Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Bil (*) Criti-sche Be- trachtun- gen über die poeti- schen Ge- mäolde im 1sten und 3ten Capi- tel.die Hand giebt, (*) ist der eine Weg zu Erfindung der Bilder; die Dichtungskraft, die abgezogenen Begriffen einen Körper giebt, die leblose Dinge in lebendige Wesen verwandelt, ist ein andrer Weg. So macht Horaz die Sorge, und fast alle Leiden- schaften zu handelnden körperlichen Wesen, die uns überall verfolgen. [Spaltenumbruch] (+) Die Lebhaftigkeit der Einbil- dungskraft ist die einzige Quelle dieser Bilder. (S. Bclebung; Dichtungskraft.) Wer einige natürliche Anlage zur Erfindung und So fürtreflich der Nutzen der Bilder ist, so sind Es wäre angenehm und nützlich, wenn sich je- Bil dig in dem Maaße zugenommen, in welchem dermännliche und gute Geschmak abgenommen hat. Doch ist es in gewissen Fällen gut, wenn Bil- Littora quot conchas, quot amoena rosaria flores,(*) Trist. V. 2. Dieses fällt etwas ins läppische. Auch da können Bilder mit Nachdruk aufgehäuft Sed juremus in haec: simul imis saxa renarint(*) Epod. Od. 16. Dergleichen Anhäufung der Bilder dienet auch, am (+) Scandit aeratas vitiosa naves
Cura; nec turmas equitum relinquit, Ocior cervis, agente nimbo, Ocior Euro. [Spaltenumbruch] -- Timor et minae Sandunt eodem quo dominus; neque Decedit aerata triremi; et Post equitem sedet atra cura [Spaltenumbruch] Bil (*) Criti-ſche Be- trachtun- gen uͤber die poeti- ſchen Ge- maͤolde im 1ſten und 3ten Capi- tel.die Hand giebt, (*) iſt der eine Weg zu Erfindung der Bilder; die Dichtungskraft, die abgezogenen Begriffen einen Koͤrper giebt, die lebloſe Dinge in lebendige Weſen verwandelt, iſt ein andrer Weg. So macht Horaz die Sorge, und faſt alle Leiden- ſchaften zu handelnden koͤrperlichen Weſen, die uns uͤberall verfolgen. [Spaltenumbruch] (†) Die Lebhaftigkeit der Einbil- dungskraft iſt die einzige Quelle dieſer Bilder. (S. Bclebung; Dichtungskraft.) Wer einige natuͤrliche Anlage zur Erfindung und So fuͤrtreflich der Nutzen der Bilder iſt, ſo ſind Es waͤre angenehm und nuͤtzlich, wenn ſich je- Bil dig in dem Maaße zugenommen, in welchem dermaͤnnliche und gute Geſchmak abgenommen hat. Doch iſt es in gewiſſen Faͤllen gut, wenn Bil- Littora quot conchas, quot amœna roſaria flores,(*) Triſt. V. 2. Dieſes faͤllt etwas ins laͤppiſche. Auch da koͤnnen Bilder mit Nachdruk aufgehaͤuft Sed juremus in hæc: ſimul imis ſaxa renârint(*) Epod. Od. 16. Dergleichen Anhaͤufung der Bilder dienet auch, am (†) Scandit æratas vitioſa naves
Cura; nec turmas equitum relinquit, Ocior cervis, agente nimbo, Ocior Euro. [Spaltenumbruch] — Timor et minæ Sandunt eodem quo dominus; neque Decedit ærata triremi; et Poſt equitem ſedet atra cura <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0184" n="172"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Bil</hi></fw><lb/><note place="left">(*) Criti-<lb/> ſche Be-<lb/> trachtun-<lb/> gen uͤber<lb/> die poeti-<lb/> ſchen Ge-<lb/> maͤolde im<lb/> 1ſten und<lb/> 3ten Capi-<lb/> tel.</note>die Hand giebt, (*) iſt der eine Weg zu Erfindung<lb/> der Bilder; die Dichtungskraft, die abgezogenen<lb/> Begriffen einen Koͤrper giebt, die lebloſe Dinge in<lb/> lebendige Weſen verwandelt, iſt ein andrer Weg.