Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Neun und dreyßigste Betrachtung.
werde ich in meiner Angst nicht verspottet werden Ach!
laß mich an dich denken, mein Heiland, in meinem letz-
ten peinlichen Durste laß mich an dich denken, und bey
jedem Tropfen Erquickung, der mir eingeflößt wird, die
Güte preisen, deren du mich im Tode würdigest.

Aber ich stelle mir vor, daß noch ein heftigerer Durst,
als der Durst nach irdischem Labsal, meine Seele im To-
de erfüllen wird. Ich mag in gesunden Tagen noch so
leichtsinnig, noch so unbekümmert um meine Seele gewe-
sen seyn, so weis ich doch, daß ich im Tode ernsthafter und
vernünftiger denken werde. Wenigstens ist es mein sehn-
lichster Wunsch, daß ich alsdann, wenn mich keine irdi-
sche Erquickung mehr stärken wird, alsdann, wenn ich das
Eitle und Leere in allen weltlichen Vergnügungen einsehen
werde, wenn nun die ganze Welt mit allem Labsal zu un-
zulänglich zur Sättigung meines Geistes seyn wird, alsdann
wünsche ich, daß ich mit allen Begierden meines Her-
zens nach den Gütern der Gnade und den Erquickungen
der Ewigkeit dürsten möge Und dann, mein Heiland,
laß mich nicht unbegnadiget, nicht unerquickt bleiben. Gieb
mir alsdann was Grosses und Ewiges zu meiner Sätti-
gung, und stille das unendliche Verlangen meiner Seele
durch den Genuß jener im Himmel für mich aufbehalte-
nen Seligkeiten. Ja dahin, dahin wird sich mein Geist
sehnen, wenn er in der Welt nicht mehr Ruhe findet. Da-
hin wird mein Glaube blicken, wenn vor meinen Augen
alle irdischen Gegenständen verschwinden werden. Da,
da wünsche ich zu seyn, wo ich ewig Gottes Angesicht
schauen werde.

Vielleicht, wenn ich dem Tode nahe seyn werde, wird
noch ein andres Verlangen in meiner Seele entstehen.
Ich werde wünschen, daß mein Gatte, oder meine Kin-
der, oder meine Freunde, oder diejenigen, die ich durch mei-

nen

Neun und dreyßigſte Betrachtung.
werde ich in meiner Angſt nicht verſpottet werden Ach!
laß mich an dich denken, mein Heiland, in meinem letz-
ten peinlichen Durſte laß mich an dich denken, und bey
jedem Tropfen Erquickung, der mir eingeflößt wird, die
Güte preiſen, deren du mich im Tode würdigeſt.

Aber ich ſtelle mir vor, daß noch ein heftigerer Durſt,
als der Durſt nach irdiſchem Labſal, meine Seele im To-
de erfüllen wird. Ich mag in geſunden Tagen noch ſo
leichtſinnig, noch ſo unbekümmert um meine Seele gewe-
ſen ſeyn, ſo weis ich doch, daß ich im Tode ernſthafter und
vernünftiger denken werde. Wenigſtens iſt es mein ſehn-
lichſter Wunſch, daß ich alsdann, wenn mich keine irdi-
ſche Erquickung mehr ſtärken wird, alsdann, wenn ich das
Eitle und Leere in allen weltlichen Vergnügungen einſehen
werde, wenn nun die ganze Welt mit allem Labſal zu un-
zulänglich zur Sättigung meines Geiſtes ſeyn wird, alsdann
wünſche ich, daß ich mit allen Begierden meines Her-
zens nach den Gütern der Gnade und den Erquickungen
der Ewigkeit dürſten möge Und dann, mein Heiland,
laß mich nicht unbegnadiget, nicht unerquickt bleiben. Gieb
mir alsdann was Groſſes und Ewiges zu meiner Sätti-
gung, und ſtille das unendliche Verlangen meiner Seele
durch den Genuß jener im Himmel für mich aufbehalte-
nen Seligkeiten. Ja dahin, dahin wird ſich mein Geiſt
ſehnen, wenn er in der Welt nicht mehr Ruhe findet. Da-
hin wird mein Glaube blicken, wenn vor meinen Augen
alle irdiſchen Gegenſtänden verſchwinden werden. Da,
da wünſche ich zu ſeyn, wo ich ewig Gottes Angeſicht
ſchauen werde.

Vielleicht, wenn ich dem Tode nahe ſeyn werde, wird
noch ein andres Verlangen in meiner Seele entſtehen.
Ich werde wünſchen, daß mein Gatte, oder meine Kin-
der, oder meine Freunde, oder diejenigen, die ich durch mei-

