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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ber
mit der Freyheit ihren völligen Untergang fand, so
erhielt sich doch die gerichtliche noch lange Zeit;
auch blieb überhaupt unter der Regierung der Cä-
sarn und einiger nachfolgender Kaiser ein Theil der
Hochachtung, die man in den letzten Zeiten der
Republik für diese Kunst hatte. Gut sprechen zu
können war noch eine Zeitlang ein Talent, welches
zu besitzen selbst die unumschränkten Herren der Welt
für keine Kleinigkeit hielten. Allein das große Jn-
teresse, das allein der Beredsamkeit das wahre Le-
ben geben kann, war weg; und auch das wenigere
Jnteresse, wodurch die gerichtliche Beredsamkeit
sich erhalten hatte, fiel auch immer mehr, und
endlich versank die Beredsamkeit, wie ein todter
Leichnam, in eine ekelhafte Verwesung.

Als man in den neuern Zeiten wieder anfieng,
die Wissenschaften und Künste der Alten aus dem
Staube hervor zu suchen, war die Beredsamkeit eine
der ersten, die die Achtung der Reuern auf sich zog.
Aus der Asche der griechischen und römischen Red-
ner entstund etwas, das man als eine Frucht der
alten Kunst zu reden ansehen konnte, ob es
gleich nur eine schwache und entfernte Aehnlichkeit
mit ihr hatte. Diese Abartung war eine natür-
liche Folge des minder fruchtbaren Bodens. Die
Neuern lernten die Beredsamkeit wieder hoch-
schätzen, aber zu der Vollkommenheit, auf welcher
sie bey den Alten war, konnten sie dieselbe nicht
bringen; denn die großen Triebfedern, wodurch
diese Kunst bey den Alten ihre Stärke erhalten
hatte, waren nicht mehr vorhanden. Durch die
Beredsamkeit kann man in den neuern Zeiten Ehre
und Ansehen bey einem sehr kleinen Theil seiner
Nation erhalten; aber politische Macht, Einfluß
auf die Entschließungen der Regenten, auf das
Schiksal ganzer Völker, ist kaum mehr daher zu
erwarten. Also wird auch ein Genie, wie De-
mosthenes oder Cicero gewesen, niemal zu der
Größe kommen, die wir an diesen Männern be-
wundern.

[Spaltenumbruch]
Ber

Das stärkste Bestreben, durch Beredsamkeit groß
zu werden, scheint in den neuern Zeiten sich in
Frankreich zu äußern, wo man durch diese Kunst
sich wenigstens einen großen Namen machen, und
bey vielen zu großem Ansehen kommen kann. Da,
wo es dem Eyfer für das gemeine Beste, und für
die Erhaltung eines Rests der Freyheit noch ver-
gönnt ist, gegen die Unterdrükung zu kämpfen, in
einigen Parlamenten, sieht man noch bisweilen
Werke hervorkommen, die selbst Athen und Rom
nicht würden gering geschäzt haben. Es ist auch
in diesem Lande nicht ganz unerhört, daß die Be-
redsamkeit, die ihre Stimme blos in Schriften
erhebt, von einigem Einfluß auf allgemeine Staats-
entschließungen gewesen sey. Allein blos durch
Schriften reden, macht nur einen Theil der Kunst
aus. Demosthenes selbst hat den mündlichen Vor-
trag für den wichtigsten Theil derselben gehalten.
Also können die, welche nur durch Schriften mit
ihrer Nation reden, die Kunst niemal in ihrer
Stärke brauchen.

