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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Liebe Jesu gegen seine Mutter.

Liebe ist stärker als der Tod, und eine Flamme des
Herrn, die auch eine Sündfluth von Trübsalen und
Widerwärtigkeiten nicht auslöschen kann. Diese
Lehre kann ich aus der rührenden Geschichte ziehen, über
welche ich jetzt in der Stille nachdenken will. Es ist unge-
mein befremdend, daß unter so vielen Personen, welche Je-
sus mit Wohlthaten überhäuft hatte, sich nur eine Per-
son findet, die sich seines Kreuzes nicht schämet. Der gros-
se Haufe folgte der Parthey, welche sich im Glück und gu-
ten Wohlstande befand. Die wenigsten waren so groß-
müthig, daß sie sich zum Besten der bedrängten Unschuld
erklärt hätten. Wie vieles Volk folgte Jesu nach, wenn
sie gespeißt oder durch seine Wunder herbeygezogen wur-
den; aber jetzt in seiner Todesstunde waren nur drey Wei-
ber und ein Jünger um ihn. Gewiß dis ist eine neue Ver-
anlassung zur Verwunderung. Wer hätte glauben sollen,
daß das schwächste Geschöpf das herzhafteste seyn würde?
Schwache Weiber überwinden die ihrem Geschlecht ange-
bohrne Furchtsamkeit, sie überwinden alles Entsetzen vor
einem so traurigen Anblicke, alle natürliche Zärtlichkeit, al-
le Ueberlegung der Schmach und Beschimpfung eines Man-
nes, der zwischen zween Missethätern gekreuziget ward; sie
überwinden alle Gefahr, in welche sie der Grimm des un-
sinnigen Volkes setzen konnte. Und was verschaffte ih-
nen einen so ausserordentlichen Sieg über sich selbst? Nichts
anders, als die feurigste und getreueste Liebe gegen Jesum,
die Bewunderung seiner grossen Geduld, und die heftige
Begierde, an seinem Exempel etwas zu lernen und seine
letzten Ermahnungen einzusammlen. Allein unter allen
diesen Personen findet sich eine, die vorzüglich meine Auf-
merksamkeit verdienet. Maria bey dem Kreuze Jesu?
Welch ein erschütternder Anblick mußte es für diese zärtliche
Mutter seyn, wenn sie sahe, daß ihr Sohn, der die Tugend

und
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Liebe Jeſu gegen ſeine Mutter.

Liebe iſt ſtärker als der Tod, und eine Flamme des
Herrn, die auch eine Sündfluth von Trübſalen und
Widerwärtigkeiten nicht auslöſchen kann. Dieſe
Lehre kann ich aus der rührenden Geſchichte ziehen, über
welche ich jetzt in der Stille nachdenken will. Es iſt unge-
mein befremdend, daß unter ſo vielen Perſonen, welche Je-
ſus mit Wohlthaten überhäuft hatte, ſich nur eine Per-
ſon findet, die ſich ſeines Kreuzes nicht ſchämet. Der groſ-
ſe Haufe folgte der Parthey, welche ſich im Glück und gu-
ten Wohlſtande befand. Die wenigſten waren ſo groß-
müthig, daß ſie ſich zum Beſten der bedrängten Unſchuld
erklärt hätten. Wie vieles Volk folgte Jeſu nach, wenn
ſie geſpeißt oder durch ſeine Wunder herbeygezogen wur-
den; aber jetzt in ſeiner Todesſtunde waren nur drey Wei-
ber und ein Jünger um ihn. Gewiß dis iſt eine neue Ver-
anlaſſung zur Verwunderung. Wer hätte glauben ſollen,
daß das ſchwächſte Geſchöpf das herzhafteſte ſeyn würde?
Schwache Weiber überwinden die ihrem Geſchlecht ange-
bohrne Furchtſamkeit, ſie überwinden alles Entſetzen vor
einem ſo traurigen Anblicke, alle natürliche Zärtlichkeit, al-
le Ueberlegung der Schmach und Beſchimpfung eines Man-
nes, der zwiſchen zween Miſſethätern gekreuziget ward; ſie
überwinden alle Gefahr, in welche ſie der Grimm des un-
ſinnigen Volkes ſetzen konnte. Und was verſchaffte ih-
nen einen ſo auſſerordentlichen Sieg über ſich ſelbſt? Nichts
anders, als die feurigſte und getreueſte Liebe gegen Jeſum,
die Bewunderung ſeiner groſſen Geduld, und die heftige
Begierde, an ſeinem Exempel etwas zu lernen und ſeine
letzten Ermahnungen einzuſammlen. Allein unter allen
dieſen Perſonen findet ſich eine, die vorzüglich meine Auf-
merkſamkeit verdienet. Maria bey dem Kreuze Jeſu?
Welch ein erſchütternder Anblick mußte es für dieſe zärtliche
Mutter ſeyn, wenn ſie ſahe, daß ihr Sohn, der die Tugend

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[153/0175] Liebe Jeſu gegen ſeine Mutter. Liebe iſt ſtärker als der Tod, und eine Flamme des Herrn, die auch eine Sündfluth von Trübſalen und Widerwärtigkeiten nicht auslöſchen kann. Dieſe Lehre kann ich aus der rührenden Geſchichte ziehen, über welche ich jetzt in der Stille nachdenken will. Es iſt unge- mein befremdend, daß unter ſo vielen Perſonen, welche Je- ſus mit Wohlthaten überhäuft hatte, ſich nur eine Per- ſon findet, die ſich ſeines Kreuzes nicht ſchämet. Der groſ- ſe Haufe folgte der Parthey, welche ſich im Glück und gu- ten Wohlſtande befand. Die wenigſten waren ſo groß- müthig, daß ſie ſich zum Beſten der bedrängten Unſchuld erklärt hätten. Wie vieles Volk folgte Jeſu nach, wenn ſie geſpeißt oder durch ſeine Wunder herbeygezogen wur- den; aber jetzt in ſeiner Todesſtunde waren nur drey Wei- ber und ein Jünger um ihn. Gewiß dis iſt eine neue Ver- anlaſſung zur Verwunderung. Wer hätte glauben ſollen, daß das ſchwächſte Geſchöpf das herzhafteſte ſeyn würde? Schwache Weiber überwinden die ihrem Geſchlecht ange- bohrne Furchtſamkeit, ſie überwinden alles Entſetzen vor einem ſo traurigen Anblicke, alle natürliche Zärtlichkeit, al- le Ueberlegung der Schmach und Beſchimpfung eines Man- nes, der zwiſchen zween Miſſethätern gekreuziget ward; ſie überwinden alle Gefahr, in welche ſie der Grimm des un- ſinnigen Volkes ſetzen konnte. Und was verſchaffte ih- nen einen ſo auſſerordentlichen Sieg über ſich ſelbſt? Nichts anders, als die feurigſte und getreueſte Liebe gegen Jeſum, die Bewunderung ſeiner groſſen Geduld, und die heftige Begierde, an ſeinem Exempel etwas zu lernen und ſeine letzten Ermahnungen einzuſammlen. Allein unter allen dieſen Perſonen findet ſich eine, die vorzüglich meine Auf- merkſamkeit verdienet. Maria bey dem Kreuze Jeſu? Welch ein erſchütternder Anblick mußte es für dieſe zärtliche Mutter ſeyn, wenn ſie ſahe, daß ihr Sohn, der die Tugend und K 5

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/175>, abgerufen am 24.11.2024.