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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Acht und dreyßigste Betrachtung.
würdiger Stille des Geistes jede Marter, die ihnen zu-
gefügt wurde. Ja, statt zu weinen und in Klagen auszu-
brechen, giengen sie mit einer Art des Triumphs ihrem
Schicksal entgegen. Allein wie? Diese Märtyrer des
Staats und der Religion, die nur Menschen und bey aller
Unschuld doch Sünder waren, konnten dem Tode Trotz
bieten, konnten die schrecklichsten Leiden verachten, konn-
ten mit Freuden auf Scheiterhaufen steigen, und mitten un-
ter den Flammen Loblieder anstimmen? Und Jesus, der
hochgelobte Sohn Gottes, der Allerunschuldigste, der
weit mehr Gründe hatte, dem Tode Trotz zu bieten, der
ihn nur darum erduldete, weil er ihn erdulden wollte; Je-
sus Christus beweißt weniger Standhaftigkeit, weniger
Entschlossenheit, als die Märtyrer? Er klagt: mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Wel-
che Sprache für den Gottmenschen, der dem Tode mit ei-
nem Triumph entgegen gehen sollte! Woher kommt diese
Unähnlichkeit? Der Tod dieses Gottmenschen war ein
Opfer für die Sünden der Welt; er war von einer Bit-
terkeit begleitet, von welcher kein Sterbender, kein Märty-
rer seit der Schöpfung ein so volles Maas gekostet hatte.
In diesem Augenblick erduldete er alles, was er als ein
Opfer für unsre Sünden ausstehen mußte. Dis ist die
Auflösung dieser Klage des gekreuzigten Jesu, welche ohne
diese Erklärung ein unauflösliches Räthsel bleiben würde.

Aber welchen Eindruck muß diese Stimme des ster-
benden Jesu auf mein Herz machen! Kann ich ihm das
zärtlichste Mitleiden versagen? Ich würde diese traurige
Pflicht selbst demjenigen erzeigen, welcher als ein blosser
Mensch den Tod der Unschuld stürbe. Ich würde ohn-
streitig gerührt werden, wenn ich einen Tugendhaften un-
terdrückt oder dem Haß und der Rache der Gottlosen auf-
geopfert sehen sollte. Allein was werde ich hier empfin-

den

Acht und dreyßigſte Betrachtung.
würdiger Stille des Geiſtes jede Marter, die ihnen zu-
gefügt wurde. Ja, ſtatt zu weinen und in Klagen auszu-
brechen, giengen ſie mit einer Art des Triumphs ihrem
Schickſal entgegen. Allein wie? Dieſe Märtyrer des
Staats und der Religion, die nur Menſchen und bey aller
Unſchuld doch Sünder waren, konnten dem Tode Trotz
bieten, konnten die ſchrecklichſten Leiden verachten, konn-
ten mit Freuden auf Scheiterhaufen ſteigen, und mitten un-
ter den Flammen Loblieder anſtimmen? Und Jeſus, der
hochgelobte Sohn Gottes, der Allerunſchuldigſte, der
weit mehr Gründe hatte, dem Tode Trotz zu bieten, der
ihn nur darum erduldete, weil er ihn erdulden wollte; Je-
ſus Chriſtus beweißt weniger Standhaftigkeit, weniger
Entſchloſſenheit, als die Märtyrer? Er klagt: mein
Gott, mein Gott, warum haſt du mich verlaſſen! Wel-
che Sprache für den Gottmenſchen, der dem Tode mit ei-
nem Triumph entgegen gehen ſollte! Woher kommt dieſe
Unähnlichkeit? Der Tod dieſes Gottmenſchen war ein
Opfer für die Sünden der Welt; er war von einer Bit-
terkeit begleitet, von welcher kein Sterbender, kein Märty-
rer ſeit der Schöpfung ein ſo volles Maas gekoſtet hatte.
In dieſem Augenblick erduldete er alles, was er als ein
Opfer für unſre Sünden ausſtehen mußte. Dis iſt die
Auflöſung dieſer Klage des gekreuzigten Jeſu, welche ohne
dieſe Erklärung ein unauflösliches Räthſel bleiben würde.

Aber welchen Eindruck muß dieſe Stimme des ſter-
benden Jeſu auf mein Herz machen! Kann ich ihm das
zärtlichſte Mitleiden verſagen? Ich würde dieſe traurige
Pflicht ſelbſt demjenigen erzeigen, welcher als ein bloſſer
Menſch den Tod der Unſchuld ſtürbe. Ich würde ohn-
ſtreitig gerührt werden, wenn ich einen Tugendhaften un-
terdrückt oder dem Haß und der Rache der Gottloſen auf-
geopfert ſehen ſollte. Allein was werde ich hier empfin-

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[172/0194] Acht und dreyßigſte Betrachtung. würdiger Stille des Geiſtes jede Marter, die ihnen zu- gefügt wurde. Ja, ſtatt zu weinen und in Klagen auszu- brechen, giengen ſie mit einer Art des Triumphs ihrem Schickſal entgegen. Allein wie? Dieſe Märtyrer des Staats und der Religion, die nur Menſchen und bey aller Unſchuld doch Sünder waren, konnten dem Tode Trotz bieten, konnten die ſchrecklichſten Leiden verachten, konn- ten mit Freuden auf Scheiterhaufen ſteigen, und mitten un- ter den Flammen Loblieder anſtimmen? Und Jeſus, der hochgelobte Sohn Gottes, der Allerunſchuldigſte, der weit mehr Gründe hatte, dem Tode Trotz zu bieten, der ihn nur darum erduldete, weil er ihn erdulden wollte; Je- ſus Chriſtus beweißt weniger Standhaftigkeit, weniger Entſchloſſenheit, als die Märtyrer? Er klagt: mein Gott, mein Gott, warum haſt du mich verlaſſen! Wel- che Sprache für den Gottmenſchen, der dem Tode mit ei- nem Triumph entgegen gehen ſollte! Woher kommt dieſe Unähnlichkeit? Der Tod dieſes Gottmenſchen war ein Opfer für die Sünden der Welt; er war von einer Bit- terkeit begleitet, von welcher kein Sterbender, kein Märty- rer ſeit der Schöpfung ein ſo volles Maas gekoſtet hatte. In dieſem Augenblick erduldete er alles, was er als ein Opfer für unſre Sünden ausſtehen mußte. Dis iſt die Auflöſung dieſer Klage des gekreuzigten Jeſu, welche ohne dieſe Erklärung ein unauflösliches Räthſel bleiben würde. Aber welchen Eindruck muß dieſe Stimme des ſter- benden Jeſu auf mein Herz machen! Kann ich ihm das zärtlichſte Mitleiden verſagen? Ich würde dieſe traurige Pflicht ſelbſt demjenigen erzeigen, welcher als ein bloſſer Menſch den Tod der Unſchuld ſtürbe. Ich würde ohn- ſtreitig gerührt werden, wenn ich einen Tugendhaften un- terdrückt oder dem Haß und der Rache der Gottloſen auf- geopfert ſehen ſollte. Allein was werde ich hier empfin- den

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/194>, abgerufen am 24.11.2024.