Deutschland scheinet (es sey ohne Beleidigung
gesagt) in seiner gegenwärtigen Verfassung, ein
für die Beredsamkeit ziemlich unfruchtbarer Boden
zu seyn. Zu sagen, daß es den Deutschen an Ge-
nie dazu fehle, wäre ohne Zweifel eine grobe Un-
wahrheit; daß aber dem Deutschen, der von der
Natur die Talente des Redners empfangen hat,
die Triebfedern sich zu einer gewissen Größe zu
schwingen, ganz fehlen, ist eine Wahrheit, die nie-
mand leugnen kann. Unsre Höfe sind für die
deutsche Beredsamkeit unempfindlich; unsre Städte
haben eine allzugeringe Anzahl Einwohner, die
von schönen Künsten gerührt werden; und die we-
nigen, die das Gefühl dafür haben, sind nicht von
dem Ansehen, um Eindruk auf das Publikum zu
machen. Wie wenig Kraft kann also Lob oder Tadel
auf ein männliches Gemüthe haben, da beyde von
so wenigen und so unbeträchtlichen Menschen her-
kommen können? in Athen war das ganze Volk
das, was in Deutschland die kaum zu merkende
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Zahl,
Vt abeunte anima cadavera non consistunt -- -- sic Ale-
xandro fugiente exercitus ille palpitabat -- -- Perdiccis,
Seleucis atque Antigonis, tamquam Spiritibus etiamnum
calidis -- -- tandem flaccescens exercitus et cadaveris
more tabidus, vermium instar ex sese procreavit degeneres
Reges -- semianimes. Ita sane sublato Cicerone
--
[Spaltenumbruch] statim eloquentiae corpus, quod ab illo animabatur, elanguit;
et quamvis Oratores aliquet, Persii, Senecae, Plinii, tam-
quam plena adhuc animae membra, cadentem calentemque
Spiritum reciperent -- brevi tamen in mera Oratorum ca-
davera degeneratum est. Prolus. Academ. L. I.
1.

[Spaltenumbruch]

Ber
mit der Freyheit ihren voͤlligen Untergang fand, ſo
erhielt ſich doch die gerichtliche noch lange Zeit;
auch blieb uͤberhaupt unter der Regierung der Caͤ-
ſarn und einiger nachfolgender Kaiſer ein Theil der
Hochachtung, die man in den letzten Zeiten der
Republik fuͤr dieſe Kunſt hatte. Gut ſprechen zu
koͤnnen war noch eine Zeitlang ein Talent, welches
zu beſitzen ſelbſt die unumſchraͤnkten Herren der Welt
fuͤr keine Kleinigkeit hielten. Allein das große Jn-
tereſſe, das allein der Beredſamkeit das wahre Le-
ben geben kann, war weg; und auch das wenigere
Jntereſſe, wodurch die gerichtliche Beredſamkeit
ſich erhalten hatte, fiel auch immer mehr, und
endlich verſank die Beredſamkeit, wie ein todter
Leichnam, in eine ekelhafte Verweſung.

Als man in den neuern Zeiten wieder anfieng,
die Wiſſenſchaften und Kuͤnſte der Alten aus dem
Staube hervor zu ſuchen, war die Beredſamkeit eine
der erſten, die die Achtung der Reuern auf ſich zog.
Aus der Aſche der griechiſchen und roͤmiſchen Red-
ner entſtund etwas, das man als eine Frucht der
alten Kunſt zu reden anſehen konnte, ob es
gleich nur eine ſchwache und entfernte Aehnlichkeit
mit ihr hatte. Dieſe Abartung war eine natuͤr-
liche Folge des minder fruchtbaren Bodens. Die
Neuern lernten die Beredſamkeit wieder hoch-
ſchaͤtzen, aber zu der Vollkommenheit, auf welcher
ſie bey den Alten war, konnten ſie dieſelbe nicht
bringen; denn die großen Triebfedern, wodurch
dieſe Kunſt bey den Alten ihre Staͤrke erhalten
hatte, waren nicht mehr vorhanden. Durch die
Beredſamkeit kann man in den neuern Zeiten Ehre
und Anſehen bey einem ſehr kleinen Theil ſeiner
Nation erhalten; aber politiſche Macht, Einfluß
auf die Entſchließungen der Regenten, auf das
Schikſal ganzer Voͤlker, iſt kaum mehr daher zu
erwarten. Alſo wird auch ein Genie, wie De-
moſthenes oder Cicero geweſen, niemal zu der
Groͤße kommen, die wir an dieſen Maͤnnern be-
wundern.

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Ber

Das ſtaͤrkſte Beſtreben, durch Beredſamkeit groß
zu werden, ſcheint in den neuern Zeiten ſich in
Frankreich zu aͤußern, wo man durch dieſe Kunſt
ſich wenigſtens einen großen Namen machen, und
bey vielen zu großem Anſehen kommen kann. Da,
wo es dem Eyfer fuͤr das gemeine Beſte, und fuͤr
die Erhaltung eines Reſts der Freyheit noch ver-
goͤnnt iſt, gegen die Unterdruͤkung zu kaͤmpfen, in
einigen Parlamenten, ſieht man noch bisweilen
Werke hervorkommen, die ſelbſt Athen und Rom
nicht wuͤrden gering geſchaͤzt haben. Es iſt auch
in dieſem Lande nicht ganz unerhoͤrt, daß die Be-
redſamkeit, die ihre Stimme blos in Schriften
erhebt, von einigem Einfluß auf allgemeine Staats-
entſchließungen geweſen ſey. Allein blos durch
Schriften reden, macht nur einen Theil der Kunſt
aus. Demoſthenes ſelbſt hat den muͤndlichen Vor-
trag fuͤr den wichtigſten Theil derſelben gehalten.
Alſo koͤnnen die, welche nur durch Schriften mit
ihrer Nation reden, die Kunſt niemal in ihrer
Staͤrke brauchen.

