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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Ein und vierzigste Betrachtung.

Visher hatte Jesus noch einige Gedanken auf sein Lei-
den gerichtet, und einige Blicke auf seine Freunde
geworfen; nun aber richtet er sein ganzes Herz zu
dem empor, von welchem er gekommen war, und zu dem er
durch den Tod wieder zurückgehen wollte. Wie lehrreich
ist dieses Verhalten Jesu auch für mich! Es wird eine
Stunde kommen, wo ich aus der Verbindung mit allen
Sterblichen und mit meinen besten Freunden gerissen wer-
de; wo diese Welt mit allen ihren Gegenständen für mich
ohne Reiz seyn wird. In dieser Stunde der Trennung
will ich die Pflichten der Menschheit und der Freundschaft
erfüllen: ich will, so viel mir möglich ist, das Beste der
Meinigen besorgen und ihr Herz zu beruhigen suchen. Aber
vor allen Dingen will ich mein Herz auf Gott richten.
Lange genug habe ich mein Herz zwischen ihm und der
Welt getheilt; nun müsse ich meine Seele, meine Begier-
den und Neigungen ganz auf ihn hinlenken, und die Ver-
einigung mit ihm zu meiner Hauptangelegenheit machen.
Für einen Christen, der im Begrif ist, in jene bessere Welt
überzugehen, ist alles, was diese Welt noch enthält, zu nie-
drig und viel zu schwach, sein Herz zu beruhigen oder zu
stärken. Nur Gott und die Ewigkeit sind die Gegenstän-
de, welche einen Sterbenden über Welt und Zeit erheben
können.

In dieser Gemüthsfassung gieng Jesus mit der
größten Freudigkeit und Ruhe des Geistes seinem Tode
entgegen. Er wußte, daß sein Tod das Ende aller Ar-
beiten, und der Weg zu einer ewigen Ruhe seyn würde.
Er war der Herrlichkeit versichert, die ihm sein Vater nach
seinen Leiden geben würde. -- Wie muthig werde auch
ich bey dem Anblicke des Todes seyn können, wenn ich ihn
von dieser Seite betrachten kann. Nur für den, der ihn
nicht recht kennet, hat er eine schreckbare Gestalt. Aber

dem
Ein und vierzigſte Betrachtung.

Visher hatte Jeſus noch einige Gedanken auf ſein Lei-
den gerichtet, und einige Blicke auf ſeine Freunde
geworfen; nun aber richtet er ſein ganzes Herz zu
dem empor, von welchem er gekommen war, und zu dem er
durch den Tod wieder zurückgehen wollte. Wie lehrreich
iſt dieſes Verhalten Jeſu auch für mich! Es wird eine
Stunde kommen, wo ich aus der Verbindung mit allen
Sterblichen und mit meinen beſten Freunden geriſſen wer-
de; wo dieſe Welt mit allen ihren Gegenſtänden für mich
ohne Reiz ſeyn wird. In dieſer Stunde der Trennung
will ich die Pflichten der Menſchheit und der Freundſchaft
erfüllen: ich will, ſo viel mir möglich iſt, das Beſte der
Meinigen beſorgen und ihr Herz zu beruhigen ſuchen. Aber
vor allen Dingen will ich mein Herz auf Gott richten.
Lange genug habe ich mein Herz zwiſchen ihm und der
Welt getheilt; nun müſſe ich meine Seele, meine Begier-
den und Neigungen ganz auf ihn hinlenken, und die Ver-
einigung mit ihm zu meiner Hauptangelegenheit machen.
Für einen Chriſten, der im Begrif iſt, in jene beſſere Welt
überzugehen, iſt alles, was dieſe Welt noch enthält, zu nie-
drig und viel zu ſchwach, ſein Herz zu beruhigen oder zu
ſtärken. Nur Gott und die Ewigkeit ſind die Gegenſtän-
de, welche einen Sterbenden über Welt und Zeit erheben
können.

In dieſer Gemüthsfaſſung gieng Jeſus mit der
größten Freudigkeit und Ruhe des Geiſtes ſeinem Tode
entgegen. Er wußte, daß ſein Tod das Ende aller Ar-
beiten, und der Weg zu einer ewigen Ruhe ſeyn würde.
Er war der Herrlichkeit verſichert, die ihm ſein Vater nach
ſeinen Leiden geben würde. — Wie muthig werde auch
ich bey dem Anblicke des Todes ſeyn können, wenn ich ihn
von dieſer Seite betrachten kann. Nur für den, der ihn
nicht recht kennet, hat er eine ſchreckbare Geſtalt. Aber

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[184/0206] Ein und vierzigſte Betrachtung. Visher hatte Jeſus noch einige Gedanken auf ſein Lei- den gerichtet, und einige Blicke auf ſeine Freunde geworfen; nun aber richtet er ſein ganzes Herz zu dem empor, von welchem er gekommen war, und zu dem er durch den Tod wieder zurückgehen wollte. Wie lehrreich iſt dieſes Verhalten Jeſu auch für mich! Es wird eine Stunde kommen, wo ich aus der Verbindung mit allen Sterblichen und mit meinen beſten Freunden geriſſen wer- de; wo dieſe Welt mit allen ihren Gegenſtänden für mich ohne Reiz ſeyn wird. In dieſer Stunde der Trennung will ich die Pflichten der Menſchheit und der Freundſchaft erfüllen: ich will, ſo viel mir möglich iſt, das Beſte der Meinigen beſorgen und ihr Herz zu beruhigen ſuchen. Aber vor allen Dingen will ich mein Herz auf Gott richten. Lange genug habe ich mein Herz zwiſchen ihm und der Welt getheilt; nun müſſe ich meine Seele, meine Begier- den und Neigungen ganz auf ihn hinlenken, und die Ver- einigung mit ihm zu meiner Hauptangelegenheit machen. Für einen Chriſten, der im Begrif iſt, in jene beſſere Welt überzugehen, iſt alles, was dieſe Welt noch enthält, zu nie- drig und viel zu ſchwach, ſein Herz zu beruhigen oder zu ſtärken. Nur Gott und die Ewigkeit ſind die Gegenſtän- de, welche einen Sterbenden über Welt und Zeit erheben können. In dieſer Gemüthsfaſſung gieng Jeſus mit der größten Freudigkeit und Ruhe des Geiſtes ſeinem Tode entgegen. Er wußte, daß ſein Tod das Ende aller Ar- beiten, und der Weg zu einer ewigen Ruhe ſeyn würde. Er war der Herrlichkeit verſichert, die ihm ſein Vater nach ſeinen Leiden geben würde. — Wie muthig werde auch ich bey dem Anblicke des Todes ſeyn können, wenn ich ihn von dieſer Seite betrachten kann. Nur für den, der ihn nicht recht kennet, hat er eine ſchreckbare Geſtalt. Aber dem

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/206>, abgerufen am 25.11.2024.