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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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von Nizza nach Deutschland.
Charakter der öffentlichen Gebäude des Alterthums in
den schönsten Zeiten der Kunst ausmachten.

Den Liebhabern der Baukunst ist der besondere
Geschmack des berühmten Pater Guarini bekannt,
der hier so viel öffentliche Gebäude angegeben, und
darin er immer etwas besondres und außerordentliches
angebracht hat. Er hatte ein großes Wohlgefallen
an Gebäuden von besonderer Kühnheit, davon die
große Theatinerkirche ein sehr auffallendes Beyspiel
ist, und von besonderer Figur. Er war ein größerer
Liebhaber von krummen als von geraden Linien, wo-
von man an dem Palaste des Prinzen von Carignan
besondere und ganz widersinnige Beyspiele sieht, da-
von ich der Seltenheit wegen nur eines anfüh-
ren will.

Die sonst prächtige Haupttreppe geht von zwey
Seiten des Vorhauses in die Höhe. Beyde Trep-
pen wenden sich nicht nur überhaupt in einem Bogen
um, sondern auch die Tritte selbst sind nach Bogen
ausgeschweift; die eine hat lauter auswärts oder con-
ver geschweifte, die andere einwärts oder concav aus-
geschnittene Stufen; und auf den ersten Blick scheinet
es sogar, daß die Stufen durchaus nicht gerade wa-
gerecht gestreckt, sondern auf der einen dieser Treppen
in Form eines Gewölbes erhöhet, an der andern als
eine Mulde ausgehöhlt wären. Dergleichen Unge-
reimtheiten liebte dieser sonst erfindungsreiche und küh-
ne geistliche Baumeister.

Zwey sich mehr an die Regeln bindende gute Bau-
meister hat Turin an dem Abt Philipp Juvara und
dem Chevalier Alfieri gehabt. Von dem ersten ist
die prächtige, aber doch zu reiche Faßade an dem Pa-

laste

von Nizza nach Deutſchland.
Charakter der oͤffentlichen Gebaͤude des Alterthums in
den ſchoͤnſten Zeiten der Kunſt ausmachten.

Den Liebhabern der Baukunſt iſt der beſondere
Geſchmack des beruͤhmten Pater Guarini bekannt,
der hier ſo viel oͤffentliche Gebaͤude angegeben, und
darin er immer etwas beſondres und außerordentliches
angebracht hat. Er hatte ein großes Wohlgefallen
an Gebaͤuden von beſonderer Kuͤhnheit, davon die
große Theatinerkirche ein ſehr auffallendes Beyſpiel
iſt, und von beſonderer Figur. Er war ein groͤßerer
Liebhaber von krummen als von geraden Linien, wo-
von man an dem Palaſte des Prinzen von Carignan
beſondere und ganz widerſinnige Beyſpiele ſieht, da-
von ich der Seltenheit wegen nur eines anfuͤh-
ren will.

Die ſonſt praͤchtige Haupttreppe geht von zwey
Seiten des Vorhauſes in die Hoͤhe. Beyde Trep-
pen wenden ſich nicht nur uͤberhaupt in einem Bogen
um, ſondern auch die Tritte ſelbſt ſind nach Bogen
ausgeſchweift; die eine hat lauter auswaͤrts oder con-
ver geſchweifte, die andere einwaͤrts oder concav aus-
geſchnittene Stufen; und auf den erſten Blick ſcheinet
es ſogar, daß die Stufen durchaus nicht gerade wa-
gerecht geſtreckt, ſondern auf der einen dieſer Treppen
in Form eines Gewoͤlbes erhoͤhet, an der andern als
eine Mulde ausgehoͤhlt waͤren. Dergleichen Unge-
reimtheiten liebte dieſer ſonſt erfindungsreiche und kuͤh-
ne geiſtliche Baumeiſter.

Zwey ſich mehr an die Regeln bindende gute Bau-
meiſter hat Turin an dem Abt Philipp Juvara und
dem Chevalier Alfieri gehabt. Von dem erſten iſt
die praͤchtige, aber doch zu reiche Faßade an dem Pa-

laſte
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[301/0321] von Nizza nach Deutſchland. Charakter der oͤffentlichen Gebaͤude des Alterthums in den ſchoͤnſten Zeiten der Kunſt ausmachten. Den Liebhabern der Baukunſt iſt der beſondere Geſchmack des beruͤhmten Pater Guarini bekannt, der hier ſo viel oͤffentliche Gebaͤude angegeben, und darin er immer etwas beſondres und außerordentliches angebracht hat. Er hatte ein großes Wohlgefallen an Gebaͤuden von beſonderer Kuͤhnheit, davon die große Theatinerkirche ein ſehr auffallendes Beyſpiel iſt, und von beſonderer Figur. Er war ein groͤßerer Liebhaber von krummen als von geraden Linien, wo- von man an dem Palaſte des Prinzen von Carignan beſondere und ganz widerſinnige Beyſpiele ſieht, da- von ich der Seltenheit wegen nur eines anfuͤh- ren will. Die ſonſt praͤchtige Haupttreppe geht von zwey Seiten des Vorhauſes in die Hoͤhe. Beyde Trep- pen wenden ſich nicht nur uͤberhaupt in einem Bogen um, ſondern auch die Tritte ſelbſt ſind nach Bogen ausgeſchweift; die eine hat lauter auswaͤrts oder con- ver geſchweifte, die andere einwaͤrts oder concav aus- geſchnittene Stufen; und auf den erſten Blick ſcheinet es ſogar, daß die Stufen durchaus nicht gerade wa- gerecht geſtreckt, ſondern auf der einen dieſer Treppen in Form eines Gewoͤlbes erhoͤhet, an der andern als eine Mulde ausgehoͤhlt waͤren. Dergleichen Unge- reimtheiten liebte dieſer ſonſt erfindungsreiche und kuͤh- ne geiſtliche Baumeiſter. Zwey ſich mehr an die Regeln bindende gute Bau- meiſter hat Turin an dem Abt Philipp Juvara und dem Chevalier Alfieri gehabt. Von dem erſten iſt die praͤchtige, aber doch zu reiche Faßade an dem Pa- laſte

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/321>, abgerufen am 24.11.2024.