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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 147.
eine Moral zieht: auch darin ist der Übergang von etwas
äusserlich Historischem zu einem inneren, Geistigen, vor-
handen. Freilich ist der Unterschied nicht zu übersehen,
dass der orthodoxe Prediger die sogenannte Moral derge-
stalt auf die Historie seines Textes baut, dass diese als
geschichtliche Grundlage liegen bleibt: wogegen bei dem
speculativen Prediger der Übergang von der biblischen Ge-
schichte oder kirchlichen Lehre zu der Wahrheit, die er
daraus ableitet, die negative Bedeutung einer Aufhebung
von jener hat. Genau betrachtet jedoch fehlt auch im Über-
gang des orthodoxen Predigers vom evangelischen Text zur
Nutzanwendung dieses negative Moment nicht; indem er
von der Geschichte zur Lehre fortschreitet, sagt er damit
wenigstens so viel: mit der Geschichte ist es nicht gethan,
sie ist die Wahrheit noch nicht, sie muss von einer ver-
gangenen zur gegenwärtigen, von einem euch fremden,
äusseren Geschehen zu eurer eigensten inneren That wer-
den: so dass es sich mit diesem Übergang auf ähnliche Wei-
se verhält, wie mit den Beweisen für das Dasein Gottes,
wo das weltliche Dasein, von welchem ausgegangen wird,
auch scheinbar zum Grunde liegen bleibt, in der That aber
als das wahre Sein negirt, und zum Absoluten aufgehoben
wird. Immerhin indessen bleibt es noch ein merklicher
Unterschied, ob ich sage: da und sofern diess geschehen
ist, habt ihr das zu thun und euch dessen zu getrösten, --
oder: diess ist zwar erzählt als einmal geschehen, das
Wahre aber ist, dass es immer so geschieht, und auch an
und durch euch geschehen soll. Wenigstens wird die Ge-
meinde beides nicht für dasselbe nehmen, und es kehrt
somit auch hier die Gefahr zurück, dass sie hinter diese
Differenz komme, und der Prediger ihr, und dadurch auch
sich selbst, als Lügner erscheine.

Von hier aus kann dann der Geistliche sich wieder ge-
trieben finden, entweder direkt mit der Sprache herauszu-
gehen, und das Volk zu seinen Begriffen erheben zu wol-

Schluſsabhandlung. §. 147.
eine Moral zieht: auch darin ist der Übergang von etwas
äusserlich Historischem zu einem inneren, Geistigen, vor-
handen. Freilich ist der Unterschied nicht zu übersehen,
daſs der orthodoxe Prediger die sogenannte Moral derge-
stalt auf die Historie seines Textes baut, daſs diese als
geschichtliche Grundlage liegen bleibt: wogegen bei dem
speculativen Prediger der Übergang von der biblischen Ge-
schichte oder kirchlichen Lehre zu der Wahrheit, die er
daraus ableitet, die negative Bedeutung einer Aufhebung
von jener hat. Genau betrachtet jedoch fehlt auch im Über-
gang des orthodoxen Predigers vom evangelischen Text zur
Nutzanwendung dieses negative Moment nicht; indem er
von der Geschichte zur Lehre fortschreitet, sagt er damit
wenigstens so viel: mit der Geschichte ist es nicht gethan,
sie ist die Wahrheit noch nicht, sie muſs von einer ver-
gangenen zur gegenwärtigen, von einem euch fremden,
äusseren Geschehen zu eurer eigensten inneren That wer-
den: so daſs es sich mit diesem Übergang auf ähnliche Wei-
se verhält, wie mit den Beweisen für das Dasein Gottes,
wo das weltliche Dasein, von welchem ausgegangen wird,
auch scheinbar zum Grunde liegen bleibt, in der That aber
als das wahre Sein negirt, und zum Absoluten aufgehoben
wird. Immerhin indessen bleibt es noch ein merklicher
Unterschied, ob ich sage: da und sofern dieſs geschehen
ist, habt ihr das zu thun und euch dessen zu getrösten, —
oder: dieſs ist zwar erzählt als einmal geschehen, das
Wahre aber ist, daſs es immer so geschieht, und auch an
und durch euch geschehen soll. Wenigstens wird die Ge-
meinde beides nicht für dasselbe nehmen, und es kehrt
somit auch hier die Gefahr zurück, daſs sie hinter diese
Differenz komme, und der Prediger ihr, und dadurch auch
sich selbst, als Lügner erscheine.

Von hier aus kann dann der Geistliche sich wieder ge-
trieben finden, entweder direkt mit der Sprache herauszu-
gehen, und das Volk zu seinen Begriffen erheben zu wol-

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[743/0762] Schluſsabhandlung. §. 147. eine Moral zieht: auch darin ist der Übergang von etwas äusserlich Historischem zu einem inneren, Geistigen, vor- handen. Freilich ist der Unterschied nicht zu übersehen, daſs der orthodoxe Prediger die sogenannte Moral derge- stalt auf die Historie seines Textes baut, daſs diese als geschichtliche Grundlage liegen bleibt: wogegen bei dem speculativen Prediger der Übergang von der biblischen Ge- schichte oder kirchlichen Lehre zu der Wahrheit, die er daraus ableitet, die negative Bedeutung einer Aufhebung von jener hat. Genau betrachtet jedoch fehlt auch im Über- gang des orthodoxen Predigers vom evangelischen Text zur Nutzanwendung dieses negative Moment nicht; indem er von der Geschichte zur Lehre fortschreitet, sagt er damit wenigstens so viel: mit der Geschichte ist es nicht gethan, sie ist die Wahrheit noch nicht, sie muſs von einer ver- gangenen zur gegenwärtigen, von einem euch fremden, äusseren Geschehen zu eurer eigensten inneren That wer- den: so daſs es sich mit diesem Übergang auf ähnliche Wei- se verhält, wie mit den Beweisen für das Dasein Gottes, wo das weltliche Dasein, von welchem ausgegangen wird, auch scheinbar zum Grunde liegen bleibt, in der That aber als das wahre Sein negirt, und zum Absoluten aufgehoben wird. Immerhin indessen bleibt es noch ein merklicher Unterschied, ob ich sage: da und sofern dieſs geschehen ist, habt ihr das zu thun und euch dessen zu getrösten, — oder: dieſs ist zwar erzählt als einmal geschehen, das Wahre aber ist, daſs es immer so geschieht, und auch an und durch euch geschehen soll. Wenigstens wird die Ge- meinde beides nicht für dasselbe nehmen, und es kehrt somit auch hier die Gefahr zurück, daſs sie hinter diese Differenz komme, und der Prediger ihr, und dadurch auch sich selbst, als Lügner erscheine. Von hier aus kann dann der Geistliche sich wieder ge- trieben finden, entweder direkt mit der Sprache herauszu- gehen, und das Volk zu seinen Begriffen erheben zu wol-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 743. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/762>, abgerufen am 24.11.2024.