Deutſchland ſcheinet (es ſey ohne Beleidigung
geſagt) in ſeiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung, ein
fuͤr die Beredſamkeit ziemlich unfruchtbarer Boden
zu ſeyn. Zu ſagen, daß es den Deutſchen an Ge-
nie dazu fehle, waͤre ohne Zweifel eine grobe Un-
wahrheit; daß aber dem Deutſchen, der von der
Natur die Talente des Redners empfangen hat,
die Triebfedern ſich zu einer gewiſſen Groͤße zu
ſchwingen, ganz fehlen, iſt eine Wahrheit, die nie-
mand leugnen kann. Unſre Hoͤfe ſind fuͤr die
deutſche Beredſamkeit unempfindlich; unſre Staͤdte
haben eine allzugeringe Anzahl Einwohner, die
von ſchoͤnen Kuͤnſten geruͤhrt werden; und die we-
nigen, die das Gefuͤhl dafuͤr haben, ſind nicht von
dem Anſehen, um Eindruk auf das Publikum zu
machen. Wie wenig Kraft kann alſo Lob oder Tadel
auf ein maͤnnliches Gemuͤthe haben, da beyde von
ſo wenigen und ſo unbetraͤchtlichen Menſchen her-
kommen koͤnnen? in Athen war das ganze Volk
das, was in Deutſchland die kaum zu merkende
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Zahl,
Vt abeunte anima cadavera non conſiſtunt — — ſic Ale-
xandro fugiente exercitus ille palpitabat — — Perdiccis,
Seleucis atque Antigonis, tamquam Spiritibus etiamnum
calidis — — tandem flacceſcens exercitus et cadaveris
more tabidus, vermium inſtar ex ſeſe procreavit degeneres
Reges — ſemianimes. Ita ſane ſublato Cicerone

