Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite

Tagebuch von der Rückreise
nicht hervorbringe. Es gelinget der brutalsten Poli-
tik doch nie, den Landmann durch Unterdrückung bis
zur gefühllosen Geduld des Viehes zu erniedrigen.
Der Unterdrückte behält doch das Gefühl des Unrechts,
das er leiden muß, wird tückisch, faul, und verab-
scheut eine Arbeit, die nur seinem Unterdrücker zu gu-
te kommen würde. Hingegen eine natürliche mit
Freyheit verbundene Noth, die daher rühret, daß
das Schicksal mehr Menschen an einen Ort zusammen-
gebracht hat, als das wenige Land ernähren kann;
diese Noth reizet sie, Leibes- und Gemüthskräfte an-
zustrengen, um sich so gut, als möglich ist, zu helfen.

Jch kam um 11 Uhr in Sospello an, und rei-
sete um 1 Uhr wieder ab. Weil ich von weitem sah,
daß die erste halbe Stunde des Weges sich durch das
enge Thal allmählig gegen den Berg hinzog, den ich
zu übersteigen hatte, so nahm ich mir vor, dieses
Stück des Weges zu Fuße zu machen. Der Spa-
ziergang war sehr angenehm. Der Weg geht,
wiewohl etwas an der Seite eines Berges, durch ein
Thal unmerklich in die Höhe. Zu beyden Seiten des-
selben ist etwas angebautes Land, das zum Theil mit
Weinreben bepflanzt ist, zum Theil Ackerland und
Wiesen. Durch das Thal fließt ein angenehmer brei-
ter und klarer Bach, der artig über die darin liegen-
den Steine herabrieselt. Dieses schmale Thal ist et-
wa eine Stunde lang, und steiget allmählig gegen ei-
nen im Grunde desselben stehenden hohen Berg heran,
über den man nun weg muß. Dieses ist der Colle
di Brois.
Am Fuße ist er angebaut und reichlich
mit Olivenbäumen besetzt. Der Weg geht auch über
diesen Berg im Zikzak hin und her, wie über den

vor-

Tagebuch von der Ruͤckreiſe
nicht hervorbringe. Es gelinget der brutalſten Poli-
tik doch nie, den Landmann durch Unterdruͤckung bis
zur gefuͤhlloſen Geduld des Viehes zu erniedrigen.
Der Unterdruͤckte behaͤlt doch das Gefuͤhl des Unrechts,
das er leiden muß, wird tuͤckiſch, faul, und verab-
ſcheut eine Arbeit, die nur ſeinem Unterdruͤcker zu gu-
te kommen wuͤrde. Hingegen eine natuͤrliche mit
Freyheit verbundene Noth, die daher ruͤhret, daß
das Schickſal mehr Menſchen an einen Ort zuſammen-
gebracht hat, als das wenige Land ernaͤhren kann;
dieſe Noth reizet ſie, Leibes- und Gemuͤthskraͤfte an-
zuſtrengen, um ſich ſo gut, als moͤglich iſt, zu helfen.

Jch kam um 11 Uhr in Soſpello an, und rei-
ſete um 1 Uhr wieder ab. Weil ich von weitem ſah,
daß die erſte halbe Stunde des Weges ſich durch das
enge Thal allmaͤhlig gegen den Berg hinzog, den ich
zu uͤberſteigen hatte, ſo nahm ich mir vor, dieſes
Stuͤck des Weges zu Fuße zu machen. Der Spa-
ziergang war ſehr angenehm. Der Weg geht,
wiewohl etwas an der Seite eines Berges, durch ein
Thal unmerklich in die Hoͤhe. Zu beyden Seiten deſ-
ſelben iſt etwas angebautes Land, das zum Theil mit
Weinreben bepflanzt iſt, zum Theil Ackerland und
Wieſen. Durch das Thal fließt ein angenehmer brei-
ter und klarer Bach, der artig uͤber die darin liegen-
den Steine herabrieſelt. Dieſes ſchmale Thal iſt et-
wa eine Stunde lang, und ſteiget allmaͤhlig gegen ei-
nen im Grunde deſſelben ſtehenden hohen Berg heran,
uͤber den man nun weg muß. Dieſes iſt der Colle
di Brois.
Am Fuße iſt er angebaut und reichlich
mit Olivenbaͤumen beſetzt. Der Weg geht auch uͤber
dieſen Berg im Zikzak hin und her, wie uͤber den

