verfertigen, und beydes nach Vevay zu Markte bringen. Und doch müssen diese armseligen Geschöpfe das Recht, in dieser unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von Castanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit schwe- ren Abgaben bezahlen.
Die traurigen Vorstellungen, die mir diese Leute erweckten, wurden durch angenehmere verdrängt, als ich neben erwähntem Marktplatz unter hohen Castanien- bäumen längst dem Ufer des Sees spazierte, und ge- genüber die Felsen von Meillerie im Gesicht hatte, die jedem, der Rousseaus neue Heloise gelesen hat, un- vergeßlich seyn müssen. Jetzt fiel mir der verliebte St. Preux ein*), wie er mit dem Fernglas in der Hand von diesen Felsen her nach Vevay herüber sah, um das Haus seiner geliebten Julie zu entdecken. Die Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die Scene der sonderbaren Auftritte, die Rousseau in dem 17 Br. des 4 Theils der neuen Heloise beschreibt; und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende- te, sah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf Clarens, die Hauptscene des sonderbaren Romans. Alles dieses machte einen so lebhaften Eindruck auf mich, daß ich in diesem Augenblick geneigt war, den ganzen Roman von Julie und St. Preux für wah- re Geschichte zu halten, die sich vor wenig Jahren hier zugetragen. Man findet hier, daß Rousseau die Hauptscene zu seinem Roman sehr gut gewählt hat; die ganze Gegend hat etwas romantisches. Ge- gen Abend fuhr ich wieder nach Lausanne zurück.
Den
*) S. die neue Heloise 28 Br. des 1 Theils.
Tagebuch von einer nach Nizza
verfertigen, und beydes nach Vevay zu Markte bringen. Und doch muͤſſen dieſe armſeligen Geſchoͤpfe das Recht, in dieſer unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von Caſtanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit ſchwe- ren Abgaben bezahlen.
Die traurigen Vorſtellungen, die mir dieſe Leute erweckten, wurden durch angenehmere verdraͤngt, als ich neben erwaͤhntem Marktplatz unter hohen Caſtanien- baͤumen laͤngſt dem Ufer des Sees ſpazierte, und ge- genuͤber die Felſen von Meillerie im Geſicht hatte, die jedem, der Rouſſeaus neue Heloiſe geleſen hat, un- vergeßlich ſeyn muͤſſen. Jetzt fiel mir der verliebte St. Preux ein*), wie er mit dem Fernglas in der Hand von dieſen Felſen her nach Vevay heruͤber ſah, um das Haus ſeiner geliebten Julie zu entdecken. Die Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die Scene der ſonderbaren Auftritte, die Rouſſeau in dem 17 Br. des 4 Theils der neuen Heloiſe beſchreibt; und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende- te, ſah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf Clarens, die Hauptſcene des ſonderbaren Romans. Alles dieſes machte einen ſo lebhaften Eindruck auf mich, daß ich in dieſem Augenblick geneigt war, den ganzen Roman von Julie und St. Preux fuͤr wah- re Geſchichte zu halten, die ſich vor wenig Jahren hier zugetragen. Man findet hier, daß Rouſſeau die Hauptſcene zu ſeinem Roman ſehr gut gewaͤhlt hat; die ganze Gegend hat etwas romantiſches. Ge- gen Abend fuhr ich wieder nach Lauſanne zuruͤck.
Den
*) S. die neue Heloiſe 28 Br. des 1 Theils.
