schichtlich kann Jesus nichts Anderes gewesen sein, als eine zwar sehr ausgezeichnete, aber darum doch der Be- schränktheit alles Endlichen unterworfene Persönlichkeit: vermöge dieser ausgezeichneten Persönlichkeit aber regte er das religiöse Gefühl so mächtig an, dass dieses in ihm ein Ideal der Frömmigkeit anerkannte; wie denn über- haupt eine historische Thatsache oder Person nur dadurch Grundlage einer positiven Religion werden kann, dass sie in die Sphäre des Idealen erhoben wird 1).
Schon Spinoza hatte diese Unterscheidung gemacht in der Behauptung, den historischen Christus zu kennen, sei zur Seligkeit nicht nothwendig, wohl aber den idealen die ewige Weisheit Gottes nämlich, welche sich in allen Dingen, im Besondern im menschlichen Gemüth, und al- lerdings in ausgezeichnetem Grad in Jesu Christo geoffen- bart habe, und welche allein den Menschen belehre, was wahr und falsch, gut und böse sei 2).
Auch nach Kant darf es nicht zur Bedingung der Seligkeit gemacht werden, dass man glaube, es habe ein- mal einen Menschen gegeben, der durch seine Heiligkeit und sein Verdienst sowohl für sich als auch für alle an- dern genuggethan habe; denn davon sage uns die Ver- nunft nichts; wohl aber sei es allgemeine Menschenpflicht, zu dem Ideal der moralischen Vollkommenheit, welches in der Vernunft liege, sich zu erheben, und durch dessen Vorhaltung sich sittlich kräftigen zu lassen: nur zu diesem
1) So Schmid, a. a. O. S. 267.
2) Ep. 21. ad Oldenburg. Opp. ed. Gfrörer, p. 556: -- dico, ad salutem non esse omnino necesse, Christum secundum carnem noscere; sed de aeterno illo filio Dei, h. e. Dei ae- terna sapientia, quae sese in omnibus rebus, et maxime in mente humana, et omnium maxime in Christo Jesu manife- stavit, longe aliter sentiendum. Nam nemo absque hac ad statum beatitudinis potest pervenire, utpote quae sola docet, quid verum et falsum, bonum et malum sit.
Das Leben Jesu II. Band. 46
Schluſsabhandlung. §. 145.
schichtlich kann Jesus nichts Anderes gewesen sein, als eine zwar sehr ausgezeichnete, aber darum doch der Be- schränktheit alles Endlichen unterworfene Persönlichkeit: vermöge dieser ausgezeichneten Persönlichkeit aber regte er das religiöse Gefühl so mächtig an, daſs dieses in ihm ein Ideal der Frömmigkeit anerkannte; wie denn über- haupt eine historische Thatsache oder Person nur dadurch Grundlage einer positiven Religion werden kann, daſs sie in die Sphäre des Idealen erhoben wird 1).
Schon Spinoza hatte diese Unterscheidung gemacht in der Behauptung, den historischen Christus zu kennen, sei zur Seligkeit nicht nothwendig, wohl aber den idealen die ewige Weisheit Gottes nämlich, welche sich in allen Dingen, im Besondern im menschlichen Gemüth, und al- lerdings in ausgezeichnetem Grad in Jesu Christo geoffen- bart habe, und welche allein den Menschen belehre, was wahr und falsch, gut und böse sei 2).
Auch nach Kant darf es nicht zur Bedingung der Seligkeit gemacht werden, daſs man glaube, es habe ein- mal einen Menschen gegeben, der durch seine Heiligkeit und sein Verdienst sowohl für sich als auch für alle an- dern genuggethan habe; denn davon sage uns die Ver- nunft nichts; wohl aber sei es allgemeine Menschenpflicht, zu dem Ideal der moralischen Vollkommenheit, welches in der Vernunft liege, sich zu erheben, und durch dessen Vorhaltung sich sittlich kräftigen zu lassen: nur zu diesem
1) So Schmid, a. a. O. S. 267.
2) Ep. 21. ad Oldenburg. Opp. ed. Gfrörer, p. 556: — dico, ad salutem non esse omnino necesse, Christum secundum carnem noscere; sed de aeterno illo filio Dei, h. e. Dei ae- terna sapientia, quae sese in omnibus rebus, et maxime in mente humana, et omnium maxime in Christo Jesu manife- stavit, longe aliter sentiendum. Nam nemo absque hac ad statum beatitudinis potest pervenire, utpote quae sola docet, quid verum et falsum, bonum et malum sit.
Das Leben Jesu II. Band. 46
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Schluſsabhandlung. §. 145.
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Auch nach Kant darf es nicht zur Bedingung der
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und sein Verdienst sowohl für sich als auch für alle an-
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nunft nichts; wohl aber sei es allgemeine Menschenpflicht,
zu dem Ideal der moralischen Vollkommenheit, welches in
der Vernunft liege, sich zu erheben, und durch dessen
Vorhaltung sich sittlich kräftigen zu lassen: nur zu diesem
1) So Schmid, a. a. O. S. 267.
2) Ep. 21. ad Oldenburg. Opp. ed. Gfrörer, p. 556: — dico,
ad salutem non esse omnino necesse, Christum secundum
carnem noscere; sed de aeterno illo filio Dei, h. e. Dei ae-
terna sapientia, quae sese in omnibus rebus, et maxime in
mente humana, et omnium maxime in Christo Jesu manife-
stavit, longe aliter sentiendum. Nam nemo absque hac ad
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/740>, abgerufen am 22.11.2024.
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