als das Meer, oder die ebenen Flächen der Lombar- dey gegen Venedig hin. Jch kam mit anbrechen- der Nacht hier an.
Den 3 Junius. Reise von Airol über den Gott- hard bis zum Dorfe Am Stäg. Zehn Stun- den weit.
Heute that ich die beschwerlichste und gefährlichsteReise über den Gott- hardsberg. der vielen Tagereisen, die ich bisher gemacht hatte; und ich werde lange daran denken. Der ganze Weg von Airol bis oben auf den Gotthardsberg ist fast durchgehends sehr steil. Gegen halb sechs Uhr des Morgens ritt ich aus, und immer so gerade in die Hö- he, als ob ich eine Treppe hinauf ritt. Auf der er- sten Stunde trifft man noch überall Holz an, schöne Lerchen- und Tannenbäume, die aber allmählig nie- driger werden, und endlich sich ganz verlieren. Der übrige Theil des Berges ist alsdenn kahler Felsen, hier und da, wo sie nicht gar zu steil sind, mit einer Decke von Gras und Kräutern überzogen.
Um 7 Uhr langte ich bey dem Schnee an. Nun hatte ich noch eine Stunde lang, oder etwas darüber zu steigen, und sah vor und um mich nichts, als eine weite Wüste von tiefem Schnee, der 20 bis 50 Fuß hoch die Gegend bedeckte. Der Theil des Berges, der so mit Schnee bedeckt war, ist noch immer eine Art von Thal, aber steil wie ein Dach; denn zu bey- den Seiten erheben sich Berge von kahlen Felsen in die obere Luft. Durch dieses steile mit Schnee be- deckte Felsenthal stürzt der Ticino in einem engen, tief in die Felsen ausgehöhlten Bette sehr rauschend her- unter, und läuft durch so viele Krümmungen, daß man oft darüber muß. Jetzt war der Strom mit
allen
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von Nizza nach Deutſchland.
als das Meer, oder die ebenen Flaͤchen der Lombar- dey gegen Venedig hin. Jch kam mit anbrechen- der Nacht hier an.
Den 3 Junius. Reiſe von Airol uͤber den Gott- hard bis zum Dorfe Am Staͤg. Zehn Stun- den weit.
Heute that ich die beſchwerlichſte und gefaͤhrlichſteReiſe uͤber den Gott- hardsberg. der vielen Tagereiſen, die ich bisher gemacht hatte; und ich werde lange daran denken. Der ganze Weg von Airol bis oben auf den Gotthardsberg iſt faſt durchgehends ſehr ſteil. Gegen halb ſechs Uhr des Morgens ritt ich aus, und immer ſo gerade in die Hoͤ- he, als ob ich eine Treppe hinauf ritt. Auf der er- ſten Stunde trifft man noch uͤberall Holz an, ſchoͤne Lerchen- und Tannenbaͤume, die aber allmaͤhlig nie- driger werden, und endlich ſich ganz verlieren. Der uͤbrige Theil des Berges iſt alsdenn kahler Felſen, hier und da, wo ſie nicht gar zu ſteil ſind, mit einer Decke von Gras und Kraͤutern uͤberzogen.
Um 7 Uhr langte ich bey dem Schnee an. Nun hatte ich noch eine Stunde lang, oder etwas daruͤber zu ſteigen, und ſah vor und um mich nichts, als eine weite Wuͤſte von tiefem Schnee, der 20 bis 50 Fuß hoch die Gegend bedeckte. Der Theil des Berges, der ſo mit Schnee bedeckt war, iſt noch immer eine Art von Thal, aber ſteil wie ein Dach; denn zu bey- den Seiten erheben ſich Berge von kahlen Felſen in die obere Luft. Durch dieſes ſteile mit Schnee be- deckte Felſenthal ſtuͤrzt der Ticino in einem engen, tief in die Felſen ausgehoͤhlten Bette ſehr rauſchend her- unter, und laͤuft durch ſo viele Kruͤmmungen, daß man oft daruͤber muß. Jetzt war der Strom mit
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von Nizza nach Deutſchland.
als das Meer, oder die ebenen Flaͤchen der Lombar-
dey gegen Venedig hin. Jch kam mit anbrechen-
der Nacht hier an.
Den 3 Junius. Reiſe von Airol uͤber den Gott-
hard bis zum Dorfe Am Staͤg. Zehn Stun-
den weit.
Heute that ich die beſchwerlichſte und gefaͤhrlichſte
der vielen Tagereiſen, die ich bisher gemacht hatte;
und ich werde lange daran denken. Der ganze Weg
von Airol bis oben auf den Gotthardsberg iſt faſt
durchgehends ſehr ſteil. Gegen halb ſechs Uhr des
Morgens ritt ich aus, und immer ſo gerade in die Hoͤ-
he, als ob ich eine Treppe hinauf ritt. Auf der er-
ſten Stunde trifft man noch uͤberall Holz an, ſchoͤne
Lerchen- und Tannenbaͤume, die aber allmaͤhlig nie-
driger werden, und endlich ſich ganz verlieren. Der
uͤbrige Theil des Berges iſt alsdenn kahler Felſen, hier
und da, wo ſie nicht gar zu ſteil ſind, mit einer Decke
von Gras und Kraͤutern uͤberzogen.
Reiſe uͤber
den Gott-
hardsberg.
Um 7 Uhr langte ich bey dem Schnee an. Nun
hatte ich noch eine Stunde lang, oder etwas daruͤber
zu ſteigen, und ſah vor und um mich nichts, als eine
weite Wuͤſte von tiefem Schnee, der 20 bis 50 Fuß
hoch die Gegend bedeckte. Der Theil des Berges,
der ſo mit Schnee bedeckt war, iſt noch immer eine
Art von Thal, aber ſteil wie ein Dach; denn zu bey-
den Seiten erheben ſich Berge von kahlen Felſen
in die obere Luft. Durch dieſes ſteile mit Schnee be-
deckte Felſenthal ſtuͤrzt der Ticino in einem engen, tief
in die Felſen ausgehoͤhlten Bette ſehr rauſchend her-
unter, und laͤuft durch ſo viele Kruͤmmungen, daß
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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/381>, abgerufen am 16.02.2025.
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