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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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von Nizza nach Deutschland.
rühmter Leute, die dieses kleine Land hervorgebracht
hat, bedenket, so sollte man auf die Vermuthung ge-
rathen, daß die Natur hier auf eine vorzüglich vor-
theilhafte und kräftige Weise wirke. Seit mehr als
zweyhundert Jahren haben sich von dieser Gegend aus
sehr viele fürtreffliche Köpfe von Gelehrten und Künst-
lern durch Jtalien verbreitet. Denn in diesem Länd-
chen selbst sind für solche Köpfe keine Aussichten.

Der Gasthof, in dem ich abtrat, ist das Haus,
wo die meisten von den Cantonen zur Beendigung der
von den landvögtischen Gerichten an sie gegangenen
Appellationen und Schlichtung anderer Geschäffte
jährlich hieher geschickten Gesandten einkehren. Die
meisten dieser Gesandten, besonders die aus den katho-
lischen Cantonen, haben die Gewohnheit, daß sie zum
Andenken ihre Wappen und Namen auf große Tafeln
gemalt in diesem Hause zurücklassen. Jeder Gesand-
te bekommt zu dieser Reise einen sogenannten Vorreu-
ter, der in der Liverey des Cantons vor dem Gesand-
ten herreitet, und die Dienste eines Staatsboten ver-
tritt. Auch diese, um ihren Herren nichts nachzuge-
ben, lassen ihr Andenken hier an den Mauern einer of-
fenen Gallerie des Hauses zurück, da sie einen Mann
zu Pferde mit seinem Livereymantel malen, und ihren
Namen nebst der Anzeige des Jahres, in dem sie da
gewesen, darunter setzen lassen. Eine besondere und
seltsame Aeußerung der Eitelkeit und Ruhmsucht, die
auch für die untersten Classen der Menschen ihre Reize
hat! Es scheinet mir nicht ganz unwichtig, um der
menschlichen Eitelkeit doch Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen, bey dieser Gelegenheit anzumerken, daß sie
doch noch immer mit einer Art Bescheidenheit verbun-

den

von Nizza nach Deutſchland.
ruͤhmter Leute, die dieſes kleine Land hervorgebracht
hat, bedenket, ſo ſollte man auf die Vermuthung ge-
rathen, daß die Natur hier auf eine vorzuͤglich vor-
theilhafte und kraͤftige Weiſe wirke. Seit mehr als
zweyhundert Jahren haben ſich von dieſer Gegend aus
ſehr viele fuͤrtreffliche Koͤpfe von Gelehrten und Kuͤnſt-
lern durch Jtalien verbreitet. Denn in dieſem Laͤnd-
chen ſelbſt ſind fuͤr ſolche Koͤpfe keine Ausſichten.

Der Gaſthof, in dem ich abtrat, iſt das Haus,
wo die meiſten von den Cantonen zur Beendigung der
von den landvoͤgtiſchen Gerichten an ſie gegangenen
Appellationen und Schlichtung anderer Geſchaͤffte
jaͤhrlich hieher geſchickten Geſandten einkehren. Die
meiſten dieſer Geſandten, beſonders die aus den katho-
liſchen Cantonen, haben die Gewohnheit, daß ſie zum
Andenken ihre Wappen und Namen auf große Tafeln
gemalt in dieſem Hauſe zuruͤcklaſſen. Jeder Geſand-
te bekommt zu dieſer Reiſe einen ſogenannten Vorreu-
ter, der in der Liverey des Cantons vor dem Geſand-
ten herreitet, und die Dienſte eines Staatsboten ver-
tritt. Auch dieſe, um ihren Herren nichts nachzuge-
ben, laſſen ihr Andenken hier an den Mauern einer of-
fenen Gallerie des Hauſes zuruͤck, da ſie einen Mann
zu Pferde mit ſeinem Livereymantel malen, und ihren
Namen nebſt der Anzeige des Jahres, in dem ſie da
geweſen, darunter ſetzen laſſen. Eine beſondere und
ſeltſame Aeußerung der Eitelkeit und Ruhmſucht, die
auch fuͤr die unterſten Claſſen der Menſchen ihre Reize
hat! Es ſcheinet mir nicht ganz unwichtig, um der
menſchlichen Eitelkeit doch Gerechtigkeit widerfahren
zu laſſen, bey dieſer Gelegenheit anzumerken, daß ſie
doch noch immer mit einer Art Beſcheidenheit verbun-

den
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[351/0371] von Nizza nach Deutſchland. ruͤhmter Leute, die dieſes kleine Land hervorgebracht hat, bedenket, ſo ſollte man auf die Vermuthung ge- rathen, daß die Natur hier auf eine vorzuͤglich vor- theilhafte und kraͤftige Weiſe wirke. Seit mehr als zweyhundert Jahren haben ſich von dieſer Gegend aus ſehr viele fuͤrtreffliche Koͤpfe von Gelehrten und Kuͤnſt- lern durch Jtalien verbreitet. Denn in dieſem Laͤnd- chen ſelbſt ſind fuͤr ſolche Koͤpfe keine Ausſichten. Der Gaſthof, in dem ich abtrat, iſt das Haus, wo die meiſten von den Cantonen zur Beendigung der von den landvoͤgtiſchen Gerichten an ſie gegangenen Appellationen und Schlichtung anderer Geſchaͤffte jaͤhrlich hieher geſchickten Geſandten einkehren. Die meiſten dieſer Geſandten, beſonders die aus den katho- liſchen Cantonen, haben die Gewohnheit, daß ſie zum Andenken ihre Wappen und Namen auf große Tafeln gemalt in dieſem Hauſe zuruͤcklaſſen. Jeder Geſand- te bekommt zu dieſer Reiſe einen ſogenannten Vorreu- ter, der in der Liverey des Cantons vor dem Geſand- ten herreitet, und die Dienſte eines Staatsboten ver- tritt. Auch dieſe, um ihren Herren nichts nachzuge- ben, laſſen ihr Andenken hier an den Mauern einer of- fenen Gallerie des Hauſes zuruͤck, da ſie einen Mann zu Pferde mit ſeinem Livereymantel malen, und ihren Namen nebſt der Anzeige des Jahres, in dem ſie da geweſen, darunter ſetzen laſſen. Eine beſondere und ſeltſame Aeußerung der Eitelkeit und Ruhmſucht, die auch fuͤr die unterſten Claſſen der Menſchen ihre Reize hat! Es ſcheinet mir nicht ganz unwichtig, um der menſchlichen Eitelkeit doch Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen, bey dieſer Gelegenheit anzumerken, daß ſie doch noch immer mit einer Art Beſcheidenheit verbun- den

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/371>, abgerufen am 25.11.2024.