sondern nur eine um so vollständigere Darlegung seines inneren Wesens. Allein, wie Schmid gründlich nachgewie- sen hat, ein geschichtliches Individuum ist eben nur das, was von ihm erscheint, sein inneres Wesen wird in seinen Reden und Handlungen erkannt, zu seiner Eigenthümlich- keit gehört die Bedingtheit durch Zeit- und Volksverhält- nisse mit, und was hinter dieser Erscheinung als An sich zurückliegt, ist nicht das Wesen dieses Individuums, son- dern die allgemeine menschliche Natur überhaupt, welche in den Einzelnen durch Individualität, Zeit und Umstände beschränkt, zur Wirklichkeit kommt. Über die geschicht- liche Erscheinung Christi hinausgehen, heisst also nicht zum Wesen Christi sich erheben, sondern zur Idee der Menschheit überhaupt, und wenn es Christus noch sein soll, dessen Wesen sich darstellt, wenn mit Wegwer- fung des Temporellen und Nationalen das Wesentliche aus seiner Lehre und seinem Leben fortgebildet wird: so könnte es nicht schwer fallen, durch ähnliche Abstraktion auch einen Sokrates als denjenigen darzustellen, über wel- chen in dieser Weise nicht hinausgegangen werden könne.
Wie aber weder überhaupt ein Individuum, noch ins- besondre ein geschichtlicher Anfangspunkt zugleich vorbild- lich sein kann: so will auch, Christum bestimmt als Men- schen gefasst, die urbildliche Entwicklung und Beschaf- fenheit, welche ihm Schleiermacher zuschreibt, mit den Gesetzen des menschlichen Daseins sich nicht vertragen. Die Unsündlichkeit, als Unmöglichkeit des Sündigens ge- fasst, wie sie in Christo gewesen sein soll, ist eine mit der menschlichen Natur ganz unvereinbare Eigenschaft, da dem Menschen vermöge seiner von sinnlichen wie ver- nünftigen Antrieben bewegten Freiheit die Möglichkeit des Sündigens wesentlich ist. Und wenn Christus sogar von allem innern Kampf, von jeder Schwankung des geistigen Lebens zwischen Gut und Böse, frei gewesen sein soll: so könnte er vollends kein Mensch wie wir gewesen sein,
Schluſsabhandlung. §. 144.
sondern nur eine um so vollständigere Darlegung seines inneren Wesens. Allein, wie Schmid gründlich nachgewie- sen hat, ein geschichtliches Individuum ist eben nur das, was von ihm erscheint, sein inneres Wesen wird in seinen Reden und Handlungen erkannt, zu seiner Eigenthümlich- keit gehört die Bedingtheit durch Zeit- und Volksverhält- nisse mit, und was hinter dieser Erscheinung als An sich zurückliegt, ist nicht das Wesen dieses Individuums, son- dern die allgemeine menschliche Natur überhaupt, welche in den Einzelnen durch Individualität, Zeit und Umstände beschränkt, zur Wirklichkeit kommt. Über die geschicht- liche Erscheinung Christi hinausgehen, heiſst also nicht zum Wesen Christi sich erheben, sondern zur Idee der Menschheit überhaupt, und wenn es Christus noch sein soll, dessen Wesen sich darstellt, wenn mit Wegwer- fung des Temporellen und Nationalen das Wesentliche aus seiner Lehre und seinem Leben fortgebildet wird: so könnte es nicht schwer fallen, durch ähnliche Abstraktion auch einen Sokrates als denjenigen darzustellen, über wel- chen in dieser Weise nicht hinausgegangen werden könne.
Wie aber weder überhaupt ein Individuum, noch ins- besondre ein geschichtlicher Anfangspunkt zugleich vorbild- lich sein kann: so will auch, Christum bestimmt als Men- schen gefaſst, die urbildliche Entwicklung und Beschaf- fenheit, welche ihm Schleiermacher zuschreibt, mit den Gesetzen des menschlichen Daseins sich nicht vertragen. Die Unsündlichkeit, als Unmöglichkeit des Sündigens ge- faſst, wie sie in Christo gewesen sein soll, ist eine mit der menschlichen Natur ganz unvereinbare Eigenschaft, da dem Menschen vermöge seiner von sinnlichen wie ver- nünftigen Antrieben bewegten Freiheit die Möglichkeit des Sündigens wesentlich ist. Und wenn Christus sogar von allem innern Kampf, von jeder Schwankung des geistigen Lebens zwischen Gut und Böse, frei gewesen sein soll: so könnte er vollends kein Mensch wie wir gewesen sein,
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Schluſsabhandlung. §. 144.
sondern nur eine um so vollständigere Darlegung seines
inneren Wesens. Allein, wie Schmid gründlich nachgewie-
sen hat, ein geschichtliches Individuum ist eben nur das,
was von ihm erscheint, sein inneres Wesen wird in seinen
Reden und Handlungen erkannt, zu seiner Eigenthümlich-
keit gehört die Bedingtheit durch Zeit- und Volksverhält-
nisse mit, und was hinter dieser Erscheinung als An sich
zurückliegt, ist nicht das Wesen dieses Individuums, son-
dern die allgemeine menschliche Natur überhaupt, welche
in den Einzelnen durch Individualität, Zeit und Umstände
beschränkt, zur Wirklichkeit kommt. Über die geschicht-
liche Erscheinung Christi hinausgehen, heiſst also nicht
zum Wesen Christi sich erheben, sondern zur Idee der
Menschheit überhaupt, und wenn es Christus noch sein
soll, dessen Wesen sich darstellt, wenn mit Wegwer-
fung des Temporellen und Nationalen das Wesentliche
aus seiner Lehre und seinem Leben fortgebildet wird: so
könnte es nicht schwer fallen, durch ähnliche Abstraktion
auch einen Sokrates als denjenigen darzustellen, über wel-
chen in dieser Weise nicht hinausgegangen werden könne.
Wie aber weder überhaupt ein Individuum, noch ins-
besondre ein geschichtlicher Anfangspunkt zugleich vorbild-
lich sein kann: so will auch, Christum bestimmt als Men-
schen gefaſst, die urbildliche Entwicklung und Beschaf-
fenheit, welche ihm Schleiermacher zuschreibt, mit den
Gesetzen des menschlichen Daseins sich nicht vertragen.
Die Unsündlichkeit, als Unmöglichkeit des Sündigens ge-
faſst, wie sie in Christo gewesen sein soll, ist eine mit
der menschlichen Natur ganz unvereinbare Eigenschaft,
da dem Menschen vermöge seiner von sinnlichen wie ver-
nünftigen Antrieben bewegten Freiheit die Möglichkeit des
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 717. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/736>, abgerufen am 22.11.2024.
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