jemals mit einiger Beziehung auf die gegenwär- tige Empfindung in der Seele gelegen, kömmt itzt wieder hervor.
Jn dieser Art der Begeisterung liegt nichts klar in der Seele, als die Empfindung, und alles, was eine nahe oder entfernte Beziehung darauf hat. Daher entsteht die ungemeine Leichtigkeit, das, was in der Empfindung liegt, auszudrüken; die Lebhaf- tigkeit und Stärke des Ausdruks; die süße Schwatz- haftigkeit in zärtlichen Affekten; der wilde, erstaun- liche oder herzrührende Ausdruk in heftigen Leiden- schaften; die große Mannigfaltigkeit lieblicher oder starker Bilder; die vielfältige Schattirungen der Empfindung; die seltsamen und träumerischen Ver- bindungen der Gegenstände; der, jeder Empfindung so genau angemessene, Ton, und alles, was sonst in dieser Art der Begeisterung sich offenbaret.
Dichter, die in diesem Zustand ihre Empfindun- gen äußern wollen, ergreifen die Leyer, und singen Hymnen, Oden oder Elegien. Nirgend sieht man alle diese Würkungen lebhafter, als in den Oden und Elegien der Propheten des jüdischen Volks.
Dieser Zustand hat seine verschiedenen Grade und mancherley Schattirung, so wol nach der Stärke und Art der Empfindung, als nach der Gemüths- art der fühlenden Person. Bisweilen zeiget sich die Empfindung mit der Gewalt eines wütenden Feuers oder eines alles fortreißenden Strohms; der Dich- ter fühlt sich von einer höhern Macht fortgerissen, wie Horaz, wenn er ausruft:
Quo me Bacche rapis tui Plenum?-- --
Jn dieser Begeisterung reißt er auch uns gewaltig mit sich fort, setzt uns in Erstaunen, oder in Schre- ken, oder in ausgelassene Freude. Andremale ist sie ein sanft schmelzendes Feuer, das die ganze Seele in Wollust oder Zärtlichkeit zerfließen macht. Als- denn fließen die Worte, wie ein sanfter Strohm, aber mit einem Ueberfluß von Gedanken und Vor- stellungen. Daher entstehen die Oden und Elegien der sanftern Gattung, die den Leser mit Zärtlichkeit, oder leichtem Vergnügen, oder süßer Traurigkeit erfüllen.
Fällt diese Begeisterung auf eine Seele, die in ihrem ordentlichen Zustand eine gesunde Urtheils- kraft und wolgeordnete Empfindungen besitzt# so bleibet auch ihren Schwärmereyen etwas von dem Gepräge einer ordentlichen Natur übrig: be- [Spaltenumbruch]
Beg
fällt sie aber Menschen von geringem Verstand und von unordentlichen Leidenschaften, so können ihre Würkungen nicht anders, als abentheuerlich und voll Narrheit seyn.
Es ist nicht schweer zu bestimmen, durch was für Gegenstände und in was für Umständen diese Art des Enthustasmus entstehe. Man kennt die ge- wöhnlichen Veranlasungen starker Leidenschaften, der Freude, der Traurigkeit, der Zärtlichkeit, der Ehrbegierde. Erscheinet ein leidenschaftlicher Ge- genstand in einem hellen Lichte, und rührt er ein Gemüthe, das schon für sich zu der Leidenschaft, worauf er sich bezieht, geneigt ist; so entsteht plötz- lich die erhöhete Würksamkeit, die der Grund des Enthusiasmus ist. Bey reizbaren Seelen, die gewisse Empfindungen, von welcher Art sie seyn, oft und bey mancherley Gelegenheiten gehabt ha- ben, werden selbige bisweilen von einer gering schei- nenden Ursache mit großer Lebhaftigkeit wieder re- ge. Wer lange unter dem Druk einer Widerwär- tigkeit geseufzet, und selbigen von vielen Seiten her empfunden hat; wer lange in Traurigkeit über ei- nen schmerzhaften Verlust vertieft gewesen; wer Empfindungen, von welcher Art sie seyen, lange in seinem Herzen genährt hat, der erfährt den vollen Ausbruch derselben, als einen plötzlichen Sturm, so bald eine auch blos zufällige Gelegenheit, nur ei- ne einzige dahin gehörige Vorstellung recht klar macht. Wie ein einziger Funken schnell einen großen Brand erregt, wenn die Materien vorher erhitzt gewesen; so kann die geringste Vorstellung von einer gewissen Lebhaftigkeit eine Menge in der Seele liegender Empfindungen plötzlich aufweken. Auf diese Art wird auch bey Dichtern, die Empfin- dungen von gewisser Art lange in ihrem Busen ge- nährt haben, der volle Enthusiasmus erwekt, so bald ein damit verbundener Gegenstand, durch wel- che Veranlasung es seyn mag, in einem sehr lebhaf- ten Licht erscheinet. Horaz sieht seinen Freund, Virgil, in ein Schiff steigen, und wünscht ihm eine glükliche Reise. Auf einmal fällt ihm dabey die Gefahr einer solchen Reise ein; die Zärtlichkeit für seinen Freund setzt ihn in Schreken; er verwünscht die Erfindung solcher verwegenen Reisen, und nun wacht plötzlich in ihm alles auf, was er jemals über die Verwegenheit der Menschen gedacht oder empfun- den hat. So ist der Enthusiasmus der bekannten Ode an den Virgil entstanden. (*)
(*) Lib. I. od. 3.