nen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0200" n="178"/><fw place="top" type="header">Neun und dreyßig&#x017F;te Betrachtung.</fw><lb/>
werde ich in meiner Ang&#x017F;t nicht ver&#x017F;pottet werden Ach!<lb/>
laß mich an dich denken, mein Heiland, in meinem letz-<lb/>
ten peinlichen Dur&#x017F;te laß mich an dich denken, und bey<lb/>
jedem Tropfen Erquickung, der mir eingeflößt wird, die<lb/>
Güte prei&#x017F;en, deren du mich im Tode würdige&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Aber ich &#x017F;telle mir vor, daß noch ein heftigerer Dur&#x017F;t,<lb/>
als der Dur&#x017F;t nach irdi&#x017F;chem Lab&#x017F;al, meine Seele im To-<lb/>
de erfüllen wird. Ich mag in ge&#x017F;unden Tagen noch &#x017F;o<lb/>
leicht&#x017F;innig, noch &#x017F;o unbekümmert um meine Seele gewe-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;eyn, &#x017F;o weis ich doch, daß ich im Tode ern&#x017F;thafter und<lb/>
vernünftiger denken werde. Wenig&#x017F;tens i&#x017F;t es mein &#x017F;ehn-<lb/>
lich&#x017F;ter Wun&#x017F;ch, daß ich alsdann, wenn mich keine irdi-<lb/>
&#x017F;che Erquickung mehr &#x017F;tärken wird, alsdann, wenn ich das<lb/>
Eitle und Leere in allen weltlichen Vergnügungen ein&#x017F;ehen<lb/>
werde, wenn nun die ganze Welt mit allem Lab&#x017F;al zu un-<lb/>
zulänglich zur Sättigung meines Gei&#x017F;tes &#x017F;eyn wird, alsdann<lb/>
wün&#x017F;che ich, daß ich mit allen Begierden meines Her-<lb/>
zens nach den Gütern der Gnade und den Erquickungen<lb/>
der Ewigkeit dür&#x017F;ten möge Und dann, mein Heiland,<lb/>
laß mich nicht unbegnadiget, nicht unerquickt bleiben. Gieb<lb/>
mir alsdann was Gro&#x017F;&#x017F;es und Ewiges zu meiner Sätti-<lb/>
gung, und &#x017F;tille das unendliche Verlangen meiner Seele<lb/>
durch den Genuß jener im Himmel für mich aufbehalte-<lb/>
nen Seligkeiten. Ja dahin, dahin wird &#x017F;ich mein Gei&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ehnen, wenn er in der Welt nicht mehr Ruhe findet. Da-<lb/>
hin wird mein Glaube blicken, wenn vor meinen Augen<lb/>
alle irdi&#x017F;chen Gegen&#x017F;tänden ver&#x017F;chwinden werden. Da,<lb/>
da wün&#x017F;che ich zu &#x017F;eyn, wo ich ewig Gottes Ange&#x017F;icht<lb/>
&#x017F;chauen werde.</p><lb/>
          <p>Vielleicht, wenn ich dem Tode nahe &#x017F;eyn werde, wird<lb/>
noch ein andres Verlangen in meiner Seele ent&#x017F;tehen.<lb/>
Ich werde wün&#x017F;chen, daß mein Gatte, oder meine Kin-<lb/>
der, oder meine Freunde, oder diejenigen, die ich durch mei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0200] Neun und dreyßigſte Betrachtung. werde ich in meiner Angſt nicht verſpottet werden Ach! laß mich an dich denken, mein Heiland, in meinem letz- ten peinlichen Durſte laß mich an dich denken, und bey jedem Tropfen Erquickung, der mir eingeflößt wird, die Güte preiſen, deren du mich im Tode würdigeſt. Aber ich ſtelle mir vor, daß noch ein heftigerer Durſt, als der Durſt nach irdiſchem Labſal, meine Seele im To- de erfüllen wird. Ich mag in geſunden Tagen noch ſo leichtſinnig, noch ſo unbekümmert um meine Seele gewe- ſen ſeyn, ſo weis ich doch, daß ich im Tode ernſthafter und vernünftiger denken werde. Wenigſtens iſt es mein ſehn- lichſter Wunſch, daß ich alsdann, wenn mich keine irdi- ſche Erquickung mehr ſtärken wird, alsdann, wenn ich das Eitle und Leere in allen weltlichen Vergnügungen einſehen werde, wenn nun die ganze Welt mit allem Labſal zu un- zulänglich zur Sättigung meines Geiſtes ſeyn wird, alsdann wünſche ich, daß ich mit allen Begierden meines Her- zens nach den Gütern der Gnade und den Erquickungen der Ewigkeit dürſten möge Und dann, mein Heiland, laß mich nicht unbegnadiget, nicht unerquickt bleiben. Gieb mir alsdann was Groſſes und Ewiges zu meiner Sätti- gung, und ſtille das unendliche Verlangen meiner Seele durch den Genuß jener im Himmel für mich aufbehalte- nen Seligkeiten. Ja dahin, dahin wird ſich mein Geiſt ſehnen, wenn er in der Welt nicht mehr Ruhe findet. Da- hin wird mein Glaube blicken, wenn vor meinen Augen alle irdiſchen Gegenſtänden verſchwinden werden. Da, da wünſche ich zu ſeyn, wo ich ewig Gottes Angeſicht ſchauen werde. Vielleicht, wenn ich dem Tode nahe ſeyn werde, wird noch ein andres Verlangen in meiner Seele entſtehen. Ich werde wünſchen, daß mein Gatte, oder meine Kin- der, oder meine Freunde, oder diejenigen, die ich durch mei- nen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/200
Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/200>, abgerufen am 28.11.2024.