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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
so doch gnomische Perlen, wie V. 4. 5. 39., sich auch für
die Darstellung der drei ersten Evangelisten trefflich eig-
neten. Diese hätten also nicht umhin gekonnt, statt der
sowohl weniger merkwürdigen, als auch minder erbauli-
chen Blindenheilungen, welche sie haben, die Heilung
des Blindgeborenen aufzunehmen, wenn dieselbe in der
evangelischen Überlieferung, aus welcher sie schöpften,
befindlich gewesen wäre. Der allgemeinen evangelischen
Verkündigung konnte sie möglicherweise unbekannt blei-
ben, wenn sie an einem Orte und unter Umständen vor-
gefallen war, die ihre Ausbreitung nicht begünstigten, also
wenn sie in einem Winkel des Landes ohne weitere Zeu-
gen verrichtet worden war. Aber Jesus vollbringt sie ja
vielmehr zu Jerusalem, im Kreise seiner Jünger, mit gröss-
tem Aufsehen in der Stadt, und zum höchsten Anstoss bei
der Obrigkeit: da musste die Sache bekannt werden, wenn
sie anders geschehen war, und da wir sie in der gewöhn-
lichen Evangelientradition nicht als bekannt antreffen, so
entsteht der Verdacht, sie möchte vielleicht gar nicht ge-
sehehen sein.

Aber der Gewährsmann ist doch der Apostel Johan-
nes. Wenn diess nur nicht, ausser dem unglaublichen,
also schwerlich von einem Augenzeugen herrührenden In-
halt des Berichts, auch noch aus einem andern Grund un-
wahrscheinlich würde. Der Referent erklärt nämlich den
Namen des Teiches Siloam durch das griechische apesal-
menos (V. 7.): eine falsche Erklärung, denn ein Abge-
schickter heisst shalv'kha, wogegen shlkhao der wahrscheinlich-
sten Erklärung zufolge einen Wasserguss bedeutet 28). Der
Evangelist wählte aber jene Deutung, weil er zwischen
dem Namen des Teichs und der Sendung des Blinden zu
demselben eine bedeutungsvolle Beziehung suchte, und sich
also vorgestellt zu haben scheint, der Teich habe durch

28) s. Paulus und Lücke z. d. St.

Zweiter Abschnitt.
so doch gnomische Perlen, wie V. 4. 5. 39., sich auch für
die Darstellung der drei ersten Evangelisten trefflich eig-
neten. Diese hätten also nicht umhin gekonnt, statt der
sowohl weniger merkwürdigen, als auch minder erbauli-
chen Blindenheilungen, welche sie haben, die Heilung
des Blindgeborenen aufzunehmen, wenn dieselbe in der
evangelischen Überlieferung, aus welcher sie schöpften,
befindlich gewesen wäre. Der allgemeinen evangelischen
Verkündigung konnte sie möglicherweise unbekannt blei-
ben, wenn sie an einem Orte und unter Umständen vor-
gefallen war, die ihre Ausbreitung nicht begünstigten, also
wenn sie in einem Winkel des Landes ohne weitere Zeu-
gen verrichtet worden war. Aber Jesus vollbringt sie ja
vielmehr zu Jerusalem, im Kreise seiner Jünger, mit gröſs-
tem Aufsehen in der Stadt, und zum höchsten Anstoſs bei
der Obrigkeit: da muſste die Sache bekannt werden, wenn
sie anders geschehen war, und da wir sie in der gewöhn-
lichen Evangelientradition nicht als bekannt antreffen, so
entsteht der Verdacht, sie möchte vielleicht gar nicht ge-
sehehen sein.

Aber der Gewährsmann ist doch der Apostel Johan-
nes. Wenn dieſs nur nicht, ausser dem unglaublichen,
also schwerlich von einem Augenzeugen herrührenden In-
halt des Berichts, auch noch aus einem andern Grund un-
wahrscheinlich würde. Der Referent erklärt nämlich den
Namen des Teiches Σιλωὰμ durch das griechische ἀπεςαλ-
μένος (V. 7.): eine falsche Erklärung, denn ein Abge-
schickter heiſst שָׁלוּחַ, wogegen שׁלחַֹ der wahrscheinlich-
sten Erklärung zufolge einen Wasserguſs bedeutet 28). Der
Evangelist wählte aber jene Deutung, weil er zwischen
dem Namen des Teichs und der Sendung des Blinden zu
demselben eine bedeutungsvolle Beziehung suchte, und sich
also vorgestellt zu haben scheint, der Teich habe durch

28) s. Paulus und Lücke z. d. St.
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[80/0099] Zweiter Abschnitt. so doch gnomische Perlen, wie V. 4. 5. 39., sich auch für die Darstellung der drei ersten Evangelisten trefflich eig- neten. Diese hätten also nicht umhin gekonnt, statt der sowohl weniger merkwürdigen, als auch minder erbauli- chen Blindenheilungen, welche sie haben, die Heilung des Blindgeborenen aufzunehmen, wenn dieselbe in der evangelischen Überlieferung, aus welcher sie schöpften, befindlich gewesen wäre. Der allgemeinen evangelischen Verkündigung konnte sie möglicherweise unbekannt blei- ben, wenn sie an einem Orte und unter Umständen vor- gefallen war, die ihre Ausbreitung nicht begünstigten, also wenn sie in einem Winkel des Landes ohne weitere Zeu- gen verrichtet worden war. Aber Jesus vollbringt sie ja vielmehr zu Jerusalem, im Kreise seiner Jünger, mit gröſs- tem Aufsehen in der Stadt, und zum höchsten Anstoſs bei der Obrigkeit: da muſste die Sache bekannt werden, wenn sie anders geschehen war, und da wir sie in der gewöhn- lichen Evangelientradition nicht als bekannt antreffen, so entsteht der Verdacht, sie möchte vielleicht gar nicht ge- sehehen sein. Aber der Gewährsmann ist doch der Apostel Johan- nes. Wenn dieſs nur nicht, ausser dem unglaublichen, also schwerlich von einem Augenzeugen herrührenden In- halt des Berichts, auch noch aus einem andern Grund un- wahrscheinlich würde. Der Referent erklärt nämlich den Namen des Teiches Σιλωὰμ durch das griechische ἀπεςαλ- μένος (V. 7.): eine falsche Erklärung, denn ein Abge- schickter heiſst שָׁלוּחַ, wogegen שׁלחַֹ der wahrscheinlich- sten Erklärung zufolge einen Wasserguſs bedeutet 28). Der Evangelist wählte aber jene Deutung, weil er zwischen dem Namen des Teichs und der Sendung des Blinden zu demselben eine bedeutungsvolle Beziehung suchte, und sich also vorgestellt zu haben scheint, der Teich habe durch 28) s. Paulus und Lücke z. d. St.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/99>, abgerufen am 22.11.2024.