Die
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Beg
jemals mit einiger Beziehung auf die gegenwaͤr- tige Empfindung in der Seele gelegen, koͤmmt itzt wieder hervor.
Jn dieſer Art der Begeiſterung liegt nichts klar in der Seele, als die Empfindung, und alles, was eine nahe oder entfernte Beziehung darauf hat. Daher entſteht die ungemeine Leichtigkeit, das, was in der Empfindung liegt, auszudruͤken; die Lebhaf- tigkeit und Staͤrke des Ausdruks; die ſuͤße Schwatz- haftigkeit in zaͤrtlichen Affekten; der wilde, erſtaun- liche oder herzruͤhrende Ausdruk in heftigen Leiden- ſchaften; die große Mannigfaltigkeit lieblicher oder ſtarker Bilder; die vielfaͤltige Schattirungen der Empfindung; die ſeltſamen und traͤumeriſchen Ver- bindungen der Gegenſtaͤnde; der, jeder Empfindung ſo genau angemeſſene, Ton, und alles, was ſonſt in dieſer Art der Begeiſterung ſich offenbaret.
Dichter, die in dieſem Zuſtand ihre Empfindun- gen aͤußern wollen, ergreifen die Leyer, und ſingen Hymnen, Oden oder Elegien. Nirgend ſieht man alle dieſe Wuͤrkungen lebhafter, als in den Oden und Elegien der Propheten des juͤdiſchen Volks.
Dieſer Zuſtand hat ſeine verſchiedenen Grade und mancherley Schattirung, ſo wol nach der Staͤrke und Art der Empfindung, als nach der Gemuͤths- art der fuͤhlenden Perſon. Bisweilen zeiget ſich die Empfindung mit der Gewalt eines wuͤtenden Feuers oder eines alles fortreißenden Strohms; der Dich- ter fuͤhlt ſich von einer hoͤhern Macht fortgeriſſen, wie Horaz, wenn er ausruft:
Quo me Bacche rapis tui Plenum?— —
Jn dieſer Begeiſterung reißt er auch uns gewaltig mit ſich fort, ſetzt uns in Erſtaunen, oder in Schre- ken, oder in ausgelaſſene Freude. Andremale iſt ſie ein ſanft ſchmelzendes Feuer, das die ganze Seele in Wolluſt oder Zaͤrtlichkeit zerfließen macht. Als- denn fließen die Worte, wie ein ſanfter Strohm, aber mit einem Ueberfluß von Gedanken und Vor- ſtellungen. Daher entſtehen die Oden und Elegien der ſanftern Gattung, die den Leſer mit Zaͤrtlichkeit, oder leichtem Vergnuͤgen, oder ſuͤßer Traurigkeit erfuͤllen.
Faͤllt dieſe Begeiſterung auf eine Seele, die in ihrem ordentlichen Zuſtand eine geſunde Urtheils- kraft und wolgeordnete Empfindungen beſitzt# ſo bleibet auch ihren Schwaͤrmereyen etwas von dem Gepraͤge einer ordentlichen Natur uͤbrig: be- [Spaltenumbruch]
Beg
faͤllt ſie aber Menſchen von geringem Verſtand und von unordentlichen Leidenſchaften, ſo koͤnnen ihre Wuͤrkungen nicht anders, als abentheuerlich und voll Narrheit ſeyn.