<TEI><text><body><divn="1"><divtype="diaryEntry"n="2"><p><pbfacs="#f0074"n="56"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Tagebuch von einer nach Nizza</hi></fw><lb/>
verfertigen, und beydes nach <hirendition="#fr">Vevay</hi> zu Markte bringen.<lb/>
Und doch muͤſſen dieſe armſeligen Geſchoͤpfe das Recht,<lb/>
in dieſer unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von<lb/>
Caſtanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit ſchwe-<lb/>
ren Abgaben bezahlen.</p><lb/><p>Die traurigen Vorſtellungen, die mir dieſe Leute<lb/>
erweckten, wurden durch angenehmere verdraͤngt, als<lb/>
ich neben erwaͤhntem Marktplatz unter hohen Caſtanien-<lb/>
baͤumen laͤngſt dem Ufer des Sees ſpazierte, und ge-<lb/>
genuͤber die Felſen von <hirendition="#fr">Meillerie</hi> im Geſicht hatte,<lb/>
die jedem, der <hirendition="#fr">Rouſſeaus</hi> neue Heloiſe geleſen hat, un-<lb/>
vergeßlich ſeyn muͤſſen. Jetzt fiel mir der verliebte<lb/><hirendition="#fr">St. Preux</hi> ein<noteplace="foot"n="*)">S. die neue Heloiſe 28 Br. des 1 Theils.</note>, wie er mit dem Fernglas in der<lb/>
Hand von dieſen Felſen her nach <hirendition="#fr">Vevay</hi> heruͤber ſah,<lb/>
um das Haus ſeiner geliebten <hirendition="#fr">Julie</hi> zu entdecken. Die<lb/>
Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die<lb/>
Scene der ſonderbaren Auftritte, die <hirendition="#fr">Rouſſeau</hi> in dem<lb/>
17 Br. des 4 Theils der neuen Heloiſe beſchreibt;<lb/>
und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende-<lb/>
te, ſah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf<lb/><hirendition="#fr">Clarens,</hi> die Hauptſcene des ſonderbaren Romans.<lb/>
Alles dieſes machte einen ſo lebhaften Eindruck auf<lb/>
mich, daß ich in dieſem Augenblick geneigt war, den<lb/>
ganzen Roman von <hirendition="#fr">Julie</hi> und <hirendition="#fr">St. Preux</hi> fuͤr wah-<lb/>
re Geſchichte zu halten, die ſich vor wenig Jahren<lb/>
hier zugetragen. Man findet hier, daß <hirendition="#fr">Rouſſeau</hi><lb/>
die Hauptſcene zu ſeinem Roman ſehr gut gewaͤhlt<lb/>
hat; die ganze Gegend hat etwas romantiſches. Ge-<lb/>
gen Abend fuhr ich wieder nach <hirendition="#fr">Lauſanne</hi> zuruͤck.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Den</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[56/0074]
Tagebuch von einer nach Nizza
verfertigen, und beydes nach Vevay zu Markte bringen.
Und doch muͤſſen dieſe armſeligen Geſchoͤpfe das Recht,
in dieſer unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von
Caſtanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit ſchwe-
ren Abgaben bezahlen.
Die traurigen Vorſtellungen, die mir dieſe Leute
erweckten, wurden durch angenehmere verdraͤngt, als
ich neben erwaͤhntem Marktplatz unter hohen Caſtanien-
baͤumen laͤngſt dem Ufer des Sees ſpazierte, und ge-
genuͤber die Felſen von Meillerie im Geſicht hatte,
die jedem, der Rouſſeaus neue Heloiſe geleſen hat, un-
vergeßlich ſeyn muͤſſen. Jetzt fiel mir der verliebte
St. Preux ein *), wie er mit dem Fernglas in der
Hand von dieſen Felſen her nach Vevay heruͤber ſah,
um das Haus ſeiner geliebten Julie zu entdecken. Die
Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die
Scene der ſonderbaren Auftritte, die Rouſſeau in dem
17 Br. des 4 Theils der neuen Heloiſe beſchreibt;
und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende-
te, ſah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf
Clarens, die Hauptſcene des ſonderbaren Romans.
Alles dieſes machte einen ſo lebhaften Eindruck auf
mich, daß ich in dieſem Augenblick geneigt war, den
ganzen Roman von Julie und St. Preux fuͤr wah-
re Geſchichte zu halten, die ſich vor wenig Jahren
hier zugetragen. Man findet hier, daß Rouſſeau
die Hauptſcene zu ſeinem Roman ſehr gut gewaͤhlt
hat; die ganze Gegend hat etwas romantiſches. Ge-
gen Abend fuhr ich wieder nach Lauſanne zuruͤck.
Den
*) S. die neue Heloiſe 28 Br. des 1 Theils.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/74>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.