Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweyter Abschnitt.

3. Wie viel Ursache habe ich da ich in einer argen Welt lebe,
auch bey den theursten Freundschaftsversicherungen und Höflich-
keitsbezeugungen auf meiner Hut zu seyn!

4. Sollte nicht mein Heiland unter diesen Umständen jene
unerkannten Sünden gebüßt haben, da die Menschen andre
durch verstellte Höflichkeit zu hintergehen suchen?

5. Wie sehr muß man über die Leutseligkeit und Gnade Jesu
erstaunen, die er gegen den Judas mitten unter der Ausübung
seiner Frevelthat beweißt! Aber wie sehr muß man auch über
die Fühllosigkeit dieses Elenden erstaunen.

6. Es würde für mein Christenthum zuträglich seyn, wenn
ich öfters, z. E. bey dem Besuche des Gotteshauses an mein
Herz die Frage thäte: in welcher Absicht bin ich hieher gekommen?

8. Gegenwehr der Jünger.

Die Jünger sahen nun ihren Meister in den Händen
seiner Feinde. Dieser Anblick war ihnen unerträglich, be-
sonders, wenn sie nachdachten, mit welcher Grausamkeit
man gegen ihn verfahren würde. So wenig sie vor sich
selbst Muth genug hatten, sich der Gewalt zu wiedersetzen,
so hatte sie doch das Wunder, welches sie eben gesehen hat-
ten, so hertzhaft gemacht, daß sie es versuchen wollten,
Jesum mit Gewalt zu befreyen. Sie fragten ihn aber vor-
her um die Erlaubniß, mit dem Schwerdte drein hauen zu
dürfen. Allein Petrus war zu ungeduldig, die Antwort
Jesu abzuwarten. In der ersten Hitze zog er sein Schwerdt,
und schlug nach dem Malchus, einem Diener des Hohen-
priesters, der sich vielleicht vor andern am eifrigsten be-
wies, Jesum zu greifen, und hieb ihm das rechte Ohr
ab.

Praktische Anmerkungen.

1. Wie nachtheilig kann mir die Hitze meines Temperaments
werden, wenn ich sie nicht durch Vernunft und Religion zu
mäßigen suche?

2. Es
Zweyter Abſchnitt.

3. Wie viel Urſache habe ich da ich in einer argen Welt lebe,
auch bey den theurſten Freundſchaftsverſicherungen und Höflich-
keitsbezeugungen auf meiner Hut zu ſeyn!

4. Sollte nicht mein Heiland unter dieſen Umſtänden jene
unerkannten Sünden gebüßt haben, da die Menſchen andre
durch verſtellte Höflichkeit zu hintergehen ſuchen?

5. Wie ſehr muß man über die Leutſeligkeit und Gnade Jeſu
erſtaunen, die er gegen den Judas mitten unter der Ausübung
ſeiner Frevelthat beweißt! Aber wie ſehr muß man auch über
die Fühlloſigkeit dieſes Elenden erſtaunen.

6. Es würde für mein Chriſtenthum zuträglich ſeyn, wenn
ich öfters, z. E. bey dem Beſuche des Gotteshauſes an mein
Herz die Frage thäte: in welcher Abſicht bin ich hieher gekommen?

8. Gegenwehr der Jünger.

Die Jünger ſahen nun ihren Meiſter in den Händen
ſeiner Feinde. Dieſer Anblick war ihnen unerträglich, be-
ſonders, wenn ſie nachdachten, mit welcher Grauſamkeit
man gegen ihn verfahren würde. So wenig ſie vor ſich
ſelbſt Muth genug hatten, ſich der Gewalt zu wiederſetzen,
ſo hatte ſie doch das Wunder, welches ſie eben geſehen hat-
ten, ſo hertzhaft gemacht, daß ſie es verſuchen wollten,
Jeſum mit Gewalt zu befreyen. Sie fragten ihn aber vor-
her um die Erlaubniß, mit dem Schwerdte drein hauen zu
dürfen. Allein Petrus war zu ungeduldig, die Antwort
Jeſu abzuwarten. In der erſten Hitze zog er ſein Schwerdt,
und ſchlug nach dem Malchus, einem Diener des Hohen-
prieſters, der ſich vielleicht vor andern am eifrigſten be-
wies, Jeſum zu greifen, und hieb ihm das rechte Ohr
ab.

Praktiſche Anmerkungen.

1. Wie nachtheilig kann mir die Hitze meines Temperaments
werden, wenn ich ſie nicht durch Vernunft und Religion zu
mäßigen ſuche?