<lb/> So macht Horaz die Sorge, und faſt alle Leiden-<lb/> ſchaften zu handelnden koͤrperlichen Weſen, die uns<lb/> uͤberall verfolgen. <cb/> <note place="foot" n="(†)"><hi rendition="#aq">Scandit æratas vitioſa naves<lb/> Cura; nec turmas equitum relinquit,<lb/> Ocior cervis, agente nimbo,<lb/> Ocior Euro.</hi><lb/><cb/><hi rendition="#et">— <hi rendition="#aq">Timor et minæ</hi></hi><lb/><hi rendition="#aq">Sandunt eodem quo dominus; neque<lb/> Decedit ærata triremi; et<lb/> Poſt equitem ſedet atra cura</hi></note> Die Lebhaftigkeit der Einbil-<lb/> dungskraft iſt die einzige Quelle dieſer Bilder.<lb/> (S. <hi rendition="#fr">Bclebung; Dichtungskraft.</hi>)</p><lb/> <p>Wer einige natuͤrliche Anlage zur Erfindung und<lb/> Erſchaffung ſolcher Bilder hat, kann ſie durch<lb/> fleißiges Leſen der Dichter und Redner, denen<lb/> dieſe Gabe einigermaaßen eigen war, noch ſehr ver-<lb/> ſtaͤrken. So wie man bey vergnuͤgten Menſchen<lb/> vergnuͤgt, und bey melancholiſchen ſchweermuͤthig<lb/> wird, ſo wird man auch bey witzigen witzig, wenn<lb/> man nur irgend einen Funken Witz hat. Man wird<lb/> daher allemal ſehen, daß diejenigen, die viel mit<lb/> witzigen Menſchen umgegangen ſind, uͤber das<lb/> Maaß ihrer natuͤrlichen Anlage witzig ſind. Wem<lb/> der Umgang fehlt, der muß ihn durch das Leſen<lb/> erſetzen.</p><lb/> <p>So fuͤrtreflich der Nutzen der Bilder iſt, ſo ſind<lb/> ſie, wie alle Dinge, dem Mißbrauch unterworfen.<lb/> Die Redner und Dichter, die durchgehends am<lb/> meiſten bewundert werden, haben ſie als koſtbare<lb/> Wuͤrze mit behutſamer Sparſamkeit angebracht.<lb/> Bey ſehr wichtigen Begriffen und Vorſtellungen,<lb/> die man gerade zu nicht mit der gehoͤrigen Staͤrke<lb/> und Lebhaftigkeit ausdruͤken kann, werden ſie noth-<lb/> wendig; bey Nebenſachen aber ſind ſie bloße Zier-<lb/> rathen, womit man ſparſam umgehen muß. 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Bil
Bil
die Hand giebt, (*) iſt der eine Weg zu Erfindung
der Bilder; die Dichtungskraft, die abgezogenen
Begriffen einen Koͤrper giebt, die lebloſe Dinge in
lebendige Weſen verwandelt, iſt ein andrer Weg.
So macht Horaz die Sorge, und faſt alle Leiden-
ſchaften zu handelnden koͤrperlichen Weſen, die uns
uͤberall verfolgen.
(†) Die Lebhaftigkeit der Einbil-
dungskraft iſt die einzige Quelle dieſer Bilder.
(S. Bclebung; Dichtungskraft.)
(*) Criti-
ſche Be-
trachtun-
gen uͤber
die poeti-
ſchen Ge-
maͤolde im
1ſten und
3ten Capi-
tel.
Wer einige natuͤrliche Anlage zur Erfindung und
Erſchaffung ſolcher Bilder hat, kann ſie durch
fleißiges Leſen der Dichter und Redner, denen
dieſe Gabe einigermaaßen eigen war, noch ſehr ver-
ſtaͤrken. So wie man bey vergnuͤgten Menſchen
vergnuͤgt, und bey melancholiſchen ſchweermuͤthig
wird, ſo wird man auch bey witzigen witzig, wenn
man nur irgend einen Funken Witz hat. Man wird
daher allemal ſehen, daß diejenigen, die viel mit
witzigen Menſchen umgegangen ſind, uͤber das
Maaß ihrer natuͤrlichen Anlage witzig ſind. Wem
der Umgang fehlt, der muß ihn durch das Leſen
erſetzen.
So fuͤrtreflich der Nutzen der Bilder iſt, ſo ſind
ſie, wie alle Dinge, dem Mißbrauch unterworfen.
