Allein, um von vorne anzufangen, so wird hier dem emera und nux eine Bedeutung gegeben, welche selbst ei- nem Venturini zu seicht gewesen ist 26), und namentlich dem Zusammenhang mit V. 5. zuwiderläuft, welcher durch- aus eine Beziehung der Worte auf den baldigen Hingang Jesu erheischt 27). Was aber von etwaigen medicinischen Ingredienzien des pelos vermuthet wird, ist um so boden- loser, als hier nicht wie bei dem vorigen Fall gesagt wer- den kann, es werde nur das angegeben, was der Blinde durch das Gehör oder einen leichten Lichtschimmer wahr- nehmen konnte, da ja diessmal Jesus den Kranken nicht allein, sondern in Gegenwart seiner Jünger vornahm. Über die weitere Vermuthung vorangegangener chirurgi- scher Operationen, durch welche die im Texte allein an- gegebene Bestreichung und Waschung zur Nebensache wird, ist nichts zu sagen, als dass man an diesem Beispiele sieht, wie zügellos die einmal eingelassene natürliche Erklärung sich alsbald gebärdet, und die klarsten Worte des Textes durch die Gebilde ihrer eigenen Combination verdrängt. Wenn ferner daraus, dass Jesus den Blinden zum Tei- che gehen hiess, gefolgert wird, er müsse noch einen Schein des Lichts gehabt haben, so ist dagegen zu be- merken, dass Jesus demselben nur angab, wohin er sich begeben (upagein) solle; wie er diess näher angreifen wollte, ob allein gehen oder einen Führer nehmen, das überliess er ihm selber. Endlich wenn das engverbun- dene apelthen oun kai eniphato kai elthe blepon (V. 7, vgl. V. 11.) zu einer mehrwöchigen Badekur auseinander- gezogen wird, so ist diess gerade, wie wenn man das veni, vidi, vici übersetzen wollte: nach meiner Ankunft recognoscirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehöri- gen Zwischenzeiten unterschiedliche Schlachten, und blieb endlich Sieger.
26) Natürliche Gesch. 3, S. 215.
27) s. Tholuck und Lücke z. d. St.
Zweiter Abschnitt.
Allein, um von vorne anzufangen, so wird hier dem ἡμέρα und νὺξ eine Bedeutung gegeben, welche selbst ei- nem Venturini zu seicht gewesen ist 26), und namentlich dem Zusammenhang mit V. 5. zuwiderläuft, welcher durch- aus eine Beziehung der Worte auf den baldigen Hingang Jesu erheischt 27). Was aber von etwaigen medicinischen Ingredienzien des πηλὸς vermuthet wird, ist um so boden- loser, als hier nicht wie bei dem vorigen Fall gesagt wer- den kann, es werde nur das angegeben, was der Blinde durch das Gehör oder einen leichten Lichtschimmer wahr- nehmen konnte, da ja dieſsmal Jesus den Kranken nicht allein, sondern in Gegenwart seiner Jünger vornahm. Über die weitere Vermuthung vorangegangener chirurgi- scher Operationen, durch welche die im Texte allein an- gegebene Bestreichung und Waschung zur Nebensache wird, ist nichts zu sagen, als daſs man an diesem Beispiele sieht, wie zügellos die einmal eingelassene natürliche Erklärung sich alsbald gebärdet, und die klarsten Worte des Textes durch die Gebilde ihrer eigenen Combination verdrängt. Wenn ferner daraus, daſs Jesus den Blinden zum Tei- che gehen hieſs, gefolgert wird, er müsse noch einen Schein des Lichts gehabt haben, so ist dagegen zu be- merken, daſs Jesus demselben nur angab, wohin er sich begeben (ὑπάγειν) solle; wie er dieſs näher angreifen wollte, ob allein gehen oder einen Führer nehmen, das überlieſs er ihm selber. Endlich wenn das engverbun- dene ἀπῆλϑεν οῦ͗ν καὶ ἐνίφατο καὶ ἦλϑε βλέπων (V. 7, vgl. V. 11.) zu einer mehrwöchigen Badekur auseinander- gezogen wird, so ist dieſs gerade, wie wenn man das veni, vidi, vici übersetzen wollte: nach meiner Ankunft recognoscirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehöri- gen Zwischenzeiten unterschiedliche Schlachten, und blieb endlich Sieger.
26) Natürliche Gesch. 3, S. 215.
27) s. Tholuck und Lücke z. d. St.
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Zweiter Abschnitt.
Allein, um von vorne anzufangen, so wird hier dem
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dem Zusammenhang mit V. 5. zuwiderläuft, welcher durch-
aus eine Beziehung der Worte auf den baldigen Hingang
Jesu erheischt 27). Was aber von etwaigen medicinischen
Ingredienzien des πηλὸς vermuthet wird, ist um so boden-
loser, als hier nicht wie bei dem vorigen Fall gesagt wer-
den kann, es werde nur das angegeben, was der Blinde
durch das Gehör oder einen leichten Lichtschimmer wahr-
nehmen konnte, da ja dieſsmal Jesus den Kranken nicht
allein, sondern in Gegenwart seiner Jünger vornahm.
Über die weitere Vermuthung vorangegangener chirurgi-
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gegebene Bestreichung und Waschung zur Nebensache wird,
ist nichts zu sagen, als daſs man an diesem Beispiele sieht,
wie zügellos die einmal eingelassene natürliche Erklärung
sich alsbald gebärdet, und die klarsten Worte des Textes
durch die Gebilde ihrer eigenen Combination verdrängt.
Wenn ferner daraus, daſs Jesus den Blinden zum Tei-
che gehen hieſs, gefolgert wird, er müsse noch einen
Schein des Lichts gehabt haben, so ist dagegen zu be-
merken, daſs Jesus demselben nur angab, wohin er sich
begeben (ὑπάγειν) solle; wie er dieſs näher angreifen
wollte, ob allein gehen oder einen Führer nehmen, das
überlieſs er ihm selber. Endlich wenn das engverbun-
dene ἀπῆλϑεν οῦ͗ν καὶ ἐνίφατο καὶ ἦλϑε βλέπων (V. 7,
vgl. V. 11.) zu einer mehrwöchigen Badekur auseinander-
gezogen wird, so ist dieſs gerade, wie wenn man das
veni, vidi, vici übersetzen wollte: nach meiner Ankunft
recognoscirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehöri-
gen Zwischenzeiten unterschiedliche Schlachten, und blieb
endlich Sieger.
26) Natürliche Gesch. 3, S. 215.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/97>, abgerufen am 22.11.2024.
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