Es iſt nicht ſchweer zu beſtimmen, durch was fuͤr Gegenſtaͤnde und in was fuͤr Umſtaͤnden dieſe Art des Enthuſtasmus entſtehe. Man kennt die ge- woͤhnlichen Veranlaſungen ſtarker Leidenſchaften, der Freude, der Traurigkeit, der Zaͤrtlichkeit, der Ehrbegierde. Erſcheinet ein leidenſchaftlicher Ge- genſtand in einem hellen Lichte, und ruͤhrt er ein Gemuͤthe, das ſchon fuͤr ſich zu der Leidenſchaft, worauf er ſich bezieht, geneigt iſt; ſo entſteht ploͤtz- lich die erhoͤhete Wuͤrkſamkeit, die der Grund des Enthuſiasmus iſt. Bey reizbaren Seelen, die gewiſſe Empfindungen, von welcher Art ſie ſeyn, oft und bey mancherley Gelegenheiten gehabt ha- ben, werden ſelbige bisweilen von einer gering ſchei- nenden Urſache mit großer Lebhaftigkeit wieder re- ge. Wer lange unter dem Druk einer Widerwaͤr- tigkeit geſeufzet, und ſelbigen von vielen Seiten her empfunden hat; wer lange in Traurigkeit uͤber ei- nen ſchmerzhaften Verluſt vertieft geweſen; wer Empfindungen, von welcher Art ſie ſeyen, lange in ſeinem Herzen genaͤhrt hat, der erfaͤhrt den vollen Ausbruch derſelben, als einen ploͤtzlichen Sturm, ſo bald eine auch blos zufaͤllige Gelegenheit, nur ei- ne einzige dahin gehoͤrige Vorſtellung recht klar macht. Wie ein einziger Funken ſchnell einen großen Brand erregt, wenn die Materien vorher erhitzt geweſen; ſo kann die geringſte Vorſtellung von einer gewiſſen Lebhaftigkeit eine Menge in der Seele liegender Empfindungen ploͤtzlich aufweken. Auf dieſe Art wird auch bey Dichtern, die Empfin- dungen von gewiſſer Art lange in ihrem Buſen ge- naͤhrt haben, der volle Enthuſiasmus erwekt, ſo bald ein damit verbundener Gegenſtand, durch wel- che Veranlaſung es ſeyn mag, in einem ſehr lebhaf- ten Licht erſcheinet. Horaz ſieht ſeinen Freund, Virgil, in ein Schiff ſteigen, und wuͤnſcht ihm eine gluͤkliche Reiſe. Auf einmal faͤllt ihm dabey die Gefahr einer ſolchen Reiſe ein; die Zaͤrtlichkeit fuͤr ſeinen Freund ſetzt ihn in Schreken; er verwuͤnſcht die Erfindung ſolcher verwegenen Reiſen, und nun wacht ploͤtzlich in ihm alles auf, was er jemals uͤber die Verwegenheit der Menſchen gedacht oder empfun- den hat. So iſt der Enthuſiasmus der bekannten Ode an den Virgil entſtanden. (*)
(*) Lib. I. od. 3.
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[138/0150]
Beg
Beg
jemals mit einiger Beziehung auf die gegenwaͤr-
tige Empfindung in der Seele gelegen, koͤmmt itzt
wieder hervor.
Jn dieſer Art der Begeiſterung liegt nichts klar
in der Seele, als die Empfindung, und alles, was
eine nahe oder entfernte Beziehung darauf hat.
Daher entſteht die ungemeine Leichtigkeit, das, was
in der Empfindung liegt, auszudruͤken; die Lebhaf-
tigkeit und Staͤrke des Ausdruks; die ſuͤße Schwatz-
haftigkeit in zaͤrtlichen Affekten; der wilde, erſtaun-
liche oder herzruͤhrende Ausdruk in heftigen Leiden-
ſchaften; die große Mannigfaltigkeit lieblicher oder
ſtarker Bilder; die vielfaͤltige Schattirungen der
Empfindung; die ſeltſamen und traͤumeriſchen Ver-
bindungen der Gegenſtaͤnde; der, jeder Empfindung
ſo genau angemeſſene, Ton, und alles, was ſonſt in
dieſer Art der Begeiſterung ſich offenbaret.
Dichter, die in dieſem Zuſtand ihre Empfindun-
gen aͤußern wollen, ergreifen die Leyer, und ſingen
Hymnen, Oden oder Elegien. Nirgend ſieht man
alle dieſe Wuͤrkungen lebhafter, als in den Oden
und Elegien der Propheten des juͤdiſchen Volks.
