Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Bew Ankläger des Verres müsse bestellt werden, so machter diesen Vernunftschluß. "Wen der Beleidigte zum Ankläger seines Feindes haben will, der muß ihm auch gegeben werden. Nun verlangen die Einwohner Siciliens mich und keinen andern; also muß ich die Klage gegen den Verres führen." Der erste Theil der Rede ist eine Ausführung dieses Vernunftschlusses, und so verhält es sich mit jeder beweisenden Rede. Da es unendlich weitläuftig seyn würde, Regeln Die zwey Hauptarten der Beweise sind die, welche Die Jnduction besteht also darin, daß man für "Wenn ein junger Mensch von einem Flötenspie- Bew sen durch das lebhafte Gefühl der Wahrheit unddurch den Reiz der Aehnlichkeit. (*) Mit der Fa-(*) S. Aehnlich- keit. bel und mit der Allegorie kommt sie darin überein, daß sie ein lebhaftes und unwandelbares Gefühl der Wahrheit erweket. Die Jnduktion kann verschiedene Gestalten an- Bey Behandlung dieser Beweisart hat der Redner Dazu gehören besondere rednerische Gaben, die Die zweyte Hauptart der Beweise ist die, welche Ueber- Erster Theil. X
[Spaltenumbruch] Bew Anklaͤger des Verres muͤſſe beſtellt werden, ſo machter dieſen Vernunftſchluß. „Wen der Beleidigte zum Anklaͤger ſeines Feindes haben will, der muß ihm auch gegeben werden. Nun verlangen die Einwohner Siciliens mich und keinen andern; alſo muß ich die Klage gegen den Verres fuͤhren.‟ Der erſte Theil der Rede iſt eine Ausfuͤhrung dieſes Vernunftſchluſſes, und ſo verhaͤlt es ſich mit jeder beweiſenden Rede. Da es unendlich weitlaͤuftig ſeyn wuͤrde, Regeln Die zwey Hauptarten der Beweiſe ſind die, welche Die Jnduction beſteht alſo darin, daß man fuͤr „Wenn ein junger Menſch von einem Floͤtenſpie- Bew ſen durch das lebhafte Gefuͤhl der Wahrheit unddurch den Reiz der Aehnlichkeit. (*) Mit der Fa-(*) S. Aehnlich- keit. bel und mit der Allegorie kommt ſie darin uͤberein, daß ſie ein lebhaftes und unwandelbares Gefuͤhl der Wahrheit erweket. Die Jnduktion kann verſchiedene Geſtalten an- Bey Behandlung dieſer Beweisart hat der Redner Dazu gehoͤren beſondere redneriſche Gaben, die Die zweyte Hauptart der Beweiſe iſt die, welche Ueber- Erſter Theil. X
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Bew
Bew
Anklaͤger des Verres muͤſſe beſtellt werden, ſo macht
er dieſen Vernunftſchluß. „Wen der Beleidigte
zum Anklaͤger ſeines Feindes haben will, der muß
ihm auch gegeben werden. Nun verlangen die
Einwohner Siciliens mich und keinen andern; alſo
muß ich die Klage gegen den Verres fuͤhren.‟ Der
erſte Theil der Rede iſt eine Ausfuͤhrung dieſes
Vernunftſchluſſes, und ſo verhaͤlt es ſich mit jeder
beweiſenden Rede.
Da es unendlich weitlaͤuftig ſeyn wuͤrde, Regeln
fuͤr die Wahl jeder beſondern Form der Vernunft-
ſchluͤſſe zu ſuchen, ſo begnuͤgen wir uns, die zwey
Hauptarten der Beweiſe naͤher zu betrachten, und
das weſentlichſte, was der Redner dabey zu beden-
ken hat, anzufuͤhren.
Die zwey Hauptarten der Beweiſe ſind die, welche
Cicero mit dem Namen Inductio und Ratiocinatio
bezeichnet. (*) Die erſtere beſteht darin, daß man
aus aͤhnlichen Faͤllen ſchließt; die andere ſchließt aus
der nothwendigen Verbindung der Begriffe.
(*) Omnis
igitur ra-
tiocinatio
aut per in-
ductionem
tractanda
eſt, aut per
ratio cina-
tionem. de
Invent. L. I.
Die Jnduction beſteht alſo darin, daß man fuͤr
die Wahrheit, welche man beweiſen will, Faͤlle aus-
ſucht, in welchen dieſelbe ganz unzweifelhaft und
offenbar iſt, hernach aus dieſen beſondern Faͤllen
entweder einen allgemeinen, oder auf einen andern
beſondern, jenen aͤhnlichen Fall, paſſenden Schluß
macht. Dergleichen iſt dieſes:
„Wenn ein junger Menſch von einem Floͤtenſpie-
„ler in ſeiner Kunſt ſo unterrichtet worden iſt, daß
„er ſchon ſehr gut geſpielet hat, hernach aber von
„einem ſchlechten Spieler wieder verdorben worden
„iſt; kann man denn die Schuld, daß er ſchlechtſpielt,
„auf den erſten Meiſter legen? — Keinesweges.
