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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 145.
auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die stärksten
Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum
schmählichsten Tode um des Weltbesten willen zu über-
nehmen bereitwillig wäre.

Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Bezie-
hung vollständig in sich selbst, und es bedarf keines Bei-
spiels in der Erfahrung, um dieselbe zum verbindenden
Vorbild für uns zu machen, da sie als solches schon in
unserer Vernunft liegt. Auch bleibt dieses Urbild wesent-
lich nur in der Vernunft, weil ihm kein Beispiel in der
äusseren Erfahrung adäquat sein kann, als welche das
Innere der Gesinnung nicht aufdeckt, sondern darauf nur
mit schwankender Gewissheit schliessen lässt. Da jedoch
diesem Urbilde alle Menschen gemäss sein sollten, und
folglich es auch können müssen: so bleibt immer möglich,
dass in der Erfahrung ein Mensch vorkomme, der durch
Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines gott-
wohlgefälligen Menschen gebe; doch auch in dieser Er-
scheinung des Gottmenschen wäre nicht eigentlich das,
was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung
erkannt werden kann, Objekt des seligmachenden Glau-
bens, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild,
welches wir jener Erscheinung unterlegten, weil wir sie
demselben gemäss fänden, aber freilich immer nur in so-
weit, als diess in äusserer Erfahrung erkannt werden kann.
Weil wir alle, obwohl natürlich erzeugte Menschen, uns
verbunden und daher im Stande fühlen, selbst solche Bei-
spiele abzugeben: so haben wir keine Ursache, in jenem
musterhaften Menschen einen übernatürlich erzeugten zu
erblicken; ebensowenig hat er zu seiner Beglaubigung
Wunder nöthig, sondern neben dem moralischen Glauben
an die Idee ist nur noch die historische Wahrnehmung erfor-
derlich, dass sein Lebenswandel ihr gemäss sei, um ihn
als Beispiel derselben zu beglaubigen.

Derjenige nun, welcher sich einer solchen morali-

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Schluſsabhandlung. §. 145.
auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die stärksten
Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum
schmählichsten Tode um des Weltbesten willen zu über-
nehmen bereitwillig wäre.

Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Bezie-
hung vollständig in sich selbst, und es bedarf keines Bei-
spiels in der Erfahrung, um dieselbe zum verbindenden
Vorbild für uns zu machen, da sie als solches schon in
unserer Vernunft liegt. Auch bleibt dieses Urbild wesent-
lich nur in der Vernunft, weil ihm kein Beispiel in der
äusseren Erfahrung adäquat sein kann, als welche das
Innere der Gesinnung nicht aufdeckt, sondern darauf nur
mit schwankender Gewiſsheit schlieſsen läſst. Da jedoch
diesem Urbilde alle Menschen gemäſs sein sollten, und
folglich es auch können müssen: so bleibt immer möglich,
daſs in der Erfahrung ein Mensch vorkomme, der durch
Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines gott-
wohlgefälligen Menschen gebe; doch auch in dieser Er-
scheinung des Gottmenschen wäre nicht eigentlich das,
was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung
erkannt werden kann, Objekt des seligmachenden Glau-
bens, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild,
welches wir jener Erscheinung unterlegten, weil wir sie
demselben gemäſs fänden, aber freilich immer nur in so-
weit, als dieſs in äusserer Erfahrung erkannt werden kann.
Weil wir alle, obwohl natürlich erzeugte Menschen, uns
verbunden und daher im Stande fühlen, selbst solche Bei-
spiele abzugeben: so haben wir keine Ursache, in jenem
musterhaften Menschen einen übernatürlich erzeugten zu
erblicken; ebensowenig hat er zu seiner Beglaubigung
Wunder nöthig, sondern neben dem moralischen Glauben
an die Idee ist nur noch die historische Wahrnehmung erfor-
derlich, daſs sein Lebenswandel ihr gemäſs sei, um ihn
als Beispiel derselben zu beglaubigen.

Derjenige nun, welcher sich einer solchen morali-

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[723/0742] Schluſsabhandlung. §. 145. auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die stärksten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen zu über- nehmen bereitwillig wäre. Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Bezie- hung vollständig in sich selbst, und es bedarf keines Bei- spiels in der Erfahrung, um dieselbe zum verbindenden Vorbild für uns zu machen, da sie als solches schon in unserer Vernunft liegt. Auch bleibt dieses Urbild wesent- lich nur in der Vernunft, weil ihm kein Beispiel in der äusseren Erfahrung adäquat sein kann, als welche das Innere der Gesinnung nicht aufdeckt, sondern darauf nur mit schwankender Gewiſsheit schlieſsen läſst. Da jedoch diesem Urbilde alle Menschen gemäſs sein sollten, und folglich es auch können müssen: so bleibt immer möglich, daſs in der Erfahrung ein Mensch vorkomme, der durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines gott- wohlgefälligen Menschen gebe; doch auch in dieser Er- scheinung des Gottmenschen wäre nicht eigentlich das, was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung erkannt werden kann, Objekt des seligmachenden Glau- bens, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild, welches wir jener Erscheinung unterlegten, weil wir sie demselben gemäſs fänden, aber freilich immer nur in so- weit, als dieſs in äusserer Erfahrung erkannt werden kann. Weil wir alle, obwohl natürlich erzeugte Menschen, uns verbunden und daher im Stande fühlen, selbst solche Bei- spiele abzugeben: so haben wir keine Ursache, in jenem musterhaften Menschen einen übernatürlich erzeugten zu erblicken; ebensowenig hat er zu seiner Beglaubigung Wunder nöthig, sondern neben dem moralischen Glauben an die Idee ist nur noch die historische Wahrnehmung erfor- derlich, daſs sein Lebenswandel ihr gemäſs sei, um ihn als Beispiel derselben zu beglaubigen. Derjenige nun, welcher sich einer solchen morali- 46 *

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 723. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/742>, abgerufen am 22.11.2024.