Die Redner und Dichter, die durchgehends am
meiſten bewundert werden, haben ſie als koſtbare
Wuͤrze mit behutſamer Sparſamkeit angebracht.
Bey ſehr wichtigen Begriffen und Vorſtellungen,
die man gerade zu nicht mit der gehoͤrigen Staͤrke
und Lebhaftigkeit ausdruͤken kann, werden ſie noth-
wendig; bey Nebenſachen aber ſind ſie bloße Zier-
rathen, womit man ſparſam umgehen muß. Sie
ſind wie Juweelen, die man nur an wenigen Stel-
len anbringen darf. Man findet deswegen, daß
ihr Ueberflus, ſo wie der Ueberflus der Verzie-
rungen in der Baukunſt, allemal ein Vorbote des
ſich zum Untergang neigenden Geſchmaks iſt.
Es waͤre angenehm und nuͤtzlich, wenn ſich je-
mand die Muͤhe geben wollte, aus den Ueberbleib-
ſeln der griechiſchen Litteratur zu zeigen, wie von
Homer bis auf die ſogenannten Pleyaden, und von
dieſen bis auf die griechiſchen Rhetoren, von de-
nen Rom zur Zeit der Kayſer angefuͤllt war,
der Gebrauch der auszierenden Bilder beſtaͤn-
dig in dem Maaße zugenommen, in welchem der
maͤnnliche und gute Geſchmak abgenommen hat.
Doch iſt es in gewiſſen Faͤllen gut, wenn Bil-
der auf Bilder gehaͤuft werden. Jn Oden, wo
eine einzige Vorſtellung, die an ſich ſelbſt einfach iſt,
ſo lange wiederholt werden, und ſo genau auf alle
Seiten gewendet werden muß, bis unſre ganze
Vorſtellungskraft voͤllig davon eingenommen iſt,
iſt die Anhaͤufung der Bilder, die einerley Sache
in verſchiedenen Geſtalten ausdruͤken, das einzige
Mittel zum Zwek zugelangen. Davon findet man
haͤufige Beyſpiele beym Horaz; ſo wie man beym
Ovidius faſt uͤberall Beyſpiele von Anhaͤufung der
Bilder bey gemeinen, oder doch nur beylaͤufigen
Vorſtellungen findet, wie z. E. in dieſer Stelle:
Littora quot conchas, quot amœna roſaria flores,
Quotve ſoporiferum grana papaver habet;
Silva ſeras quot alit, quot piſcibus unda natatur;
Quot tenerum pennis aëra pulſat avis,
Tot premor adverſis. (*)
Dieſes faͤllt etwas ins laͤppiſche.
Auch da koͤnnen Bilder mit Nachdruk aufgehaͤuft
werden, wo man in ſtarkem Affekt, den man durch
Worte aͤuſſern will, immer beſorget, man habe die
Sachen noch nicht ſtark oder hinlaͤnglich genug ge-
ſagt. Jn dieſem Falle befand ſich Horaz bey der
folgenden Stelle, die man mit groſſem Unrecht mit
der vorhergehenden aus dem Ovidius, in eine Claſſe
ſetzen wuͤrde.
Sed juremus in hæc: ſimul imis ſaxa renârint
Vadis levata, ne redire ſit neſas,
Neu converſa domum pigeat dare lintea, quande
Padus Matina laverit cacumina,
In mare ſeu celſus procurrerit Appenninus,
Novaque Monſtra junxerit libidine
Mirusamor: juvet ut tigres ſubſidere cervis,
Adulteretur & columba Milvo:
Credula nec ravos timeant armenta leones,
Ametque ſalſa levis hircus littora. (*)
Dergleichen Anhaͤufung der Bilder dienet auch,
wenn man nichts mehr uͤber eine Sache zu ſagen
hat, den Zuhoͤrer eine Zeitlang in derſelben wichti-
gen Vorſtellung zu unterhalten. Dieſer Fall kommt
am
(†) Scandit æratas vitioſa naves
Cura; nec turmas equitum relinquit,
Ocior cervis, agente nimbo,
Ocior Euro.
— Timor et minæ
Sandunt eodem quo dominus; neque
Decedit ærata triremi; et
Poſt equitem ſedet atra cura
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