Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Schlussabhandlung. §. 146. d. h. es muss ein menschliches Individuum auftreten, wel-ches als der gegenwärtige Gott gewusst wird. Sofern die- ser Gottmensch das jenseitige göttliche Wesen und das diesseitige menschliche Selbst in Eins zusammenschliesst, kann von ihm gesagt werden, dass er den göttlichen Geist zum Vater, und eine menschliche Mutter habe; sofern sein Selbst sich nicht in sich, sondern in die absolute Substanz reflektirt, nichts für sich, sondern nur für Gott sein will, ist er der Sündlose und Vollkommene; als Mensch von göttlichem Wesen ist er die Macht über die Natur und Wunderthäter; aber als Gott in menschlicher Erscheinung ist er von der Natur abhängig, ihren Bedürfnissen und Leiden unterworfen, befindet sich im Stand der Erniedri- gung. Wird er der Natur auch den lezten Tribut bezah- len müssen? Hebt die Thatsache, dass die menschliche Natur dem Tod verfällt, nicht die Meinung wieder auf, dass sie an sich Eins mit der göttlichen sei? Nein: der Gottmensch stirbt, und zeigt dadurch, dass es Gott mit seiner Menschwerdung Ernst ist; dass er zu den unter- sten Tiefen der Endlichkeit herabzusteigen nicht ver- schmäht, weil er auch aus diesen den Rückweg zu sich zu finden weiss, auch in der völligsten Entäusserung mit sich identisch zu bleiben vermag. Näher, sofern der Gott- mensch als der in seine Unendlichkeit reflektirte Geist den Menschen als an ihrer Endlichkeit festhaltenden ge- genübersteht: ist hiemit ein Gegensaz und Kampf gesezt, und der Tod des Gottmenschen als gewaltsamer, durch der Sünder Hände, bestimmt, wodurch zu der physischen Noth noch die moralische der Schmach und Beschuldi- gung des Verbrechens kommt. Findet so Gott den Weg vom Himmel bis zum Grabe: so muss für den Menschen auch aus dem Grabe der Weg zum Himmel zu finden sein; das Sterben des Lebensfürsten ist das Leben des Sterbli- chen. Schon durch sein Eingehen in die Welt als Gott- mensch zeigte sich Gott mit der Welt versöhnt: näher Schluſsabhandlung. §. 146. d. h. es muſs ein menschliches Individuum auftreten, wel-ches als der gegenwärtige Gott gewuſst wird. Sofern die- ser Gottmensch das jenseitige göttliche Wesen und das diesseitige menschliche Selbst in Eins zusammenschlieſst, kann von ihm gesagt werden, daſs er den göttlichen Geist zum Vater, und eine menschliche Mutter habe; sofern sein Selbst sich nicht in sich, sondern in die absolute Substanz reflektirt, nichts für sich, sondern nur für Gott sein will, ist er der Sündlose und Vollkommene; als Mensch von göttlichem Wesen ist er die Macht über die Natur und Wunderthäter; aber als Gott in menschlicher Erscheinung ist er von der Natur abhängig, ihren Bedürfnissen und Leiden unterworfen, befindet sich im Stand der Erniedri- gung. Wird er der Natur auch den lezten Tribut bezah- len müssen? Hebt die Thatsache, daſs die menschliche Natur dem Tod verfällt, nicht die Meinung wieder auf, daſs sie an sich Eins mit der göttlichen sei? Nein: der Gottmensch stirbt, und zeigt dadurch, daſs es Gott mit seiner Menschwerdung Ernst ist; daſs er zu den unter- sten Tiefen der Endlichkeit herabzusteigen nicht ver- schmäht, weil er auch aus diesen den Rückweg zu sich zu finden weiſs, auch in der völligsten Entäusserung mit sich identisch zu bleiben vermag. Näher, sofern der Gott- mensch als der in seine Unendlichkeit reflektirte Geist den Menschen als an ihrer Endlichkeit festhaltenden ge- genübersteht: ist hiemit ein Gegensaz und Kampf gesezt, und der Tod des Gottmenschen als gewaltsamer, durch der Sünder Hände, bestimmt, wodurch zu der physischen Noth noch die moralische der Schmach und Beschuldi- gung des Verbrechens kommt. Findet so Gott den Weg vom Himmel bis zum Grabe: so muſs für den Menschen auch aus dem Grabe der Weg zum Himmel zu finden sein; das Sterben des Lebensfürsten ist das Leben des Sterbli- chen. 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Schluſsabhandlung. §. 146.
d. h. es muſs ein menschliches Individuum auftreten, wel-
ches als der gegenwärtige Gott gewuſst wird. Sofern die-
ser Gottmensch das jenseitige göttliche Wesen und das
diesseitige menschliche Selbst in Eins zusammenschlieſst,
kann von ihm gesagt werden, daſs er den göttlichen Geist
zum Vater, und eine menschliche Mutter habe; sofern
sein Selbst sich nicht in sich, sondern in die absolute Substanz
reflektirt, nichts für sich, sondern nur für Gott sein will,
ist er der Sündlose und Vollkommene; als Mensch von
göttlichem Wesen ist er die Macht über die Natur und
Wunderthäter; aber als Gott in menschlicher Erscheinung
ist er von der Natur abhängig, ihren Bedürfnissen und
Leiden unterworfen, befindet sich im Stand der Erniedri-
gung. Wird er der Natur auch den lezten Tribut bezah-
len müssen? Hebt die Thatsache, daſs die menschliche
Natur dem Tod verfällt, nicht die Meinung wieder auf,
daſs sie an sich Eins mit der göttlichen sei? Nein: der
Gottmensch stirbt, und zeigt dadurch, daſs es Gott mit
seiner Menschwerdung Ernst ist; daſs er zu den unter-
sten Tiefen der Endlichkeit herabzusteigen nicht ver-
schmäht, weil er auch aus diesen den Rückweg zu sich
zu finden weiſs, auch in der völligsten Entäusserung mit
sich identisch zu bleiben vermag. Näher, sofern der Gott-
mensch als der in seine Unendlichkeit reflektirte Geist
den Menschen als an ihrer Endlichkeit festhaltenden ge-
genübersteht: ist hiemit ein Gegensaz und Kampf gesezt,
und der Tod des Gottmenschen als gewaltsamer, durch
der Sünder Hände, bestimmt, wodurch zu der physischen
Noth noch die moralische der Schmach und Beschuldi-
gung des Verbrechens kommt. Findet so Gott den Weg
vom Himmel bis zum Grabe: so muſs für den Menschen
auch aus dem Grabe der Weg zum Himmel zu finden sein;
das Sterben des Lebensfürsten ist das Leben des Sterbli-
chen. Schon durch sein Eingehen in die Welt als Gott-
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