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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Vierte Betrachtung.
seinen Jüngern hin, die er so freundschaftlich gebeten hat-
te, mit ihm zu wachen, und sich im Gebet mit ihm zu
vereinigen. Aber er fand sie schlafend. Zum andernmal
war er einige Schritte von ihnen weggegangen, um aufs
neue seinen Kampf anzutreten. Er zagt, er ringt mit
dem Tode, er ruft zu seinem Vater mit heissen Flehen
und Thränen. Halbtodt kehrt er zu seinen Freunden zu-
rück. Und siehe, sie schlafen, sie wissen nicht, so voll
Schlafs sind sie, was sie ihm antworten. Zum drit-
tenmal begiebt sich Jesus auf den Kampfplatz, um den
letzten Rest des bittern Kreutzkelches zu trinken. Und
als er abermal seine Jünger im tiefen Schlaf findet, so
weckt er sie auf und spricht zu ihnen: Ach, wollt ihr
nun schlafen und ruhen?
Konnte Jesus nachsichts-
voller, konnte er zärtlicher gegen seine trägen Jünger han-
deln? Ihre wiederholten Fehltritte ermüdeten ihn nicht;
ihre grosse Trägheit erbitterte ihn nicht. Statt ihnen
unter den bittersten Vorwürfen ihre Unachtsamkeit und
Sorglosigkeit zu erkennen zu geben, ertheilt er ihnen die
zärtlichsten Ermahnungen, und beweißt gegen sie die
bewundernswürdigste Geduld. Wie wenig, mein Hei-
land, bin ich dir hierinn ähnlich! Ich habe es oft be-
merkt, daß die Schwere der Leiden mich zur Ungeduld
reitzt, und wie leicht ich unter meinen Bedrängnissen die
Pflichten der Liebe und Gütigkeit gegen meinen Näch-
sten vergesse. Je länger mein Leiden anzuhalten pflegt,
desto mürrischer und verdrüßlicher werde ich, desto stren-
ger beurtheile ich die geringsten F[e]hler meiner Freunde,
desto unzufriedener bin ich mit allem, was um und ne-
ben mir ist. Zum wenigsten glaube ich alle Nachsicht
zu verdienen, wenn ich unter meiner Noth nur an mich
selbst gedenke. Und sollte ich nicht vielmehr an meinen
Brüdern diese Liebespflichten beweisen, da du, mein Er-

lö-

Vierte Betrachtung.
ſeinen Jüngern hin, die er ſo freundſchaftlich gebeten hat-
te, mit ihm zu wachen, und ſich im Gebet mit ihm zu
vereinigen. Aber er fand ſie ſchlafend. Zum andernmal
war er einige Schritte von ihnen weggegangen, um aufs
neue ſeinen Kampf anzutreten. Er zagt, er ringt mit
dem Tode, er ruft zu ſeinem Vater mit heiſſen Flehen
und Thränen. Halbtodt kehrt er zu ſeinen Freunden zu-
rück. Und ſiehe, ſie ſchlafen, ſie wiſſen nicht, ſo voll
Schlafs ſind ſie, was ſie ihm antworten. Zum drit-
tenmal begiebt ſich Jeſus auf den Kampfplatz, um den
letzten Reſt des bittern Kreutzkelches zu trinken. Und
als er abermal ſeine Jünger im tiefen Schlaf findet, ſo
weckt er ſie auf und ſpricht zu ihnen: Ach, wollt ihr
nun ſchlafen und ruhen?
Konnte Jeſus nachſichts-
voller, konnte er zärtlicher gegen ſeine trägen Jünger han-
deln? Ihre wiederholten Fehltritte ermüdeten ihn nicht;
ihre groſſe Trägheit erbitterte ihn nicht. Statt ihnen
unter den bitterſten Vorwürfen ihre Unachtſamkeit und
Sorgloſigkeit zu erkennen zu geben, ertheilt er ihnen die
zärtlichſten Ermahnungen, und beweißt gegen ſie die
bewundernswürdigſte Geduld. Wie wenig, mein Hei-
land, bin ich dir hierinn ähnlich! Ich habe es oft be-
merkt, daß die Schwere der Leiden mich zur Ungeduld
reitzt, und wie leicht ich unter meinen Bedrängniſſen die
Pflichten der Liebe und Gütigkeit gegen meinen Näch-
ſten vergeſſe. Je länger mein Leiden anzuhalten pflegt,
deſto mürriſcher und verdrüßlicher werde ich, deſto ſtren-
ger beurtheile ich die geringſten F[e]hler meiner Freunde,
deſto unzufriedener bin ich mit allem, was um und ne-
ben mir iſt. Zum wenigſten glaube ich alle Nachſicht
zu verdienen, wenn ich unter meiner Noth nur an mich
ſelbſt gedenke. Und ſollte ich nicht vielmehr an meinen
Brüdern dieſe Liebespflichten beweiſen, da du, mein Er-

lö-
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[28/0050] Vierte Betrachtung. ſeinen Jüngern hin, die er ſo freundſchaftlich gebeten hat- te, mit ihm zu wachen, und ſich im Gebet mit ihm zu vereinigen. Aber er fand ſie ſchlafend. Zum andernmal war er einige Schritte von ihnen weggegangen, um aufs neue ſeinen Kampf anzutreten. Er zagt, er ringt mit dem Tode, er ruft zu ſeinem Vater mit heiſſen Flehen und Thränen. Halbtodt kehrt er zu ſeinen Freunden zu- rück. Und ſiehe, ſie ſchlafen, ſie wiſſen nicht, ſo voll Schlafs ſind ſie, was ſie ihm antworten. Zum drit- tenmal begiebt ſich Jeſus auf den Kampfplatz, um den letzten Reſt des bittern Kreutzkelches zu trinken. Und als er abermal ſeine Jünger im tiefen Schlaf findet, ſo weckt er ſie auf und ſpricht zu ihnen: Ach, wollt ihr nun ſchlafen und ruhen? Konnte Jeſus nachſichts- voller, konnte er zärtlicher gegen ſeine trägen Jünger han- deln? Ihre wiederholten Fehltritte ermüdeten ihn nicht; ihre groſſe Trägheit erbitterte ihn nicht. Statt ihnen unter den bitterſten Vorwürfen ihre Unachtſamkeit und Sorgloſigkeit zu erkennen zu geben, ertheilt er ihnen die zärtlichſten Ermahnungen, und beweißt gegen ſie die bewundernswürdigſte Geduld. Wie wenig, mein Hei- land, bin ich dir hierinn ähnlich! Ich habe es oft be- merkt, daß die Schwere der Leiden mich zur Ungeduld reitzt, und wie leicht ich unter meinen Bedrängniſſen die Pflichten der Liebe und Gütigkeit gegen meinen Näch- ſten vergeſſe. Je länger mein Leiden anzuhalten pflegt, deſto mürriſcher und verdrüßlicher werde ich, deſto ſtren- ger beurtheile ich die geringſten Fehler meiner Freunde, deſto unzufriedener bin ich mit allem, was um und ne- ben mir iſt. Zum wenigſten glaube ich alle Nachſicht zu verdienen, wenn ich unter meiner Noth nur an mich ſelbſt gedenke. Und ſollte ich nicht vielmehr an meinen Brüdern dieſe Liebespflichten beweiſen, da du, mein Er- lö-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/50>, abgerufen am 22.07.2024.