwaͤrmt haben, als aͤhnliche Faͤlle gegen-
waͤrtig thun wuͤrden.

(*) S. Be-
redſamkeit.

Was von den Rednern in Athen angefuͤhrt wor-
den, (*) gilt auch von den Bildhauern. Jederman
[Spaltenumbruch]

Bil Bin
war ein Kenner, und der Kuͤnſtler hatte das Lob
und den Tadel aller ſeiner Mitbuͤrger zu erwarten.
Ein ganzes Publicum, unter deſſen Augen er be-
ſtaͤndig war, hatte auch ſeine Arbeit taͤglich vor
Augen, und wußte ſie zu beurtheilen. Daß auch
dieſes eine groſſe Wuͤrkung auf die Kuͤnſtler muͤſſe
gehabt haben, kann nicht in Zweifel gezogen wer-
den. Das honos alit artes, iſt nicht nur von der
Menge der Kuͤnſtler zu verſtehen, ſondern vor-
nehmlich von der Nahrung, die der Geiſt, zu Er-
hoͤhung der Talente, von der Hochachtung bekommt,
die man Kuͤnſtlern erweißt.

Daß endlich auch die Bildung des Menſchen,
oder die Natur, deren Studium dem Kuͤnſtler die
Begriffe an die Hand giebt, die ſein Genie hernach
veredelt, und bis zum Jdeal erhoͤhet, in Griechen-
land vollkommener geweſen, und durch die grie-
chiſchen Sitten ſich freyer entwikelt habe, als es
unter den neuern Voͤlkern geſchieht, iſt von Win-
kelmann gruͤndlich dargethan worden.

Wenn alſo in dieſer Kunſt, wie in ſo manchen
andern Dingen, die Griechen unſre Meiſter ſind,
ſo iſt es nicht dem Mangel an Genie, ſondern ver-
ſchiedenen, theils natuͤrlichen, theils zufaͤlligen Ur-
ſachen zuzuſchreiben, die den Griechen guͤnſtiger als
uns geweſen ſind.

Wiewol nun die Neuern wuͤrklich einige groſſe
Bildhauer gehabt haben, ſo kann man doch nicht
eigentlich ſagen, daß die Bildhauerkunſt jemal in
den neuern Zeiten, in wuͤrklichem Flor geweſen
ſey: denn dazu gehoͤrt in der That mehr, als daß
etwa alle zehen Jahre in irgend einer Hauptkirche,
oder in einer groſſen Hauptſtadt, ein Bild von ei-
niger Wichtigkeit, zur oͤffentlichen Verehrung auf-
geſtellt werde. Daß bey guͤnſtigen Umſtaͤnden ein
Michel Angelo, und auch unſre Deutſche, ein
Schluͤter und ein Balthaſar Permoſer, ſich zu der
Groͤſſe der guten griechiſchen Bildhauer wuͤrden er-
hoben haben, daran laͤßt ſich mit Grund nicht
zweifeln.

Bindung.
(Muſik.)

Die Fortdauer eines auf der ſchlechten Zeit des
Takts angeſchlagenen Tones, bis in die gute Zeit.
Der Rame kommt ohne Zweifel daher, daß man

