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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Zwey und dreyßigste Betrachtung.
hast du mich verlassen! -- Mich dürstet. -- Es ist voll-
bracht. -- Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.

Owie sanft ist die Stimme, die von Golgatha er-
schallt! Fürchterlich war Gottes Stimme auf Si-
nai, da er als Gesetzgeber und Richter im Donner
redete, da tödtende Blitze um ihn her leuchteten. Aber hier
ist alles stille. Hier darf ich mich ohne Furcht, dem Ber-
ge nahen, auf welchem mein Jesus blutet; hier kann ich
ohne zu erzittern, seine Stimme hören. Denn mein ster-
bender Jesus stellt sich allen Sündern, allen Verlassenen,
allen Sterbenden in der angenehmsten Gestalt dar. Ich
will ihn jetzt zur Stärkung meines Glaubens betrachten.

Ich sehe in der Person Jesu den Freund der Sün-
der,
welcher den Verlohrnen bis ans Ende zugethan ist.
Waren es die Sünder, um derentwillen er, so lange er auf
der Erde wandelte, alle Arbeiten und Leiden übernahm,
so waren sie auch der Gegenstand seiner liebreichen Sorg-
falt jetzt, da er im Begrif war, den Tod zu leiden. Sein
erster und stärkster Gedanke waren die Sünder. Um sein
Kreuz her stand eine Anzahl der ruchlosesten Bösewichter.
Er sah sie mit den Augen der mitleidigsten Liebe an, und bat
für sie in jenen rührenden Worten: Vater, vergib ih-
nen, denn sie wissen nicht, was sie thun.
An seiner
Seite hieng ein Missethäter, der mit gebeugtem Herzen
Gnade suchte. Wie eilte er, diesen Mühseligen zu erqui-
cken! Wie bereitwillig war er, ihm die Versicherung zu
ertheilen: heute wirst du mit mir im Paradiese seyn!
-- Erquickender Anblick für mein geängstigtes Herz! Auch
für mich hat Jesus am Tage seines Fleisches Gebet und
Flehen mit starkem Geschrey und Thränen geopfert. Wo
würde ich seyn, wenn er mich nicht in jene Fürbitte eingeschlos-
sen hätte, welche er für seine Mörder gethan? Vielleicht

wür-
Zwey und dreyßigſte Betrachtung.
haſt du mich verlaſſen! — Mich dürſtet. — Es iſt voll-
bracht. — Vater, ich befehle meinen Geiſt in deine Hände.

Owie ſanft iſt die Stimme, die von Golgatha er-
ſchallt! Fürchterlich war Gottes Stimme auf Si-
nai, da er als Geſetzgeber und Richter im Donner
redete, da tödtende Blitze um ihn her leuchteten. Aber hier
iſt alles ſtille. Hier darf ich mich ohne Furcht, dem Ber-
ge nahen, auf welchem mein Jeſus blutet; hier kann ich
ohne zu erzittern, ſeine Stimme hören. Denn mein ſter-
bender Jeſus ſtellt ſich allen Sündern, allen Verlaſſenen,
allen Sterbenden in der angenehmſten Geſtalt dar. Ich
will ihn jetzt zur Stärkung meines Glaubens betrachten.

Ich ſehe in der Perſon Jeſu den Freund der Sün-
der,
welcher den Verlohrnen bis ans Ende zugethan iſt.
Waren es die Sünder, um derentwillen er, ſo lange er auf
der Erde wandelte, alle Arbeiten und Leiden übernahm,
ſo waren ſie auch der Gegenſtand ſeiner liebreichen Sorg-
falt jetzt, da er im Begrif war, den Tod zu leiden. Sein
erſter und ſtärkſter Gedanke waren die Sünder. Um ſein
Kreuz her ſtand eine Anzahl der ruchloſeſten Böſewichter.
Er ſah ſie mit den Augen der mitleidigſten Liebe an, und bat
für ſie in jenen rührenden Worten: Vater, vergib ih-
nen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun.
An ſeiner
Seite hieng ein Miſſethäter, der mit gebeugtem Herzen
Gnade ſuchte. Wie eilte er, dieſen Mühſeligen zu erqui-
cken! Wie bereitwillig war er, ihm die Verſicherung zu
ertheilen: heute wirſt du mit mir im Paradieſe ſeyn!
— Erquickender Anblick für mein geängſtigtes Herz! Auch
für mich hat Jeſus am Tage ſeines Fleiſches Gebet und
Flehen mit ſtarkem Geſchrey und Thränen geopfert. Wo
würde ich ſeyn, wenn er mich nicht in jene Fürbitte eingeſchloſ-
ſen hätte, welche er für ſeine Mörder gethan? Vielleicht

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[144/0166] Zwey und dreyßigſte Betrachtung. haſt du mich verlaſſen! — Mich dürſtet. — Es iſt voll- bracht. — Vater, ich befehle meinen Geiſt in deine Hände. Owie ſanft iſt die Stimme, die von Golgatha er- ſchallt! Fürchterlich war Gottes Stimme auf Si- nai, da er als Geſetzgeber und Richter im Donner redete, da tödtende Blitze um ihn her leuchteten. Aber hier iſt alles ſtille. Hier darf ich mich ohne Furcht, dem Ber- ge nahen, auf welchem mein Jeſus blutet; hier kann ich ohne zu erzittern, ſeine Stimme hören. Denn mein ſter- bender Jeſus ſtellt ſich allen Sündern, allen Verlaſſenen, allen Sterbenden in der angenehmſten Geſtalt dar. Ich will ihn jetzt zur Stärkung meines Glaubens betrachten. Ich ſehe in der Perſon Jeſu den Freund der Sün- der, welcher den Verlohrnen bis ans Ende zugethan iſt. Waren es die Sünder, um derentwillen er, ſo lange er auf der Erde wandelte, alle Arbeiten und Leiden übernahm, ſo waren ſie auch der Gegenſtand ſeiner liebreichen Sorg- falt jetzt, da er im Begrif war, den Tod zu leiden. Sein erſter und ſtärkſter Gedanke waren die Sünder. Um ſein Kreuz her ſtand eine Anzahl der ruchloſeſten Böſewichter. Er ſah ſie mit den Augen der mitleidigſten Liebe an, und bat für ſie in jenen rührenden Worten: Vater, vergib ih- nen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun. An ſeiner Seite hieng ein Miſſethäter, der mit gebeugtem Herzen Gnade ſuchte. Wie eilte er, dieſen Mühſeligen zu erqui- cken! Wie bereitwillig war er, ihm die Verſicherung zu ertheilen: heute wirſt du mit mir im Paradieſe ſeyn! — Erquickender Anblick für mein geängſtigtes Herz! Auch für mich hat Jeſus am Tage ſeines Fleiſches Gebet und Flehen mit ſtarkem Geſchrey und Thränen geopfert. Wo würde ich ſeyn, wenn er mich nicht in jene Fürbitte eingeſchloſ- ſen hätte, welche er für ſeine Mörder gethan? Vielleicht wür-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/166>, abgerufen am 22.11.2024.