[Spaltenumbruch] ſtatim eloquentiae corpus, quod ab illo animabatur, elanguit;
et quamvis Oratores aliquet, Perſii, Senecae, Plinii, tam-
quam plena adhuc animae membra, cadentem calentemque
Spiritum reciperent — brevi tamen in mera Oratorum ca-
davera degeneratum eſt. Proluſ. Academ. L. I.
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[152/0164] Ber Ber mit der Freyheit ihren voͤlligen Untergang fand, ſo erhielt ſich doch die gerichtliche noch lange Zeit; auch blieb uͤberhaupt unter der Regierung der Caͤ- ſarn und einiger nachfolgender Kaiſer ein Theil der Hochachtung, die man in den letzten Zeiten der Republik fuͤr dieſe Kunſt hatte. Gut ſprechen zu koͤnnen war noch eine Zeitlang ein Talent, welches zu beſitzen ſelbſt die unumſchraͤnkten Herren der Welt fuͤr keine Kleinigkeit hielten. Allein das große Jn- tereſſe, das allein der Beredſamkeit das wahre Le- ben geben kann, war weg; und auch das wenigere Jntereſſe, wodurch die gerichtliche Beredſamkeit ſich erhalten hatte, fiel auch immer mehr, und endlich verſank die Beredſamkeit, wie ein todter Leichnam, in eine ekelhafte Verweſung. Als man in den neuern Zeiten wieder anfieng, die Wiſſenſchaften und Kuͤnſte der Alten aus dem Staube hervor zu ſuchen, war die Beredſamkeit eine der erſten, die die Achtung der Reuern auf ſich zog. Aus der Aſche der griechiſchen und roͤmiſchen Red- ner entſtund etwas, das man als eine Frucht der alten Kunſt zu reden anſehen konnte, ob es gleich nur eine ſchwache und entfernte Aehnlichkeit mit ihr hatte. Dieſe Abartung war eine natuͤr- liche Folge des minder fruchtbaren Bodens. Die Neuern lernten die Beredſamkeit wieder hoch- ſchaͤtzen, aber zu der Vollkommenheit, auf welcher ſie bey den Alten war, konnten ſie dieſelbe nicht bringen; denn die großen Triebfedern, wodurch dieſe Kunſt bey den Alten ihre Staͤrke erhalten hatte, waren nicht mehr vorhanden. Durch die Beredſamkeit kann man in den neuern Zeiten Ehre und Anſehen bey einem ſehr kleinen Theil ſeiner Nation erhalten; aber politiſche Macht, Einfluß auf die Entſchließungen der Regenten, auf das Schikſal ganzer Voͤlker, iſt kaum mehr daher zu erwarten. Alſo wird auch ein Genie, wie De- moſthenes oder Cicero geweſen, niemal zu der Groͤße kommen, die wir an dieſen Maͤnnern be- wundern. Das ſtaͤrkſte Beſtreben, durch Beredſamkeit groß zu werden, ſcheint in den neuern Zeiten ſich in Frankreich zu aͤußern, wo man durch dieſe Kunſt ſich wenigſtens einen großen Namen machen, und bey vielen zu großem Anſehen kommen kann. Da, wo es dem Eyfer fuͤr das gemeine Beſte, und fuͤr die Erhaltung eines Reſts der Freyheit noch ver- goͤnnt iſt, gegen die Unterdruͤkung zu kaͤmpfen, in einigen Parlamenten, ſieht man noch bisweilen Werke hervorkommen, die ſelbſt Athen und Rom nicht wuͤrden gering geſchaͤzt haben. Es iſt auch in dieſem Lande nicht ganz unerhoͤrt, daß die Be- redſamkeit, die ihre Stimme blos in Schriften erhebt, von einigem Einfluß auf allgemeine Staats- entſchließungen geweſen ſey. Allein blos durch Schriften reden, macht nur einen Theil der Kunſt aus. Demoſthenes ſelbſt hat den muͤndlichen Vor- trag fuͤr den wichtigſten Theil derſelben gehalten. Alſo koͤnnen die, welche nur durch Schriften mit ihrer Nation reden, die Kunſt niemal in ihrer Staͤrke brauchen. Deutſchland ſcheinet (es ſey ohne Beleidigung geſagt) in ſeiner gegenwaͤrtigen Verfaſſung, ein fuͤr die Beredſamkeit ziemlich unfruchtbarer Boden zu ſeyn. Zu ſagen, daß es den Deutſchen an Ge- nie dazu fehle, waͤre ohne Zweifel eine grobe Un- wahrheit; daß aber dem Deutſchen, der von der Natur die Talente des Redners empfangen hat, die Triebfedern ſich zu einer gewiſſen Groͤße zu ſchwingen, ganz fehlen, iſt eine Wahrheit, die nie- mand leugnen kann. Unſre Hoͤfe ſind fuͤr die deutſche Beredſamkeit unempfindlich; unſre Staͤdte haben eine allzugeringe Anzahl Einwohner, die von ſchoͤnen Kuͤnſten geruͤhrt werden; und die we- nigen, die das Gefuͤhl dafuͤr haben, ſind nicht von dem Anſehen, um Eindruk auf das Publikum zu machen. Wie wenig Kraft kann alſo Lob oder Tadel auf ein maͤnnliches Gemuͤthe haben, da beyde von ſo wenigen und ſo unbetraͤchtlichen Menſchen her- kommen koͤnnen? in Athen war das ganze Volk das, was in Deutſchland die kaum zu merkende Zahl, (†) (†) Vt abeunte anima cadavera non conſiſtunt — — ſic Ale- xandro fugiente exercitus ille palpitabat — — Perdiccis, Seleucis atque Antigonis, tamquam Spiritibus etiamnum calidis — — tandem flacceſcens exercitus et cadaveris more tabidus, vermium inſtar ex ſeſe procreavit degeneres Reges — ſemianimes. Ita ſane ſublato Cicerone — ſtatim eloquentiae corpus, quod ab illo animabatur, elanguit; et quamvis Oratores aliquet, Perſii, Senecae, Plinii, tam- quam plena adhuc animae membra, cadentem calentemque Spiritum reciperent — brevi tamen in mera Oratorum ca- davera degeneratum eſt. Proluſ. Academ. L. I. 1.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/164>, abgerufen am 24.11.2024.