Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Aus tere Bearbeitung nach und nach entstanden, wären.Aber man glaube nicht, daß diese Leichtigkeit ohne Mühe erhalten worden. Jnsgemein ist das, was am leichtesten begriffen wird, dem Künstler am schweersten worden. Man sehe hierüber, was der scharfsinnige Verfasser des Versuchs über Popens Genie und Schriften sagt. [Spaltenumbruch] (+) Folgendes ist dar- aus genommen. "Moliere soll ganze Tage über ein schikliches Beywort, oder über einen Reim zu- gebracht haben, ob in seinen Versen gleich alle Flüs- sigkeit und Freyheit des natürlichen Gesprächs herr- schet. -- Man erzählt, Addison sey erstaunlich ei- gen in Ausputzung seiner prosaischen Arbeiten ge- wesen, daß er, nachdem der ganze Abdruk einer Auflage bey nahe geschehen war, den Druk verhin- dern wollte, um eine neue Präposition oder Con- junktion einzuschalten." Horaz hielt die Bemer- kung alles dessen, was zur vollkommenen Ausar- beitung gehört, für so wenig leicht, daß er dem Künstler das Nonum prematur in annum anräth. Die Nothwendigkeit einer langen Zurükhaltung Eine wichtige Sache dabey ist das kalte Blut. Aus ist. Der Künstler also, der mit Feuer entwirft,läßt manches aus; weil er es sieht, ohne daß es würklich vorhanden ist. Könnte er die, für welche er arbeitet, beym Anschauen seines Werks in eben die Fassung setzen, in welcher er bey Verfertigung desselben gewesen ist, so würde die Ausarbeitung überflüßig werden. Man behalte also jedes Werk so lange an sich, Dieser Theil der Kunst hat aber auch seine Ab- Ein Mahler hatte ein Gemählde von David Tei- wo (+) Man kann dieses in der bey Nicolai, in Berlin,
heraus gekommenen Sammlung vermischter Schriften [Spaltenumbruch] zur Beförderung der schönen Wissenschaften, nachlesen. S. den VI. Theil S. 136. u. s. f. [Spaltenumbruch] Aus tere Bearbeitung nach und nach entſtanden, waͤren.Aber man glaube nicht, daß dieſe Leichtigkeit ohne Muͤhe erhalten worden. Jnsgemein iſt das, was am leichteſten begriffen wird, dem Kuͤnſtler am ſchweerſten worden. Man ſehe hieruͤber, was der ſcharfſinnige Verfaſſer des Verſuchs uͤber Popens Genie und Schriften ſagt. [Spaltenumbruch] (†) Folgendes iſt dar- aus genommen. „Moliere ſoll ganze Tage uͤber ein ſchikliches Beywort, oder uͤber einen Reim zu- gebracht haben, ob in ſeinen Verſen gleich alle Fluͤſ- ſigkeit und Freyheit des natuͤrlichen Geſpraͤchs herr- ſchet. — Man erzaͤhlt, Addiſon ſey erſtaunlich ei- gen in Ausputzung ſeiner proſaiſchen Arbeiten ge- weſen, daß er, nachdem der ganze Abdruk einer Auflage bey nahe geſchehen war, den Druk verhin- dern wollte, um eine neue Praͤpoſition oder Con- junktion einzuſchalten.‟ Horaz hielt die Bemer- kung alles deſſen, was zur vollkommenen Ausar- beitung gehoͤrt, fuͤr ſo wenig leicht, daß er dem Kuͤnſtler das Nonum prematur in annum anraͤth. Die Nothwendigkeit einer langen Zuruͤkhaltung Eine wichtige Sache dabey iſt das kalte Blut. Aus iſt. Der Kuͤnſtler alſo, der mit Feuer entwirft,laͤßt manches aus; weil er es ſieht, ohne daß es wuͤrklich vorhanden iſt. Koͤnnte er die, fuͤr welche er arbeitet, beym Anſchauen ſeines Werks in eben die Faſſung ſetzen, in welcher er bey Verfertigung deſſelben geweſen iſt, ſo wuͤrde die Ausarbeitung uͤberfluͤßig werden. Man behalte alſo jedes Werk ſo lange an ſich, Dieſer Theil der Kunſt hat aber auch ſeine Ab- Ein Mahler hatte ein Gemaͤhlde von David Tei- wo (†) Man kann dieſes in der bey Nicolai, in Berlin,
heraus gekommenen Sammlung vermiſchter Schriften [Spaltenumbruch] zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, nachleſen. S. den VI. Theil S. 136. u. ſ. f. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0108" n="96"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Aus</hi></fw><lb/> tere Bearbeitung nach und nach entſtanden, waͤren.<lb/> Aber man glaube nicht, daß dieſe Leichtigkeit ohne<lb/> Muͤhe erhalten worden. Jnsgemein iſt das, was<lb/> am leichteſten begriffen wird, dem Kuͤnſtler am<lb/> ſchweerſten worden. 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Aus
Aus
tere Bearbeitung nach und nach entſtanden, waͤren.
Aber man glaube nicht, daß dieſe Leichtigkeit ohne
Muͤhe erhalten worden. Jnsgemein iſt das, was
am leichteſten begriffen wird, dem Kuͤnſtler am
ſchweerſten worden. Man ſehe hieruͤber, was der
ſcharfſinnige Verfaſſer des Verſuchs uͤber Popens
Genie und Schriften ſagt.