„Oder wenn ein Hofmeiſter ſeinem Untergebenen gute
„und beſcheidene Sitten angewoͤhnt hat, dieſer aber
„ſich hernach durch andere wieder zu ſchlechten und
„groben Sitten hat verfuͤhren laſſen, wird man die-
„ſer Sitten halber den erſten Hofmeiſter beſchuldi-
„gen? — Gewiß nicht. So wird man auch dem
„Sokrates die Schuld nicht beymeſſen koͤnnen, daß
„die Juͤnglinge, denen er Luſt zur Tugend gemacht
„hat, nachher von andern verfuͤhrt worden.‟ (*)
Dieſes iſt die Beweisart, deren ſich Sokrates mit
ſo gluͤcklichem Erfolg bedient hat. Jhr groͤßter
Vortheil beſteht darin, daß ſie die Erkenntniß der
Wahrheit in ein Gefuͤhl derſelben verwandelt. Sie
ſchikt ſich ſowol fuͤr einfaͤltige als gelehrte Zuhoͤrer:
jenen wird ſie durch ihre Faßlichkeit angenehm, die-
ſen durch das lebhafte Gefuͤhl der Wahrheit und
durch den Reiz der Aehnlichkeit. (*) Mit der Fa-
bel und mit der Allegorie kommt ſie darin uͤberein,
daß ſie ein lebhaftes und unwandelbares Gefuͤhl der
Wahrheit erweket.
(*) S. Xe-
uophons
Memor.
Socr. L. I.
(*) S.
Aehnlich-
keit.
Die Jnduktion kann verſchiedene Geſtalten an-
nehmen. Sokrates kleidete ſie faſt allezeit in Fra-
gen ein, ſo wie es ſich zur Beredſamkeit des Um-
ganges am beſten ſchiket. Die Moraliſten geben
ihr auch eine andere Form, indem ſie einen oder
mehr aͤhnliche Faͤlle, an denen die Wahrheit leicht
zu fuͤhlen iſt, als Beſchreibungen, Gemaͤhlde oder
Erzaͤhlungen, anbringen und ſo zeichnen, daß der
Zuhoͤrer alles vor ſich zu ſehen glaubt.
Bey Behandlung dieſer Beweisart hat der Redner
vornehmlich auf folgende Dinge zu ſehen: 1. daß
die Wahrheit, wovon er uͤberzeugen will, in den
aͤhnlichen Faͤllen, die er anfuͤhrt, voͤllig offenbar ſey.
2. Daß dieſe Faͤlle eine vollkommene Aehnlichkeit
mit dem Falle haben, uͤber welchen eigentlich das
Urtheil des Zuhoͤrers ſoll feſtgeſetzt werden. 3. Daß
dieſer nicht gleich merke, wohin die angefuͤhrten aͤhn-
lichen Faͤlle zielen, damit er deſto freyer von allem
Vorurtheil, ſich dem Gefuͤhl des Wahren uͤberlaſſe.
Dazu gehoͤren beſondere redneriſche Gaben, die
vielleicht ſeltener ſind, als irgend ein anderes Ta-
lent des Redners. So wenig glaͤnzendes die voll-
kommene Jnduction hat, ſo ſchweer iſt es, dieſelbe
zu erreichen. Wer nicht vorzuͤglich die Gabe hat,
von den gemeineſten Dingen, nicht nur ohne Rie-
drigkeit, ſondern intereſſant zu ſprechen, muß ſich
nicht daran wagen; denn die aͤhnlichen Faͤlle muͤſ-
ſen nothwendig von Dingen hergenommen werden,
die taͤglich vorkommen, die alſo nicht den geringſten
Reiz haben, als den ſie durch die Kunſt des Red-
ners bekommen.
Die zweyte Hauptart der Beweiſe iſt die, welche
durch Entwiklung der Begriffe zum Zwek kommt.
(Ratiocinatio) Dieſe haben die Geſtalt eines foͤrm-
lichen und vollſtaͤndigen Vernunftſchluſſes (Syllo-
gismus), der aus zwey Vorderſaͤtzen und dem dar-
aus flieſſenden Schlußſatz beſteht. Dieſe Beweis-
art iſt demnach nicht ſo popular, als die erſtere;
ſie iſt mehr philoſophiſch, als redneriſch. Die ganze
Abhandlnng der Rede, in der ein ſolcher Beweis ge-
fuͤhrt wird, muß ſich auf drey Saͤtze bringen laſſen.
Die beyden Vorderſaͤtze muͤſſen, wie aus der Ver-
nunftlehre bekannt iſt, unlaͤugbar ſeyn, wenn die
Ueber-
Erſter Theil. X
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