Geist der Menschheit in seiner Einheit mit dem göttlichen im Verlauf der Weltgeschichte immer vollständiger als die Macht über die Natur sich bethätigen sehe: so ist diess etwas ganz Anderes, als einen einzelnen Menschen für ein- zelne willkührliche Handlungen mit solcher Macht ausge- rüstet zu denken; vollends aus der Wahrheit, dass die auf- gehobene Natürlichkeit das Auferstehen des Geistes sei, wird die leibliche Auferstehung eines Individuums niemals folgen.
Hiemit wären wir also wieder auf den Kantischen Standpunkt zurückgesunken, den wir selbst ungenügend befunden haben; denn wenn der Idee keine Wirklichkeit zukommt, so ist sie leeres Sollen und Ideal. Aber heben wir denn alle Wirklichkeit der Idee auf? Keineswegs, sondern nur diejenige, welche aus den Prämissen nicht folgt. Wenn der Idee der Einheit von göttlicher und mensch- licher Natur Realität zugeschrieben wird, heisst diess so- viel, dass sie einmal in einem Individuum, wie vorher und hernach nicht mehr, wirklich geworden sein müsse? Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen, sondern in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten. Und das soll keine wahre Wirklichkeit der Idee sein? die Idee der Einheit von gött- licher und menschlicher Natur wäre nicht vielmehr in un- endlich höherem Sinn eine reale, wenn ich die ganze Mensch- heit als ihre Verwirklichung begreife, als wenn ich ei- nen einzelnen Menschen als solche aussondere? Eine Menschwerdung Gottes von Ewigkeit nicht eine wahrere, als eine in einem abgeschlossenen Punkt der Zeit?
Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, dass als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum,
Schluſsabhandlung. §. 147.
Geist der Menschheit in seiner Einheit mit dem göttlichen im Verlauf der Weltgeschichte immer vollständiger als die Macht über die Natur sich bethätigen sehe: so ist dieſs etwas ganz Anderes, als einen einzelnen Menschen für ein- zelne willkührliche Handlungen mit solcher Macht ausge- rüstet zu denken; vollends aus der Wahrheit, daſs die auf- gehobene Natürlichkeit das Auferstehen des Geistes sei, wird die leibliche Auferstehung eines Individuums niemals folgen.
Hiemit wären wir also wieder auf den Kantischen Standpunkt zurückgesunken, den wir selbst ungenügend befunden haben; denn wenn der Idee keine Wirklichkeit zukommt, so ist sie leeres Sollen und Ideal. Aber heben wir denn alle Wirklichkeit der Idee auf? Keineswegs, sondern nur diejenige, welche aus den Prämissen nicht folgt. Wenn der Idee der Einheit von göttlicher und mensch- licher Natur Realität zugeschrieben wird, heiſst dieſs so- viel, daſs sie einmal in einem Individuum, wie vorher und hernach nicht mehr, wirklich geworden sein müsse? Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen, sondern in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten. Und das soll keine wahre Wirklichkeit der Idee sein? die Idee der Einheit von gött- licher und menschlicher Natur wäre nicht vielmehr in un- endlich höherem Sinn eine reale, wenn ich die ganze Mensch- heit als ihre Verwirklichung begreife, als wenn ich ei- nen einzelnen Menschen als solche aussondere? Eine Menschwerdung Gottes von Ewigkeit nicht eine wahrere, als eine in einem abgeschlossenen Punkt der Zeit?
Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, daſs als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum,
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Schluſsabhandlung. §. 147.
Geist der Menschheit in seiner Einheit mit dem göttlichen
im Verlauf der Weltgeschichte immer vollständiger als die
Macht über die Natur sich bethätigen sehe: so ist dieſs
etwas ganz Anderes, als einen einzelnen Menschen für ein-
zelne willkührliche Handlungen mit solcher Macht ausge-
rüstet zu denken; vollends aus der Wahrheit, daſs die auf-
gehobene Natürlichkeit das Auferstehen des Geistes sei, wird
die leibliche Auferstehung eines Individuums niemals folgen.
Hiemit wären wir also wieder auf den Kantischen
Standpunkt zurückgesunken, den wir selbst ungenügend
befunden haben; denn wenn der Idee keine Wirklichkeit
zukommt, so ist sie leeres Sollen und Ideal. Aber heben
wir denn alle Wirklichkeit der Idee auf? Keineswegs,
sondern nur diejenige, welche aus den Prämissen nicht
folgt. Wenn der Idee der Einheit von göttlicher und mensch-
licher Natur Realität zugeschrieben wird, heiſst dieſs so-
viel, daſs sie einmal in einem Individuum, wie vorher und
hernach nicht mehr, wirklich geworden sein müsse? Das
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Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle
andern zu geizen, sondern in einer Manchfaltigkeit von
Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel
sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie
ihren Reichthum auszubreiten. Und das soll keine wahre
Wirklichkeit der Idee sein? die Idee der Einheit von gött-
licher und menschlicher Natur wäre nicht vielmehr in un-
endlich höherem Sinn eine reale, wenn ich die ganze Mensch-
heit als ihre Verwirklichung begreife, als wenn ich ei-
nen einzelnen Menschen als solche aussondere? Eine
Menschwerdung Gottes von Ewigkeit nicht eine wahrere,
als eine in einem abgeschlossenen Punkt der Zeit?
Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, daſs als
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statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 734. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/753>, abgerufen am 23.11.2024.
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