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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 145.
moralischen, nicht zu jenem historischen Glauben sei der
Mensch verpflichtet 3).

Auf dieses Ideal sucht nun Kant die einzelnen Züge
der biblischen und kirchlichen Lehre von Christo umzu-
deuten. Die Menschheit oder das vernünftige Weltwesen
überhaupt in seiner ganzen sittlichen Vollkommenheit ist
es allein, was eine Welt zum Gegenstande des göttlichen
Rathschlusses und zum Zweck der Schöpfung machen
kann; diese Idee der gottwohlgefälligen Menschheit ist in
Gott von Ewigkeit her, sie geht von seinem Wesen aus,
und ist insofern kein erschaffenes Ding, sondern sein ein-
geborner Sohn, das Wort, durch welches, d. h. um des-
sen willen, Alles gemacht ist, in welchem Gott die Welt
geliebt hat. Sofern von dieser Idee der moralischen Voll-
kommenheit der Mensch nicht selbst der Urheber ist, son-
dern sie in ihm Plaz genommen hat, ohne dass man be-
griffe, wie seine Natur für sie habe empfänglich sein kön-
nen: so lässt sich sagen, dass jenes Urbild vom Himmel
zu uns herabgekommen sei, dass es die Menschheit ange-
nommen habe, und diese Vereinigung mit uns kann als
ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen
werden. Dieses Ideal der moralischen Vollkommenheit,
wie sie in einem von Bedürfnissen und Neigungen abhän-
gigen Weltwesen möglich ist, können wir uns nicht an-
ders vorstellen, als in Form eines Menschen, und zwar,
weil wir uns von der Stärke einer Kraft, und so auch
der sittlichen Gesinnung, keinen Begriff machen können,
als wenn wir sie mit Hindernissen ringend, und unter
den grössten Anfechtungen dennoch überwindend uns vor-
stellen, eines solchen Menschen, der nicht allein alle Men-
schenpflicht selbst auszuüben, und durch Lehre und Bei-
spiel das Gute in grösstmöglichem Umfang um sich her

3) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, drittes
Stück, 1te Abthl. VII.

Schluſsabhandlung. §. 145.
moralischen, nicht zu jenem historischen Glauben sei der
Mensch verpflichtet 3).

Auf dieses Ideal sucht nun Kant die einzelnen Züge
der biblischen und kirchlichen Lehre von Christo umzu-
deuten. Die Menschheit oder das vernünftige Weltwesen
überhaupt in seiner ganzen sittlichen Vollkommenheit ist
es allein, was eine Welt zum Gegenstande des göttlichen
Rathschlusses und zum Zweck der Schöpfung machen
kann; diese Idee der gottwohlgefälligen Menschheit ist in
Gott von Ewigkeit her, sie geht von seinem Wesen aus,
und ist insofern kein erschaffenes Ding, sondern sein ein-
geborner Sohn, das Wort, durch welches, d. h. um des-
sen willen, Alles gemacht ist, in welchem Gott die Welt
geliebt hat. Sofern von dieser Idee der moralischen Voll-
kommenheit der Mensch nicht selbst der Urheber ist, son-
dern sie in ihm Plaz genommen hat, ohne daſs man be-
griffe, wie seine Natur für sie habe empfänglich sein kön-
nen: so läſst sich sagen, daſs jenes Urbild vom Himmel
zu uns herabgekommen sei, daſs es die Menschheit ange-
nommen habe, und diese Vereinigung mit uns kann als
ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen
werden. Dieses Ideal der moralischen Vollkommenheit,
wie sie in einem von Bedürfnissen und Neigungen abhän-
gigen Weltwesen möglich ist, können wir uns nicht an-
ders vorstellen, als in Form eines Menschen, und zwar,
weil wir uns von der Stärke einer Kraft, und so auch
der sittlichen Gesinnung, keinen Begriff machen können,
als wenn wir sie mit Hindernissen ringend, und unter
den gröſsten Anfechtungen dennoch überwindend uns vor-
stellen, eines solchen Menschen, der nicht allein alle Men-
schenpflicht selbst auszuüben, und durch Lehre und Bei-
spiel das Gute in gröſstmöglichem Umfang um sich her

3) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, drittes
Stück, 1te Abthl. VII.
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[722/0741] Schluſsabhandlung. §. 145. moralischen, nicht zu jenem historischen Glauben sei der Mensch verpflichtet 3). Auf dieses Ideal sucht nun Kant die einzelnen Züge der biblischen und kirchlichen Lehre von Christo umzu- deuten. Die Menschheit oder das vernünftige Weltwesen überhaupt in seiner ganzen sittlichen Vollkommenheit ist es allein, was eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Rathschlusses und zum Zweck der Schöpfung machen kann; diese Idee der gottwohlgefälligen Menschheit ist in Gott von Ewigkeit her, sie geht von seinem Wesen aus, und ist insofern kein erschaffenes Ding, sondern sein ein- geborner Sohn, das Wort, durch welches, d. h. um des- sen willen, Alles gemacht ist, in welchem Gott die Welt geliebt hat. Sofern von dieser Idee der moralischen Voll- kommenheit der Mensch nicht selbst der Urheber ist, son- dern sie in ihm Plaz genommen hat, ohne daſs man be- griffe, wie seine Natur für sie habe empfänglich sein kön- nen: so läſst sich sagen, daſs jenes Urbild vom Himmel zu uns herabgekommen sei, daſs es die Menschheit ange- nommen habe, und diese Vereinigung mit uns kann als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen werden. Dieses Ideal der moralischen Vollkommenheit, wie sie in einem von Bedürfnissen und Neigungen abhän- gigen Weltwesen möglich ist, können wir uns nicht an- ders vorstellen, als in Form eines Menschen, und zwar, weil wir uns von der Stärke einer Kraft, und so auch der sittlichen Gesinnung, keinen Begriff machen können, als wenn wir sie mit Hindernissen ringend, und unter den gröſsten Anfechtungen dennoch überwindend uns vor- stellen, eines solchen Menschen, der nicht allein alle Men- schenpflicht selbst auszuüben, und durch Lehre und Bei- spiel das Gute in gröſstmöglichem Umfang um sich her 3) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, drittes Stück, 1te Abthl. VII.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 722. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/741>, abgerufen am 22.11.2024.