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[178/0190] Bil Bil Bin Jtalien wieder hergeſtellt, und von da breitete ſie ſich auch hernach in andre Laͤnder, dieſſeits der Al- pen aus. Allein den Glanz und die Groͤſſe, die ſie vormals in Griechenland gehabt hat, konnte ſie aus meh- rern Urſachen, unter den Haͤnden der Neuern nicht wieder bekommen. Athen hat wahrſcheinlicher Weiſe ſo viel Bildhauer gehabt, als gegenwaͤrtig in ganz Europa ſind. Was iſt aber natuͤrlicher, als daß unter hundert Menſchen, die ſich auf eine Kunſt legen, eher ein groſſer Kopf ſich findet, als unter zehen? Und daß, bey einerley Genie, die Nach- eyferung, und die daher entſtehende vollkommene Entwiklung der Talente ſtaͤrker ſeyn muͤſſe, wo viel Kuͤnſtler zuſammen ſind, als wo ſie einzeln leben? Daraus allein laͤßt ſich ſchon abnehmen, daß die Neuern in dieſer Kunſt uͤberhaupt hinter den Grie- chen zuruͤk bleiben. Ein andrer ſehr ſtarker Grund, der den Vor- zug der Griechen uͤber die Neuern vermuthen lieſſe, wenn wir ihn nicht durch die Erfahrung wuͤßten, liegt in dem Gebrauch der Kunſt. Es ſcheint ſehr widerſtnnig, und doch iſt es wahr, daß die einge- bildeten Gottheiten der Griechen den Kuͤnſtlern mehr Stoff zum groſſen Ausdruk gegeben haben, als die Heiligen geben, die von den Chriſten ver- ehrt werden, (denn die Gottheit ſelbſt abzubilden, unterſteht ſich niemand mehr,) deren Tugenden mehr ſtille Privattugenden, als groſſe und heldenmuͤthige Beſtrebungen der Seele geweſen ſind. Welcher von beyden Kuͤnſtlern natuͤrlicher Weiſe zu groͤſſern Ge- danken werde gereizt werden, der, der einen Her- kules, oder der andre, der einen heiligen Anachore- ten zu bilden hat, laͤßt ſich ohne alle Muͤhe erkennen. Eben ſo groſſe Vortheile lagen auch in der politiſchen Anwendung der Kunſt unter den Griechen. Nie- mand, der nicht in der Geſchichte der Menſchlichkeit ganz fremd iſt, kan daran zweifeln, daß die Bild- hauer in Athen groͤſſere Helden, und uͤberhaupt groͤſ- ſere Maͤnner, und beyde in groͤſſerer Zahl, vor ihren Augen gehabt, als irgend ein neuer Kuͤnſtler ha- ben koͤnnte; daß die Thaten und Tugenden dieſer Maͤnner, natuͤrlicher Weiſe, die Einbildungskraft und das Herz der damaligen Kuͤnſtler weit mehr muͤſſe erwaͤrmt haben, als aͤhnliche Faͤlle gegen- waͤrtig thun wuͤrden. Was von den Rednern in Athen angefuͤhrt wor- den, (*) gilt auch von den Bildhauern. Jederman war ein Kenner, und der Kuͤnſtler hatte das Lob und den Tadel aller ſeiner Mitbuͤrger zu erwarten. Ein ganzes Publicum, unter deſſen Augen er be- ſtaͤndig war, hatte auch ſeine Arbeit taͤglich vor Augen, und wußte ſie zu beurtheilen. Daß auch dieſes eine groſſe Wuͤrkung auf die Kuͤnſtler muͤſſe gehabt haben, kann nicht in Zweifel gezogen wer- den. Das honos alit artes, iſt nicht nur von der Menge der Kuͤnſtler zu verſtehen, ſondern vor- nehmlich von der Nahrung, die der Geiſt, zu Er- hoͤhung der Talente, von der Hochachtung bekommt, die man Kuͤnſtlern erweißt. Daß endlich auch die Bildung des Menſchen, oder die Natur, deren Studium dem Kuͤnſtler die Begriffe an die Hand giebt, die ſein Genie hernach veredelt, und bis zum Jdeal erhoͤhet, in Griechen- land vollkommener geweſen, und durch die grie- chiſchen Sitten ſich freyer entwikelt habe, als es unter den neuern Voͤlkern geſchieht, iſt von Win- kelmann gruͤndlich dargethan worden. Wenn alſo in dieſer Kunſt, wie in ſo manchen andern Dingen, die Griechen unſre Meiſter ſind, ſo iſt es nicht dem Mangel an Genie, ſondern ver- ſchiedenen, theils natuͤrlichen, theils zufaͤlligen Ur- ſachen zuzuſchreiben, die den Griechen guͤnſtiger als uns geweſen ſind. Wiewol nun die Neuern wuͤrklich einige groſſe Bildhauer gehabt haben, ſo kann man doch nicht eigentlich ſagen, daß die Bildhauerkunſt jemal in den neuern Zeiten, in wuͤrklichem Flor geweſen ſey: denn dazu gehoͤrt in der That mehr, als daß etwa alle zehen Jahre in irgend einer Hauptkirche, oder in einer groſſen Hauptſtadt, ein Bild von ei- niger Wichtigkeit, zur oͤffentlichen Verehrung auf- geſtellt werde. Daß bey guͤnſtigen Umſtaͤnden ein Michel Angelo, und auch unſre Deutſche, ein Schluͤter und ein Balthaſar Permoſer, ſich zu der Groͤſſe der guten griechiſchen Bildhauer wuͤrden er- hoben haben, daran laͤßt ſich mit Grund nicht zweifeln. Bindung. (Muſik.) Die Fortdauer eines auf der ſchlechten Zeit des Takts angeſchlagenen Tones, bis in die gute Zeit. Der Rame kommt ohne Zweifel daher, daß man we-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/190>, abgerufen am 23.11.2024.