(†) Folgendes iſt dar-
aus genommen. „Moliere ſoll ganze Tage uͤber
ein ſchikliches Beywort, oder uͤber einen Reim zu-
gebracht haben, ob in ſeinen Verſen gleich alle Fluͤſ-
ſigkeit und Freyheit des natuͤrlichen Geſpraͤchs herr-
ſchet. — Man erzaͤhlt, Addiſon ſey erſtaunlich ei-
gen in Ausputzung ſeiner proſaiſchen Arbeiten ge-
weſen, daß er, nachdem der ganze Abdruk einer
Auflage bey nahe geſchehen war, den Druk verhin-
dern wollte, um eine neue Praͤpoſition oder Con-
junktion einzuſchalten.‟ Horaz hielt die Bemer-
kung alles deſſen, was zur vollkommenen Ausar-
beitung gehoͤrt, fuͤr ſo wenig leicht, daß er dem
Kuͤnſtler das Nonum prematur in annum anraͤth.
Die Nothwendigkeit einer langen Zuruͤkhaltung
des Werks, das vollkommen erſcheinen ſoll, laͤßt
ſich am leichteſten daher begreifen. Nur an den
Dingen, die uns durch den taͤglichen Gebrauch ſehr
gelaͤufig worden, erkennen wir jeden kleinen Man-
gel, und jede kleine Vollkommenheit. Alſo auch in
Werken des Geſchmaks. Erſt alsdenn, wenn man
ſie, wie man es nennt, auswendig kann, iſt man
im Stande, alle Kleinigkeiten zu bemerken. Die-
ſes aber iſt eben das, worauf es bey der Ausarbei-
tung ankoͤmmt. Wer alſo in der Ausarbeitung
nichts verſaͤumen will, muß ſein Werk, nachdem
es durch die Ausfuͤhrung alle ſeine Theile bekommen
hat, noch eine hinlaͤngliche Zeit in ſeinem Buſen
herum tragen; damit er es oft ſo wol im Ganzen,
als in den Theilen uͤberſehen koͤnne. Nur dieſe
genaue Bekanntſchaft mit ſeinem Werke ſetzet den
Kuͤnſtler in Stande, die Ausarbeitung deſſelben
gluͤklich zu vollfuͤhren.
Eine wichtige Sache dabey iſt das kalte Blut.
So wichtig das Feuer der Einbildungskraft beym
Entwurf eines Werks iſt, ſo ſchaͤdlich iſt es der
Ausarbeitung, davon wird der Philoſoph pſycholo-
giſche Gruͤnde angeben. Eine erhitzte Phantaſie
ſieht in jedem Gegenſtand mehr, als wuͤrklich darin
iſt. Der Kuͤnſtler alſo, der mit Feuer entwirft,
laͤßt manches aus; weil er es ſieht, ohne daß es
wuͤrklich vorhanden iſt. Koͤnnte er die, fuͤr welche
er arbeitet, beym Anſchauen ſeines Werks in eben
die Faſſung ſetzen, in welcher er bey Verfertigung
deſſelben geweſen iſt, ſo wuͤrde die Ausarbeitung
uͤberfluͤßig werden.
Man behalte alſo jedes Werk ſo lange an ſich,
bis man es ohne merkliche Regung der vaͤterlichen
Zaͤrtlichkeit, ohne Erneuerung des lebhaften Ge-
fuͤhls, in welchem es entworfen worden iſt, ganz
uͤberſehen kann; bis es uns ſelbſt einigermaßen
fremd geworden iſt. Alsdenn iſt das Urtheil davon
frey, und die Ausarbeitung moͤglich.
Dieſer Theil der Kunſt hat aber auch ſeine Ab-
wege. Man kann ein Meſſer, um ihm die hoͤchſte
Schaͤrfe zu geben, ſo lange ſchleifen, bis aller Stahl
weggeſchliffen iſt; und ſo kann durch eine uͤbertrie-
bene Ausarbeitung ein Werk viel von den hoͤhern
Kraͤften, die es gehabt hat, verlieren. Wer glaubt,
daß er jede Kleinigkeit, die er fuͤhlt, ausdruͤken
wolle, der irret ſich, und wird durch die dahin abzie-
lende Ausarbeitung ſein Werk verderben. Es
koͤmmt darauf an, daß auch von den kleinern
Schoͤnheiten nur die weſentlichſten gluͤklich in ein
Werk gebracht werden; dieſe machen, daß man
ſich die andern hinzu denkt. Eine Anekdote, die
ich von einem guten Kuͤnſtler habe, iſt hier an ih-
rer Stelle.
Ein Mahler hatte ein Gemaͤhlde von David Tei-
niers copirt; und fand, nachdem er allen moͤglichen
Fleis darauf gewendet hatte, ſeine Copie ohne Hal-
tung. Stuͤk fuͤr Stuͤk, jeden Theil, fuͤr ſich be-
trachtet, fand man nicht, daß etwas fehlte; den-
noch fehlte dem Ganzen faſt alles. Man ruft das
Aug eines Freundes zu Huͤlfe, ſetzt Original und
Copie neben einander, damit ein unpartheyiſches
Aug entdeke, was dieſer fehle. Hier zeiget ſich ei-
ne Ungleichheit in einem unerheblich ſcheinenden
Umſtand. Jm Vorgrund des Originals hieng ein
Stuͤk weiße Leinewand an einer Stange, und dieſer
kleine Umſtand war in der Copie ausgelaſſen. Der
Kenner kam auf die Vermuthung, daß dieſes ein
wichtiger Umſtand ſeyn moͤchte. Man klebte in
der Copie nur etwas weißes Papier an die Stelle,
wo
(†) Man kann dieſes in der bey Nicolai, in Berlin,
heraus gekommenen Sammlung vermiſchter Schriften
zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, nachleſen.
S. den VI. Theil S. 136. u. ſ. f.
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