2. Es
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0252" n="230"/>
              <fw place="top" type="header">Zweyter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
              <p>3. Wie viel Ur&#x017F;ache habe ich da ich in einer argen Welt lebe,<lb/>
auch bey den theur&#x017F;ten Freund&#x017F;chaftsver&#x017F;icherungen und Höflich-<lb/>
keitsbezeugungen auf meiner Hut zu &#x017F;eyn!</p><lb/>
              <p>4. Sollte nicht mein Heiland unter die&#x017F;en Um&#x017F;tänden jene<lb/>
unerkannten Sünden gebüßt haben, da die Men&#x017F;chen andre<lb/>
durch ver&#x017F;tellte Höflichkeit zu hintergehen &#x017F;uchen?</p><lb/>
              <p>5. Wie &#x017F;ehr muß man über die Leut&#x017F;eligkeit und Gnade Je&#x017F;u<lb/>
er&#x017F;taunen, die er gegen den Judas mitten unter der Ausübung<lb/>
&#x017F;einer Frevelthat beweißt! Aber wie &#x017F;ehr muß man auch über<lb/>
die Fühllo&#x017F;igkeit die&#x017F;es Elenden er&#x017F;taunen.</p><lb/>
              <p>6. Es würde für mein Chri&#x017F;tenthum zuträglich &#x017F;eyn, wenn<lb/>
ich öfters, z. E. bey dem Be&#x017F;uche des Gotteshau&#x017F;es an mein<lb/>
Herz die Frage thäte: in welcher Ab&#x017F;icht bin ich hieher gekommen?</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>8. Gegenwehr der Jünger.</head><lb/>
            <p>Die Jünger &#x017F;ahen nun ihren Mei&#x017F;ter in den Händen<lb/>
&#x017F;einer Feinde. Die&#x017F;er Anblick war ihnen unerträglich, be-<lb/>
&#x017F;onders, wenn &#x017F;ie nachdachten, mit welcher Grau&#x017F;amkeit<lb/>
man gegen ihn verfahren würde. So wenig &#x017F;ie vor &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t Muth genug hatten, &#x017F;ich der Gewalt zu wieder&#x017F;etzen,<lb/>
&#x017F;o hatte &#x017F;ie doch das Wunder, welches &#x017F;ie eben ge&#x017F;ehen hat-<lb/>
ten, &#x017F;o hertzhaft gemacht, daß &#x017F;ie es ver&#x017F;uchen wollten,<lb/>
Je&#x017F;um mit Gewalt zu befreyen. Sie fragten ihn aber vor-<lb/>
her um die Erlaubniß, mit dem Schwerdte drein hauen zu<lb/>
dürfen. Allein Petrus war zu ungeduldig, die Antwort<lb/>
Je&#x017F;u abzuwarten. In der er&#x017F;ten Hitze zog er &#x017F;ein Schwerdt,<lb/>
und &#x017F;chlug nach dem Malchus, einem Diener des Hohen-<lb/>
prie&#x017F;ters, der &#x017F;ich vielleicht vor andern am eifrig&#x017F;ten be-<lb/>
wies, Je&#x017F;um zu greifen, und hieb ihm das rechte Ohr<lb/>
ab.</p><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#fr">Prakti&#x017F;che Anmerkungen.</hi> </head><lb/>
              <p>1. Wie nachtheilig kann mir die Hitze meines Temperaments<lb/>
werden, wenn ich &#x017F;ie nicht durch Vernunft und Religion zu<lb/>
mäßigen &#x017F;uche?</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">2. Es</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[230/0252] Zweyter Abſchnitt. 3. Wie viel Urſache habe ich da ich in einer argen Welt lebe, auch bey den theurſten Freundſchaftsverſicherungen und Höflich- keitsbezeugungen auf meiner Hut zu ſeyn! 4. Sollte nicht mein Heiland unter dieſen Umſtänden jene unerkannten Sünden gebüßt haben, da die Menſchen andre durch verſtellte Höflichkeit zu hintergehen ſuchen? 5. Wie ſehr muß man über die Leutſeligkeit und Gnade Jeſu erſtaunen, die er gegen den Judas mitten unter der Ausübung ſeiner Frevelthat beweißt! Aber wie ſehr muß man auch über die Fühlloſigkeit dieſes Elenden erſtaunen. 6. Es würde für mein Chriſtenthum zuträglich ſeyn, wenn ich öfters, z. E. bey dem Beſuche des Gotteshauſes an mein Herz die Frage thäte: in welcher Abſicht bin ich hieher gekommen? 8. Gegenwehr der Jünger. Die Jünger ſahen nun ihren Meiſter in den Händen ſeiner Feinde. Dieſer Anblick war ihnen unerträglich, be- ſonders, wenn ſie nachdachten, mit welcher Grauſamkeit man gegen ihn verfahren würde. So wenig ſie vor ſich ſelbſt Muth genug hatten, ſich der Gewalt zu wiederſetzen, ſo hatte ſie doch das Wunder, welches ſie eben geſehen hat- ten, ſo hertzhaft gemacht, daß ſie es verſuchen wollten, Jeſum mit Gewalt zu befreyen. Sie fragten ihn aber vor- her um die Erlaubniß, mit dem Schwerdte drein hauen zu dürfen. Allein Petrus war zu ungeduldig, die Antwort Jeſu abzuwarten. In der erſten Hitze zog er ſein Schwerdt, und ſchlug nach dem Malchus, einem Diener des Hohen- prieſters, der ſich vielleicht vor andern am eifrigſten be- wies, Jeſum zu greifen, und hieb ihm das rechte Ohr ab. Praktiſche Anmerkungen. 1. Wie nachtheilig kann mir die Hitze meines Temperaments werden, wenn ich ſie nicht durch Vernunft und Religion zu mäßigen ſuche? 2. Es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/252
Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/252>, abgerufen am 25.11.2024.