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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 146.
selbst zurückkehrt. So wenig der Mensch als bloss end-
licher und an seiner Endlichkeit festhaltender Geist Wahr-
heit hat: so wenig hat Gott als bloss unendlicher, in sei-
ner Unendlichkeit sich abschliessender Geist Wirklichkeit;
sondern wirklicher Geist ist der unendliche nur, wenn er
zu endlichen Geistern sich erschliesst: wie der endliche
Geist nur dann wahrer ist, wenn er in den unendlichen
sich vertieft. Das wahre und wirkliche Dasein des Gei-
stes also ist weder Gott für sich, noch der Mensch für
sich, sondern der Gottmensch; weder allein seine Unend-
lichkeit, noch allein seine Endlichkeit, sondern die Be-
wegung des Sichhingebens und Zurücknehmens zwischen
beiden, welche von göttlicher Seite Offenbarung, von
menschlicher Religion ist.

Sind Gott und Mensch an sich Eins, und ist die Re-
ligion die menschliche Seite, das werdende Bewusstsein
dieser Einheit: so muss diese in der Religion auch für den
Menschen werden, in ihm zum Bewusstsein und zur Wirk-
lichkeit kommen. Freilich, so lange der Mensch sich selbst
noch nicht als Geist weiss, kann er auch Gott noch nicht
als Menschen wissen; ist er noch natürlicher Geist, so
wird er die Natur vergöttern; als gesezlicher Geist, der
seine Natürlichkeit nur erst auf äusserliche Weise bemei-
stert, wird er Gott als Gesezgeber sich gegenüberstellen;
aber sind nur einmal im Gedränge der Weltgeschichte
beide, jene Natürlichkeit ihres Verderbens, diese Gesez-
lichkeit ihres Unglücks, inne geworden: so wird sowohl
jene das Bedürfniss empfinden, einen Gott zu haben, der
sie über sich erhebe, als diese einen, der sich zu ihr her-
unterlasse. Ist die Menschheit einmal reif dazu, die Wahr-
heit, dass Gott Mensch, der Mensch göttlichen Geschlech-
tes ist, als ihre Religion zu haben: so muss, da die Reli-
gion die Form ist, in welcher die Wahrheit für das ge-
meine Bewusstsein wird, jene Wahrheit auf eine gemein-
verständliche Weise, als sinnliche Gewissheit, erscheinen,

Schluſsabhandlung. §. 146.
selbst zurückkehrt. So wenig der Mensch als bloſs end-
licher und an seiner Endlichkeit festhaltender Geist Wahr-
heit hat: so wenig hat Gott als bloſs unendlicher, in sei-
ner Unendlichkeit sich abschlieſsender Geist Wirklichkeit;
sondern wirklicher Geist ist der unendliche nur, wenn er
zu endlichen Geistern sich erschlieſst: wie der endliche
Geist nur dann wahrer ist, wenn er in den unendlichen
sich vertieft. Das wahre und wirkliche Dasein des Gei-
stes also ist weder Gott für sich, noch der Mensch für
sich, sondern der Gottmensch; weder allein seine Unend-
lichkeit, noch allein seine Endlichkeit, sondern die Be-
wegung des Sichhingebens und Zurücknehmens zwischen
beiden, welche von göttlicher Seite Offenbarung, von
menschlicher Religion ist.

Sind Gott und Mensch an sich Eins, und ist die Re-
ligion die menschliche Seite, das werdende Bewuſstsein
dieser Einheit: so muſs diese in der Religion auch für den
Menschen werden, in ihm zum Bewuſstsein und zur Wirk-
lichkeit kommen. Freilich, so lange der Mensch sich selbst
noch nicht als Geist weiſs, kann er auch Gott noch nicht
als Menschen wissen; ist er noch natürlicher Geist, so
wird er die Natur vergöttern; als gesezlicher Geist, der
seine Natürlichkeit nur erst auf äusserliche Weise bemei-
stert, wird er Gott als Gesezgeber sich gegenüberstellen;
aber sind nur einmal im Gedränge der Weltgeschichte
beide, jene Natürlichkeit ihres Verderbens, diese Gesez-
lichkeit ihres Unglücks, inne geworden: so wird sowohl
jene das Bedürfniſs empfinden, einen Gott zu haben, der
sie über sich erhebe, als diese einen, der sich zu ihr her-
unterlasse. Ist die Menschheit einmal reif dazu, die Wahr-
heit, daſs Gott Mensch, der Mensch göttlichen Geschlech-
tes ist, als ihre Religion zu haben: so muſs, da die Reli-
gion die Form ist, in welcher die Wahrheit für das ge-
meine Bewuſstsein wird, jene Wahrheit auf eine gemein-
verständliche Weise, als sinnliche Gewiſsheit, erscheinen,

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[730/0749] Schluſsabhandlung. §. 146. selbst zurückkehrt. So wenig der Mensch als bloſs end- licher und an seiner Endlichkeit festhaltender Geist Wahr- heit hat: so wenig hat Gott als bloſs unendlicher, in sei- ner Unendlichkeit sich abschlieſsender Geist Wirklichkeit; sondern wirklicher Geist ist der unendliche nur, wenn er zu endlichen Geistern sich erschlieſst: wie der endliche Geist nur dann wahrer ist, wenn er in den unendlichen sich vertieft. Das wahre und wirkliche Dasein des Gei- stes also ist weder Gott für sich, noch der Mensch für sich, sondern der Gottmensch; weder allein seine Unend- lichkeit, noch allein seine Endlichkeit, sondern die Be- wegung des Sichhingebens und Zurücknehmens zwischen beiden, welche von göttlicher Seite Offenbarung, von menschlicher Religion ist. Sind Gott und Mensch an sich Eins, und ist die Re- ligion die menschliche Seite, das werdende Bewuſstsein dieser Einheit: so muſs diese in der Religion auch für den Menschen werden, in ihm zum Bewuſstsein und zur Wirk- lichkeit kommen. Freilich, so lange der Mensch sich selbst noch nicht als Geist weiſs, kann er auch Gott noch nicht als Menschen wissen; ist er noch natürlicher Geist, so wird er die Natur vergöttern; als gesezlicher Geist, der seine Natürlichkeit nur erst auf äusserliche Weise bemei- stert, wird er Gott als Gesezgeber sich gegenüberstellen; aber sind nur einmal im Gedränge der Weltgeschichte beide, jene Natürlichkeit ihres Verderbens, diese Gesez- lichkeit ihres Unglücks, inne geworden: so wird sowohl jene das Bedürfniſs empfinden, einen Gott zu haben, der sie über sich erhebe, als diese einen, der sich zu ihr her- unterlasse. Ist die Menschheit einmal reif dazu, die Wahr- heit, daſs Gott Mensch, der Mensch göttlichen Geschlech- tes ist, als ihre Religion zu haben: so muſs, da die Reli- gion die Form ist, in welcher die Wahrheit für das ge- meine Bewuſstsein wird, jene Wahrheit auf eine gemein- verständliche Weise, als sinnliche Gewiſsheit, erscheinen,

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 730. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/749>, abgerufen am 22.11.2024.