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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Vierzehnte Betrachtung.
deiner Seele gewesen seyn! Es war keine geringe Krän-
kung für dich, so viele Ungerechtigkeit, so grosse Grau-
samkeit, so erniedrigende Schmach und so vielfache Schlä-
ge zu erdulden. Aber unendlich mehr mußte dich der Fehl-
tritt deines Jüngers kränken, der, statt dich in deiner gros-
sen Marter aufzurichten, dein Herz durch neue und weit
empfindlichere Leiden verwundete. Allein auch dieses ge-
hörte zu dem vollen Maasse der Leiden, welches für dich
von deinem Vater bestimmt war. Du solltest sowohl für
die Missethaten deiner Feinde, als für die Fehltritte deiner
Freunde genug thun: der Schwache, wie der Starke,
der Spötter, wie der Meineidige, der Wankelmüthige,
wie der Ungetreue, sollte durch deine Leiden seine Versoh-
nung finden. Wie tröstlich ist dieser Umstand für mich,
da ich ein eben so verzagtes und treuloses Herz habe, wel-
ches mich zu gleichen Sünden verleiten kann! Die Ge-
schichte der Verläugnung Petri, ist die Geschichte meines
Herzens. Sein Fall müsse ein warnendes Beyspiel für
mich seyn, daß ich mich nie auf meine Kräfte verlasse, nie
aus Menschenfurcht meinem Erlöser untreu werde.

Ach, wie viel Ursache habe ich, vor der Gefahr zu
erschrecken, in welcher ich mich befinde! Ich lebe in einer
Welt, wo mich von allen Seiten Verführungen und Rei-
zungen umgeben, die auch das stärkste Herz wankelmüthig
machen können. Wie kann ich mich je auf meine Einsicht,
auf meine Redlichkeit, auf meine gute Vorsätze verlassen?
Ein kleiner Zufall, den ich nicht vorher sehen konnte, oder
welchen sich mein Herz als nichtsbedeutend vorstellte, kann
auf einmal meine redlichsten Entschliessungen fruchtlos ma-
chen. Eine kleine Schmeicheley, ein muntrer Scherz,
etwa die Furcht, denen zu mißfallen, an deren Zuneigung
uns etwas gelegen ist, etwa eine Aussicht in die Zukunft
die uns Glück und Ehre zeigt, etwa die Gefälligkeit, sich

nach

Vierzehnte Betrachtung.
deiner Seele geweſen ſeyn! Es war keine geringe Krän-
kung für dich, ſo viele Ungerechtigkeit, ſo groſſe Grau-
ſamkeit, ſo erniedrigende Schmach und ſo vielfache Schlä-
ge zu erdulden. Aber unendlich mehr mußte dich der Fehl-
tritt deines Jüngers kränken, der, ſtatt dich in deiner groſ-
ſen Marter aufzurichten, dein Herz durch neue und weit
empfindlichere Leiden verwundete. Allein auch dieſes ge-
hörte zu dem vollen Maaſſe der Leiden, welches für dich
von deinem Vater beſtimmt war. Du ſollteſt ſowohl für
die Miſſethaten deiner Feinde, als für die Fehltritte deiner
Freunde genug thun: der Schwache, wie der Starke,
der Spötter, wie der Meineidige, der Wankelmüthige,
wie der Ungetreue, ſollte durch deine Leiden ſeine Verſoh-
nung finden. Wie tröſtlich iſt dieſer Umſtand für mich,
da ich ein eben ſo verzagtes und treuloſes Herz habe, wel-
ches mich zu gleichen Sünden verleiten kann! Die Ge-
ſchichte der Verläugnung Petri, iſt die Geſchichte meines
Herzens. Sein Fall müſſe ein warnendes Beyſpiel für
mich ſeyn, daß ich mich nie auf meine Kräfte verlaſſe, nie
aus Menſchenfurcht meinem Erlöſer untreu werde.

Ach, wie viel Urſache habe ich, vor der Gefahr zu
erſchrecken, in welcher ich mich befinde! Ich lebe in einer
Welt, wo mich von allen Seiten Verführungen und Rei-
zungen umgeben, die auch das ſtärkſte Herz wankelmüthig
machen können. Wie kann ich mich je auf meine Einſicht,
auf meine Redlichkeit, auf meine gute Vorſätze verlaſſen?
Ein kleiner Zufall, den ich nicht vorher ſehen konnte, oder
welchen ſich mein Herz als nichtsbedeutend vorſtellte, kann
auf einmal meine redlichſten Entſchlieſſungen fruchtlos ma-
chen. Eine kleine Schmeicheley, ein muntrer Scherz,
etwa die Furcht, denen zu mißfallen, an deren Zuneigung
uns etwas gelegen iſt, etwa eine Ausſicht in die Zukunft
die uns Glück und Ehre zeigt, etwa die Gefälligkeit, ſich

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[68/0090] Vierzehnte Betrachtung. deiner Seele geweſen ſeyn! Es war keine geringe Krän- kung für dich, ſo viele Ungerechtigkeit, ſo groſſe Grau- ſamkeit, ſo erniedrigende Schmach und ſo vielfache Schlä- ge zu erdulden. Aber unendlich mehr mußte dich der Fehl- tritt deines Jüngers kränken, der, ſtatt dich in deiner groſ- ſen Marter aufzurichten, dein Herz durch neue und weit empfindlichere Leiden verwundete. Allein auch dieſes ge- hörte zu dem vollen Maaſſe der Leiden, welches für dich von deinem Vater beſtimmt war. Du ſollteſt ſowohl für die Miſſethaten deiner Feinde, als für die Fehltritte deiner Freunde genug thun: der Schwache, wie der Starke, der Spötter, wie der Meineidige, der Wankelmüthige, wie der Ungetreue, ſollte durch deine Leiden ſeine Verſoh- nung finden. Wie tröſtlich iſt dieſer Umſtand für mich, da ich ein eben ſo verzagtes und treuloſes Herz habe, wel- ches mich zu gleichen Sünden verleiten kann! Die Ge- ſchichte der Verläugnung Petri, iſt die Geſchichte meines Herzens. Sein Fall müſſe ein warnendes Beyſpiel für mich ſeyn, daß ich mich nie auf meine Kräfte verlaſſe, nie aus Menſchenfurcht meinem Erlöſer untreu werde. Ach, wie viel Urſache habe ich, vor der Gefahr zu erſchrecken, in welcher ich mich befinde! Ich lebe in einer Welt, wo mich von allen Seiten Verführungen und Rei- zungen umgeben, die auch das ſtärkſte Herz wankelmüthig machen können. Wie kann ich mich je auf meine Einſicht, auf meine Redlichkeit, auf meine gute Vorſätze verlaſſen? Ein kleiner Zufall, den ich nicht vorher ſehen konnte, oder welchen ſich mein Herz als nichtsbedeutend vorſtellte, kann auf einmal meine redlichſten Entſchlieſſungen fruchtlos ma- chen. Eine kleine Schmeicheley, ein muntrer Scherz, etwa die Furcht, denen zu mißfallen, an deren Zuneigung uns etwas gelegen iſt, etwa eine Ausſicht in die Zukunft die uns Glück und Ehre zeigt, etwa die Gefälligkeit, ſich nach

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/90>, abgerufen am 24.11.2024.