vor-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="diaryEntry" n="2">
          <p><pb facs="#f0288" n="268"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Tagebuch von der Ru&#x0364;ckrei&#x017F;e</hi></fw><lb/>
nicht hervorbringe. Es gelinget der brutal&#x017F;ten Poli-<lb/>
tik doch nie, den Landmann durch Unterdru&#x0364;ckung bis<lb/>
zur gefu&#x0364;hllo&#x017F;en Geduld des Viehes zu erniedrigen.<lb/>
Der Unterdru&#x0364;ckte beha&#x0364;lt doch das Gefu&#x0364;hl des Unrechts,<lb/>
das er leiden muß, wird tu&#x0364;cki&#x017F;ch, faul, und verab-<lb/>
&#x017F;cheut eine Arbeit, die nur &#x017F;einem Unterdru&#x0364;cker zu gu-<lb/>
te kommen wu&#x0364;rde. Hingegen eine natu&#x0364;rliche mit<lb/>
Freyheit verbundene Noth, die daher ru&#x0364;hret, daß<lb/>
das Schick&#x017F;al mehr Men&#x017F;chen an einen Ort zu&#x017F;ammen-<lb/>
gebracht hat, als das wenige Land erna&#x0364;hren kann;<lb/>
die&#x017F;e Noth reizet &#x017F;ie, Leibes- und Gemu&#x0364;thskra&#x0364;fte an-<lb/>
zu&#x017F;trengen, um &#x017F;ich &#x017F;o gut, als mo&#x0364;glich i&#x017F;t, zu helfen.</p><lb/>
          <p>Jch kam um 11 Uhr in <hi rendition="#fr">So&#x017F;pello</hi> an, und rei-<lb/>
&#x017F;ete um 1 Uhr wieder ab. Weil ich von weitem &#x017F;ah,<lb/>
daß die er&#x017F;te halbe Stunde des Weges &#x017F;ich durch das<lb/>
enge Thal allma&#x0364;hlig gegen den Berg hinzog, den ich<lb/>
zu u&#x0364;ber&#x017F;teigen hatte, &#x017F;o nahm ich mir vor, die&#x017F;es<lb/>
Stu&#x0364;ck des Weges zu Fuße zu machen. Der Spa-<lb/>
ziergang war &#x017F;ehr angenehm. Der Weg geht,<lb/>
wiewohl etwas an der Seite eines Berges, durch ein<lb/>
Thal unmerklich in die Ho&#x0364;he. Zu beyden Seiten de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;elben i&#x017F;t etwas angebautes Land, das zum Theil mit<lb/>
Weinreben bepflanzt i&#x017F;t, zum Theil Ackerland und<lb/>
Wie&#x017F;en. Durch das Thal fließt ein angenehmer brei-<lb/>
ter und klarer Bach, der artig u&#x0364;ber die darin liegen-<lb/>
den Steine herabrie&#x017F;elt. Die&#x017F;es &#x017F;chmale Thal i&#x017F;t et-<lb/>
wa eine Stunde lang, und &#x017F;teiget allma&#x0364;hlig gegen ei-<lb/>
nen im Grunde de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;tehenden hohen Berg heran,<lb/>
u&#x0364;ber den man nun weg muß. Die&#x017F;es i&#x017F;t der <hi rendition="#fr">Colle<lb/>
di Brois.</hi> Am Fuße i&#x017F;t er angebaut und reichlich<lb/>
mit Olivenba&#x0364;umen be&#x017F;etzt. Der Weg geht auch u&#x0364;ber<lb/>
die&#x017F;en Berg im Zikzak hin und her, wie u&#x0364;ber den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">vor-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268/0288] Tagebuch von der Ruͤckreiſe nicht hervorbringe. Es gelinget der brutalſten Poli- tik doch nie, den Landmann durch Unterdruͤckung bis zur gefuͤhlloſen Geduld des Viehes zu erniedrigen. Der Unterdruͤckte behaͤlt doch das Gefuͤhl des Unrechts, das er leiden muß, wird tuͤckiſch, faul, und verab- ſcheut eine Arbeit, die nur ſeinem Unterdruͤcker zu gu- te kommen wuͤrde. Hingegen eine natuͤrliche mit Freyheit verbundene Noth, die daher ruͤhret, daß das Schickſal mehr Menſchen an einen Ort zuſammen- gebracht hat, als das wenige Land ernaͤhren kann; dieſe Noth reizet ſie, Leibes- und Gemuͤthskraͤfte an- zuſtrengen, um ſich ſo gut, als moͤglich iſt, zu helfen. Jch kam um 11 Uhr in Soſpello an, und rei- ſete um 1 Uhr wieder ab. Weil ich von weitem ſah, daß die erſte halbe Stunde des Weges ſich durch das enge Thal allmaͤhlig gegen den Berg hinzog, den ich zu uͤberſteigen hatte, ſo nahm ich mir vor, dieſes Stuͤck des Weges zu Fuße zu machen. Der Spa- ziergang war ſehr angenehm. Der Weg geht, wiewohl etwas an der Seite eines Berges, durch ein Thal unmerklich in die Hoͤhe. Zu beyden Seiten deſ- ſelben iſt etwas angebautes Land, das zum Theil mit Weinreben bepflanzt iſt, zum Theil Ackerland und Wieſen. Durch das Thal fließt ein angenehmer brei- ter und klarer Bach, der artig uͤber die darin liegen- den Steine herabrieſelt. Dieſes ſchmale Thal iſt et- wa eine Stunde lang, und ſteiget allmaͤhlig gegen ei- nen im Grunde deſſelben ſtehenden hohen Berg heran, uͤber den man nun weg muß. Dieſes iſt der Colle di Brois. Am Fuße iſt er angebaut und reichlich mit Olivenbaͤumen beſetzt. Der Weg geht auch uͤber dieſen Berg im Zikzak hin und her, wie uͤber den vor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/288
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/288>, abgerufen am 25.11.2024.