Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.von Nizza nach Deutschland. mancherley Weise zu quälen, noch nicht. Jn Ver-gleichung der meiländischen Unterthanen, sind diese Leute wirklich freye Leute. Sie haben große Munici- palfreyheiten, und sind mit keinen Abgaben beschwert. Jch will, als etwas ganz besonders von der alten Ein- falt der Sitten, hier nur eines Umstandes gedenken. Jn der Landvogtey Locarno macht das Thal Verta- sca ein besonderes Gericht aus. Civilsachen werden von einem von dem Landvogt völlig unabhängigen Tri- bunal abgemacht, das aus einem Podesta, einem Statthalter und einem Kanzler besteht. Die gewöhn- lichen Gerichtstage werden nur alle Vierteljahre gehal- ten, da denn das Tribunal sich in einem dazu bestimm- ten Schopfen (Hangard) versammelt. Wenn es aber die Partheyen ausdrücklich verlangen, so ver- sammelt sich das Tribunal auch außerordentlich, aber an einem bestimmten Orte unter freyem Himmel. Nach altem Herkommen nimmt der Podesta seinen Sitz auf einem großen Steine; der Statthalter sitzt neben ihm auf der Erde; der Kanzler aber steht oder kniet neben einem andern Stein, der ihm zum Schrei- bepult dienet; die Partheyen und ihre Procuratoren aber stehen in einem Kreise um das Tribunal herum. Doch ich komme wieder zur Fortsetzung meines Weges. Den Rest meiner Tagereise von Mendrisio bis Den
von Nizza nach Deutſchland. mancherley Weiſe zu quaͤlen, noch nicht. Jn Ver-gleichung der meilaͤndiſchen Unterthanen, ſind dieſe Leute wirklich freye Leute. Sie haben große Munici- palfreyheiten, und ſind mit keinen Abgaben beſchwert. Jch will, als etwas ganz beſonders von der alten Ein- falt der Sitten, hier nur eines Umſtandes gedenken. Jn der Landvogtey Locarno macht das Thal Verta- ſca ein beſonderes Gericht aus. Civilſachen werden von einem von dem Landvogt voͤllig unabhaͤngigen Tri- bunal abgemacht, das aus einem Podeſta, einem Statthalter und einem Kanzler beſteht. Die gewoͤhn- lichen Gerichtstage werden nur alle Vierteljahre gehal- ten, da denn das Tribunal ſich in einem dazu beſtimm- ten Schopfen (Hangard) verſammelt. Wenn es aber die Partheyen ausdruͤcklich verlangen, ſo ver- ſammelt ſich das Tribunal auch außerordentlich, aber an einem beſtimmten Orte unter freyem Himmel. Nach altem Herkommen nimmt der Podeſta ſeinen Sitz auf einem großen Steine; der Statthalter ſitzt neben ihm auf der Erde; der Kanzler aber ſteht oder kniet neben einem andern Stein, der ihm zum Schrei- bepult dienet; die Partheyen und ihre Procuratoren aber ſtehen in einem Kreiſe um das Tribunal herum. Doch ich komme wieder zur Fortſetzung meines Weges. Den Reſt meiner Tagereiſe von Mendriſio bis Den
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von Nizza nach Deutſchland.
mancherley Weiſe zu quaͤlen, noch nicht. Jn Ver-
gleichung der meilaͤndiſchen Unterthanen, ſind dieſe
Leute wirklich freye Leute. Sie haben große Munici-
palfreyheiten, und ſind mit keinen Abgaben beſchwert.
Jch will, als etwas ganz beſonders von der alten Ein-
falt der Sitten, hier nur eines Umſtandes gedenken.
Jn der Landvogtey Locarno macht das Thal Verta-
ſca ein beſonderes Gericht aus. Civilſachen werden
von einem von dem Landvogt voͤllig unabhaͤngigen Tri-
bunal abgemacht, das aus einem Podeſta, einem
Statthalter und einem Kanzler beſteht. Die gewoͤhn-
lichen Gerichtstage werden nur alle Vierteljahre gehal-
ten, da denn das Tribunal ſich in einem dazu beſtimm-
ten Schopfen (Hangard) verſammelt. Wenn es
aber die Partheyen ausdruͤcklich verlangen, ſo ver-
ſammelt ſich das Tribunal auch außerordentlich, aber
an einem beſtimmten Orte unter freyem Himmel.
Nach altem Herkommen nimmt der Podeſta ſeinen
Sitz auf einem großen Steine; der Statthalter ſitzt
neben ihm auf der Erde; der Kanzler aber ſteht oder
kniet neben einem andern Stein, der ihm zum Schrei-
bepult dienet; die Partheyen und ihre Procuratoren
aber ſtehen in einem Kreiſe um das Tribunal herum.
Doch ich komme wieder zur Fortſetzung meines Weges.
Den Reſt meiner Tagereiſe von Mendriſio bis
Codelago mußte ich im Dunkeln machen, weil mich
die Nacht uͤberfallen hatte. Er war doch nicht ohne
Annehmlichkeit, weil damals die Luft mit einer Men-
ge fliegender Johanniswuͤrmer angefuͤllt war, die ein
angenehmes ſanftblitzendes Licht von ſich gaben.
Den
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