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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 147.
ten Welt, und des Volks zu jeder Zeit, die Idee der
Menschheit nur in der concreten Figur eines Individuums
anzuschauen vermag. In einer Zeit der tiefsten Zerrissen-
heit, der höchsten leiblichen und geistigen Noth, versinkt
ein reines, als göttlicher Gesandter verehrtes Individuum
in Leiden und Tod, und bildet sich in Kurzem der Glaube
an seine Wiederbelebung: da musste jedem das tua res
agitur
einfallen, und Christus als derjenige erscheinen,
welcher, wie Clemens von Alexandrien in etwas anderem
Sinne sagt, to drama tes anthropotetos upekrineto. War
in seinem Leiden die äussere Noth, welche die Mensch-
heit bedrückte, concentrirt, und die innere abgebildet: so
lag in seiner Wiederbelebung der Trost, dass in solchem
Leiden der Geist sich nicht verliere, sondern erhalte,
durch die Negation der Natürlichkeit sich nicht verneine,
sondern in höherer Weise affirmire. Hatte Gott seinen Pro-
pheten, ja seinen Liebling und Sohn, in solches Elend da-
hingegeben um der Sünde der Menschen willen: so war
auch diese äusserste Grenze der Endlichkeit als Moment
im göttlichen Leben erkannt, und lernte der von Noth und
Sünde darniedergedrückte Mensch sich in die göttliche
Freiheit aufgenommen fühlen. -- Wie der Gott des Plato
auf die Ideen hinschauend die Welt bildete: so hat der
Gemeinde, indem sie, veranlasst durch die Person und
Schicksale Jesu, das Bild ihres Christus entwarf, unbe-
wusst die Idee der Menschheit in ihrem Verhältniss zur
Gottheit vorgeschwebt.

Die Wissenschaft unsrer Zeit aber kann das Bewusst-
sein nicht länger mehr unterdrücken, dass die Beziehung
auf ein Individuum nur zur zeit- und volksmässigen Form
dieser Lehre gehört. Schleiermacher hat ganz recht ge-
habt, wenn er sagte, es ahne ihm, dass bei der speculati-
ven Ansicht für die geschichtliche Person des Erlösers
nicht viel mehr als bei der ebionitischen übrig bleibe 4).

4) Zweites Sendschr.

Schluſsabhandlung. §. 147.
ten Welt, und des Volks zu jeder Zeit, die Idee der
Menschheit nur in der concreten Figur eines Individuums
anzuschauen vermag. In einer Zeit der tiefsten Zerrissen-
heit, der höchsten leiblichen und geistigen Noth, versinkt
ein reines, als göttlicher Gesandter verehrtes Individuum
in Leiden und Tod, und bildet sich in Kurzem der Glaube
an seine Wiederbelebung: da muſste jedem das tua res
agitur
einfallen, und Christus als derjenige erscheinen,
welcher, wie Clemens von Alexandrien in etwas anderem
Sinne sagt, τὸ δρᾶμα τῆς ἀνϑρωπότητος ὑπεκρίνετο. War
in seinem Leiden die äussere Noth, welche die Mensch-
heit bedrückte, concentrirt, und die innere abgebildet: so
lag in seiner Wiederbelebung der Trost, daſs in solchem
Leiden der Geist sich nicht verliere, sondern erhalte,
durch die Negation der Natürlichkeit sich nicht verneine,
sondern in höherer Weise affirmire. Hatte Gott seinen Pro-
pheten, ja seinen Liebling und Sohn, in solches Elend da-
hingegeben um der Sünde der Menschen willen: so war
auch diese äusserste Grenze der Endlichkeit als Moment
im göttlichen Leben erkannt, und lernte der von Noth und
Sünde darniedergedrückte Mensch sich in die göttliche
Freiheit aufgenommen fühlen. — Wie der Gott des Plato
auf die Ideen hinschauend die Welt bildete: so hat der
Gemeinde, indem sie, veranlaſst durch die Person und
Schicksale Jesu, das Bild ihres Christus entwarf, unbe-
wuſst die Idee der Menschheit in ihrem Verhältniſs zur
Gottheit vorgeschwebt.

Die Wissenschaft unsrer Zeit aber kann das Bewuſst-
sein nicht länger mehr unterdrücken, daſs die Beziehung
auf ein Individuum nur zur zeit- und volksmäſsigen Form
dieser Lehre gehört. Schleiermacher hat ganz recht ge-
habt, wenn er sagte, es ahne ihm, daſs bei der speculati-
ven Ansicht für die geschichtliche Person des Erlösers
nicht viel mehr als bei der ebionitischen übrig bleibe 4).

4) Zweites Sendschr.
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[736/0755] Schluſsabhandlung. §. 147. ten Welt, und des Volks zu jeder Zeit, die Idee der Menschheit nur in der concreten Figur eines Individuums anzuschauen vermag. In einer Zeit der tiefsten Zerrissen- heit, der höchsten leiblichen und geistigen Noth, versinkt ein reines, als göttlicher Gesandter verehrtes Individuum in Leiden und Tod, und bildet sich in Kurzem der Glaube an seine Wiederbelebung: da muſste jedem das tua res agitur einfallen, und Christus als derjenige erscheinen, welcher, wie Clemens von Alexandrien in etwas anderem Sinne sagt, τὸ δρᾶμα τῆς ἀνϑρωπότητος ὑπεκρίνετο. War in seinem Leiden die äussere Noth, welche die Mensch- heit bedrückte, concentrirt, und die innere abgebildet: so lag in seiner Wiederbelebung der Trost, daſs in solchem Leiden der Geist sich nicht verliere, sondern erhalte, durch die Negation der Natürlichkeit sich nicht verneine, sondern in höherer Weise affirmire. Hatte Gott seinen Pro- pheten, ja seinen Liebling und Sohn, in solches Elend da- hingegeben um der Sünde der Menschen willen: so war auch diese äusserste Grenze der Endlichkeit als Moment im göttlichen Leben erkannt, und lernte der von Noth und Sünde darniedergedrückte Mensch sich in die göttliche Freiheit aufgenommen fühlen. — Wie der Gott des Plato auf die Ideen hinschauend die Welt bildete: so hat der Gemeinde, indem sie, veranlaſst durch die Person und Schicksale Jesu, das Bild ihres Christus entwarf, unbe- wuſst die Idee der Menschheit in ihrem Verhältniſs zur Gottheit vorgeschwebt. Die Wissenschaft unsrer Zeit aber kann das Bewuſst- sein nicht länger mehr unterdrücken, daſs die Beziehung auf ein Individuum nur zur zeit- und volksmäſsigen Form dieser Lehre gehört. Schleiermacher hat ganz recht ge- habt, wenn er sagte, es ahne ihm, daſs bei der speculati- ven Ansicht für die geschichtliche Person des Erlösers nicht viel mehr als bei der ebionitischen übrig bleibe 4). 4) Zweites Sendschr.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/755>, abgerufen am 23.11.2024.