Dieſer Zuſtand hat ſeine verſchiedenen Grade und
mancherley Schattirung, ſo wol nach der Staͤrke
und Art der Empfindung, als nach der Gemuͤths-
art der fuͤhlenden Perſon. Bisweilen zeiget ſich die
Empfindung mit der Gewalt eines wuͤtenden Feuers
oder eines alles fortreißenden Strohms; der Dich-
ter fuͤhlt ſich von einer hoͤhern Macht fortgeriſſen,
wie Horaz, wenn er ausruft:
Quo me Bacche rapis tui
Plenum? — —
Jn dieſer Begeiſterung reißt er auch uns gewaltig mit
ſich fort, ſetzt uns in Erſtaunen, oder in Schre-
ken, oder in ausgelaſſene Freude. Andremale iſt
ſie ein ſanft ſchmelzendes Feuer, das die ganze Seele
in Wolluſt oder Zaͤrtlichkeit zerfließen macht. Als-
denn fließen die Worte, wie ein ſanfter Strohm,
aber mit einem Ueberfluß von Gedanken und Vor-
ſtellungen. Daher entſtehen die Oden und Elegien
der ſanftern Gattung, die den Leſer mit Zaͤrtlichkeit,
oder leichtem Vergnuͤgen, oder ſuͤßer Traurigkeit
erfuͤllen.
Faͤllt dieſe Begeiſterung auf eine Seele, die in
ihrem ordentlichen Zuſtand eine geſunde Urtheils-
kraft und wolgeordnete Empfindungen beſitzt# ſo
bleibet auch ihren Schwaͤrmereyen etwas von dem
Gepraͤge einer ordentlichen Natur uͤbrig: be-
faͤllt ſie aber Menſchen von geringem Verſtand und
von unordentlichen Leidenſchaften, ſo koͤnnen ihre
Wuͤrkungen nicht anders, als abentheuerlich und
voll Narrheit ſeyn.
Es iſt nicht ſchweer zu beſtimmen, durch was
fuͤr Gegenſtaͤnde und in was fuͤr Umſtaͤnden dieſe
Art des Enthuſtasmus entſtehe. Man kennt die ge-
woͤhnlichen Veranlaſungen ſtarker Leidenſchaften,
der Freude, der Traurigkeit, der Zaͤrtlichkeit, der
Ehrbegierde. Erſcheinet ein leidenſchaftlicher Ge-
genſtand in einem hellen Lichte, und ruͤhrt er ein
Gemuͤthe, das ſchon fuͤr ſich zu der Leidenſchaft,
worauf er ſich bezieht, geneigt iſt; ſo entſteht ploͤtz-
lich die erhoͤhete Wuͤrkſamkeit, die der Grund des
Enthuſiasmus iſt. Bey reizbaren Seelen, die
gewiſſe Empfindungen, von welcher Art ſie ſeyn,
oft und bey mancherley Gelegenheiten gehabt ha-
ben, werden ſelbige bisweilen von einer gering ſchei-
nenden Urſache mit großer Lebhaftigkeit wieder re-
ge. Wer lange unter dem Druk einer Widerwaͤr-
tigkeit geſeufzet, und ſelbigen von vielen Seiten her
empfunden hat; wer lange in Traurigkeit uͤber ei-
nen ſchmerzhaften Verluſt vertieft geweſen; wer
Empfindungen, von welcher Art ſie ſeyen, lange in
ſeinem Herzen genaͤhrt hat, der erfaͤhrt den vollen
Ausbruch derſelben, als einen ploͤtzlichen Sturm,
ſo bald eine auch blos zufaͤllige Gelegenheit, nur ei-
ne einzige dahin gehoͤrige Vorſtellung recht klar
macht. Wie ein einziger Funken ſchnell einen
großen Brand erregt, wenn die Materien vorher
erhitzt geweſen; ſo kann die geringſte Vorſtellung
von einer gewiſſen Lebhaftigkeit eine Menge in der
Seele liegender Empfindungen ploͤtzlich aufweken.
Auf dieſe Art wird auch bey Dichtern, die Empfin-
dungen von gewiſſer Art lange in ihrem Buſen ge-
naͤhrt haben, der volle Enthuſiasmus erwekt, ſo
bald ein damit verbundener Gegenſtand, durch wel-
che Veranlaſung es ſeyn mag, in einem ſehr lebhaf-
ten Licht erſcheinet. Horaz ſieht ſeinen Freund,
Virgil, in ein Schiff ſteigen, und wuͤnſcht ihm eine
gluͤkliche Reiſe. Auf einmal faͤllt ihm dabey die
Gefahr einer ſolchen Reiſe ein; die Zaͤrtlichkeit fuͤr
ſeinen Freund ſetzt ihn in Schreken; er verwuͤnſcht
die Erfindung ſolcher verwegenen Reiſen, und nun
wacht ploͤtzlich in ihm alles auf, was er jemals uͤber die
Verwegenheit der Menſchen gedacht oder empfun-
den hat. So iſt der Enthuſiasmus der bekannten
Ode an den Virgil entſtanden. (*)
Die
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/150>, abgerufen am 03.08.2024.
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